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Eine Demo für die Rechte von Transpersonen. Bildrechte: IMAGO/ZUMA Wire

Sexuelle IdentitätTransgender: Welche Rolle Pubertätsblocker und Hormontherapien für die sexuelle Identität spielen

30. März 2023, 09:56 Uhr

Pubertätsblocker und Hormontherapien sind ein Mittel, um den Leidensdruck von Transpersonen zu lindern, unter dem sie täglich stehen, weil ihr biologisches Geschlecht nicht mit dem empfundenen Geschlecht übereinstimmt. Doch in der Wissenschaft ist längst noch nicht alles geklärt und es gibt eine Reihe von Unsicherheiten in Bezug auf Diagnostik, Nebenwirkungen und eventuelle Langzeitfolgen. Die Verantwortung der behandelnden Ärztinnen und Ärzte ist groß, die Entscheidung keine leichte.

Wer eine ausgewachsene Diskussion provozieren möchte, braucht derzeit nur das Wort "Pubertätsblocker" in den Raum zu werfen und muss nicht lange darauf warten, dass hitzig Argumente ausgetauscht werden. Zuletzt sorgte eine solche Debatte in den sozialen Medien für Trubel, weil Ex-Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner twitterte "Das ist doch irre (...) Bundesregierung empfiehlt sehr jungen, unsicheren Menschen Pubertätsblocker."

Klöckner bezog sich dabei auf einen Artikel im "Regenbogenportal", einer Internetseite des Bundesfamilienministeriums, auf der sich Menschen aus der LSBTIQ-Community zum Thema geschlechtliche Vielfalt informieren können. Von einer Empfehlung der Pubertätsblocker durch die Bundesregierung kann dabei aber nicht gesprochen werden. Mittlerweile wurde der Wortlaut des Artikels auch verändert.

Was sind Pubertätsblocker überhaupt?

Pubertätsblocker sind hormonähnliche Substanzen, die die Hirnanhangsdrüse davon abhalten, bestimmte Botenstoffe, die sogenannten Gonadotropine, auszusenden. Diese Gonadotropine veranlassen die Hoden oder Eierstöcke dazu, Sexualhormone zu produzieren. Es gibt verschiedene Anlässe zum Einsatz solcher Pubertätsblocker. Zum einen können Kinder mit vorzeitiger Pubertät (Pubertas praecox), also Kinder, bei denen die Pubertät schon vor dem 8. Lebensjahr einsetzt, diese Medikamente einnehmen und die natürliche Pubertät herauszögern.

Auch bei Transjugendlichen können diese Pubertätsblocker zum Einsatz kommen. Vor der Pubertät verabreicht, sollen sie verhindern, dass die Patientinnen und Patienten die Pubertät in einem Geschlecht durchmachen, mit dem sie sich nicht identifizieren. Diese Pubertät kann nämlich für die Transjugendlichen zu einem sehr großen Leidensdruck führen. Der Einsatz der Pubertätsblocker verschafft ihnen außerdem auch etwas Zeit, falls sie sich noch nicht sicher sind, zu welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen. Hat die Pubertät bereits eingesetzt, können durch die Blocker eintretende Veränderungen gelindert werden, etwa das Brustwachstum.

Werden die Medikamente wieder abgesetzt, setzt auch die Pubertät ein. Diese Behandlung gilt also gemeinhin als reversibel, doch die Fachwelt streitet heftig über den Einsatz von Pubertätsblockern und Hormontherapien. Und auch ab wann solche medikamentösen Therapien eingesetzt werden können wird kontrivers diskutiert. Eine einheitliche Altersgrenze gibt es nicht. Die Entscheidung für die beginnende Einnahme von Pubertätsblockern und Hormontherapien wird in enger Abstimmung mit den behandelnden Ärzten und Ärztinnen individiuell für jeden Patienten und jede Patientin getroffen.

(Dieser Absatz über den möglichen Beginn einer medikamentösen Therapie wurde von der Redaktion überarbeitet. Stand: 30.03.2023)

Ein schwerwiegender Eingriff in den Körper und Geist?

Der Einsatz von Pubertätsblockern ist umstritten und das genaue Ausmaß eventueller Nebenwirkungen noch nicht klar. Genau diese Unsicherheit verlangt laut Dr. Mirko Döhnert größte Sorgfalt bei der Behandlung der Betroffenen. Döhnert ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie am Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara Halle (Saale). Aber was hat ein Psychiater mit der ganzen Sache zu tun?

Er ist ausschlaggebend dafür, dass Transjugendliche überhaupt mit einer Pubertätssuppression oder einer Hormontherapie beginnen dürfen. Zentrales Element dabei ist die Diagnose einer sogenannten Geschlechtsdysphorie. Das ist ein Unbehagen oder Leiden, das aus der Diskrepanz zwischen der Geschlechtsidentität und dem per Geburt zugewiesenen Geschlecht resultiert. Und dieses Leid muss mindestens sechs Monate lang bestehen und auch von zwei unabhängigen Gutachtern bestätigt werden.

Es braucht alles seine Zeit

Im Optimalfall, und dieser wäre auch Leitlinien konform, würde das Kind oder der/die Jugendliche über ein halbes Jahr psychotherapeutisch begleitet werden, damit man ein genaues Gefühl für die Geschichte und das eventuelle Leid seines Gegenübers bekommt, erklärt Dr. Döhnert: "Sie müssen sich Zeit nehmen! Das kann man nicht mit zwei Konsultationen erledigen. Leider passiert das aber hier in Deutschland an vielen Zentren. Es gibt Zentren, die machen das sehr locker aus der Hüfte geschossen und verteilen die Hormontherapie und es gibt andere Zentren, die sehr genau hingucken."

Dieses genaue Hinschauen ist auch nötig, denn die Effekte auf Hirnreifungsprozesse und andere körperliche Folgen sind noch nicht ausreichend untersucht. Auch ist noch unklar, ob der Einsatz der Pubertätsblocker die Prozesse der psychosexuellen Entwicklung beeinträchtigen kann. Zudem wird das Sammeln altersgerechter sexueller Erfahrungen durch die Blockade verhindert.

Sie müssen sich Zeit nehmen! Das kann man nicht mit zwei Konsultationen erledigen.

Dr. Mirko Döhnert, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie am Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara Halle (Saale)

All das muss laut Döhnert zwingend mit den Kindern und Jugendlichen und deren Eltern besprochen werden. Sie müssen sich über diese bestehenden Unsicherheiten bewusst sein. Erst dann sollte man darüber sprechen, ob Pubertätsblocker überhaupt in Frage kommen.

Eine Hinleitung zur Hormontherapie?

Der Effekt der Pubertätsblocker, also das Ausbremsen der Pubertät, gilt als reversibel. Das heißt, wird der Blocker abgesetzt, setzt auch die Pubertät ein. Das kommt aber offenbar selten vor. "Von der Pubertätssuppression geht es ziemlich geradlinig in die irreversible geschlechtsangleichende Hormontherapie über", sagt Dr. Döhnert.

Das bestätigt auch eine neue niederländische Studie, die in The Lancet Child & Adolescent Health erschien. Die Forschenden stellten fest, dass 98 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Diagnose Geschlechtsdysphorie, die eine pubertätsunterdrückende Therapie erhielten, anschließend den Weg in die geschlechtsangleichende Hormontherapie gingen.

Laut Döhnert gibt es auch hier eine große Unsicherheit. "Noch weiß niemand, ob wir als Ärzte diesen Weg in die Hormontherapie durch die Gabe der Pubertätsblocker bahnen", erklärt der Kinder- und Jugendpsychiater.

Doch es gibt auch Punkte, die ganz klar für den Einsatz von Pubertätsblockern sprechen und dazu gehört die Linderung des Leids, dass die Jugendlichen erfahren, wenn sie die Pubertät eines Körpers erleben, der nicht zu ihrer Identität passt. Dieses Leid ist auch der Grund, warum Transpersonen die Risiken einer Hormonbehandlung in Kauf nehmen, obwohl sie wissen, was auf sie zukommen könnte.

Risiken eingehen, um so zu leben, wie es sich richtig anfühlt

M., 16 Jahre alt, aus dem Vogtland, ist eine dieser Transpersonen, die sich trotz der Risiken für eine Hormontherapie entschieden hat. Mit 12 begann M. sich vorzustellen, wie das Zusammensein mit Mädchen wäre. In seiner Vorstellung nahm er dabei aber die Rolle des Mannes ein. Einordnen konnte er das damals für sich noch nicht. Doch das Thema beschäftigte ihn lange Zeit weiter.

Ich habe später mit einer Betreuerin aus dem Jugendzentrum darüber gesprochen. Sie hat mir gesagt, dass ich mich gar nicht wie ein Außerirdischer fühlen muss und dass es alles völlig richtig so ist.

M., 16 Jahre alt, Transmann aus dem Vogtland

Ein paar Wochen nach dem Gespräch hat sich M. per Brief gegenüber seiner Mutter geoutet und diese reagierte auf sehr positive Weise.

Sie sagte, dass sie am Anfang ihrer Schwangerschaft auch nicht wusste, ob ich ein Junge oder ein Mädchen werde und sie mich trotzdem geliebt hat. Daran würde sich jetzt auch nichts ändern.

M., 16 Jahre alt, Transmann aus dem Vogtland

Keine Phase, keine leichtfertige Entscheidung

Auch sein Weg führte zu einer Kinder- und Jugendpsychologin, mit der er lange im Gespräch war, bevor geschlechtsangleichende Hormone ernsthaft in Betracht kamen. Nicht zuletzt, weil M. selbst geringe Zweifel hatte und sich wirklich sicher sein wollte, dass er diesen Schritt gehen möchte. Diese Reife, für sich selbst eine solche Entscheidung treffen zu können, wird den Transjugendlichen immer wieder von verschiedenen Seiten abgesprochen. Dr. Döhnert sieht da Unterschiede. "Dass eine 12-Jährige eine so weitreichende Entscheidung selbst trifft, halte ich für problematisch, aber da geht es ja zum Glück nur um pubertätssuppressive Maßnahmen."

Hormontherapien sind laut Richtlinien erst ab 16 Jahren möglich. In diesem Alter sind sie in der Regel in der Lage, das für sich einzuschätzen.

Dr. Mirko Döhnert, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie am Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara Halle (Saale)

Und auch Nicole Fischer vom Transgender-Netzwerk am Universitätsklinikum Leipzig hält die meisten ihrer Patientinnen und Patienten für reif und reflektiert genug, eine solche Entscheidung zu treffen. Hinzukommt der oft erhebliche Leidensweg, den sie durchmachen, wenn sie Tag für Tag mit ihrem vermeintlich falschen Körper konfrontiert sind. Das fängt an beim täglichen Blick in den Spiegel, der Brüste zeigt, die gefühlt nicht da sein sollten, bis hin zur monatlichen Regelblutung, wenn die Jugendlichen keine Pubertätsblocker erhalten haben.

Leid lindern

Dieses tägliche daran erinnert werden, dass der Körper nicht mit der Identität übereinstimmt, verursacht einen großen Teil des Leidens der Transpersonen. "Die Erlösung kommt dann tatsächlich meist mit der Hormonbehandlung", sagt Nicole Fischer. "Ich habe mitunter Patienten, die die erste Testosteronspritze bekommen und sagen, dass es eine Befreiung ist. Bereut hat es bei mir bisher kein einziger Patient."

Die Erlösung kommt dann tatsächlich meist mit der Hormonbehandlung.

Nicole Fischer, Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche aus Bad Elster, Mitglied des Transgender-Netzwerks am UKL

M. ist froh, mit dem Testosteron begonnen zu haben. Alle vier Wochen bekommt er die Spritze verabreicht. Die ersten Veränderungen konnte er bei der Körperbehaarung bemerken. Aber auch sein Schweißgeruch hat sich verändert, die Stimme wurde tiefer und auch emotional konnte er Veränderungen feststellen.

Früher war ich sehr ängstlich und emotional instabil. Durch die Hormone bin ich gefestigter, ruhiger und gelassener. Mit Stresssituationen kann ich jetzt viel besser umgehen. Und ich komme viel mehr aus mir heraus.

M., 16 Jahre alt, Transmann aus dem Vogtland

Risiken durch Hormontherapie

Auch wenn M. bisher hoch keine negativen Auswirkungen durch die Hormontherapie feststellen konnte, gibt es trotzdem Risikofaktoren, die auch im Vorfeld bedacht werden sollten. 2019 erschien eine große Studie, die die Effekte der Hormontherapie auf das Herzinfarkt-, Schlaganfall- und Thromboserisiko untersuchte. Grob zusammengefasst, deuteten die Ergebnisse laut Dr. Haiko Schlögl vom Universitätsklinikum Leipzig darauf hin, dass sich die Risiken für diese drei Erkrankungen dem "hormonellen Geschlecht" anpassen. Schlögl: "Das heißt, biologische Frauen, die eine geschlechtsangleichende Hormontherapie mit Testosteron machen, erhöhen dadurch ihr Herzinfarktrisiko von dem niedrigeren weiblichen Risiko auf das höhere männliche Risiko. Genauso erhöhen Transfrauen durch die Östrogen- und Testosteron-Blocker Therapie ihr Thromboserisiko."

Darüber hinaus gibt es noch weitere Risiken, die zwingend mit einem Arzt oder einer Ärztin besprochen werden müssen.

Biologische Frauen, die eine geschlechtsangleichende Hormontherapie mit Testosteron machen, erhöhen dadurch ihr Herzinfarktrisiko.

Dr. Haiko Schlögl, Endokrinologe am Universitätsklinikum Leipzig und Mitglied des Transgender-Netzwerks

Engmaschige Kontrollen und lange Wartezeiten

Die Gabe von Pubertätsblockern und auch Hormontherapien wird bei Transjugendlichen engmaschig von Kinder- und Jugendendokrinologinnen/endokrinologen begleitet. Alle drei Monate werden die Blutwerte von M. kontrolliert. Irgendwann möchte er seine Brüste operativ entfernen lassen, aber das hat noch Zeit. Zumal operative Eingriffe in der Regel erst ab 18 Jahren stattfinden sollten. Die nächste Hürde, die M. nehmen will, ist die Namens- und Geschlechtsänderung auf seinem Ausweis. Auch das ist ein langwieriger und bürokratischer Prozess. Den Vorwurf, dass viele Transpersonen, ihren Entschluss übereilen, kann M. nicht wirklich nachvollziehen. Allein schon durch die langen Wartezeiten ist das für ihn ausgeschlossen.

Fest steht aber auch, dass Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen, Psychiaterinnen und Psychiater eine enorme Verantwortung haben. Und das vor allem, wenn man bedenkt, dass es zum einen für Kinder und Jugendliche noch immer keine einheitlichen Leitlinien für die Diagnostik gibt und es zum anderen noch so viele unbeantwortete Fragen zu eventuellen Nebenwirkungen und Langzeitfolgen. Deshalb müssen die Verantwortlichen und auch die Patientinnen und Patienten immer abwägen, was im Vordergrund steht: die möglichen Risiken durch die Hormontherapien oder das eventuell große Leid, das ohne sie anhält oder verstärkt wird.

Ansprechpartner und Beratungsstellen

Quellen und Studien

The Lancet: Continuation of gender-affirming hormones in transgender people starting puberty suppression in adolescence: a cohort study in the Netherlands

Circulation: Occurrence of Acute Cardiovascular Events in Transgender Individuals Receiving Hormone Therapy

M. Döhnert; A. Richter-Unruh; E. Herrmann: Geschlechtsdysphorie - Ein Überblick über die aktuelle Studienlage und die kontroverse Diskussion zur Hormontherapie im Kindes- und Jugendalter

JeS

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