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Versteinerte Ammoniten, eine Teilgruppe der Kopffüßer. Bildrechte: IMAGO / blickwinkel

PaläontologieWas Fossilien mit unserer kolonialen Vergangenheit zu tun haben

20. März 2024, 16:19 Uhr

Der Elfenbeinturm des globalen Nordens ist wesentlich höher als der des globalen Südens. Und je höher der Turm, desto weiter kommt man, wenn man von ihm mit einem Fallschirm springt. Was sich anhört wie die neue Trendsportart, ist eigentlich das Ergebnis einer Studie aus Erlangen, die zeigt: 97 Prozent aller Daten über Fossilien kommen aus Ländern mit hohem oder mittlerem Einkommen, aus Europa und Nordamerika. Ein großes Problem, nicht nur wissenschaftlich.

Als die Kopffüßer ausstarben, gab es noch keine Ländergrenzen. Es gab noch nicht einmal die Kontinente, auf denen Millionen Jahre später die Menschen den Kolonialismus erfinden sollten. Somit war es für die Kopffüßer egal, wo sie starben. Doch wenn man die Herkunft der Forschenden betrachtet, die die Fossilien fanden, dann kann man den Eindruck gewinnen: Kopffüßer versteinerten vorzugsweise in Europa und den USA.

Stichprobenverzerrung im Fossilienbestand

In der Paläontologie, der Wissenschaft von Lebewesen und Lebenswelten der Vorzeit, gibt es für diesen Effekt einen Begriff: den Sampling Bias. Er beschreibt eine Stichprobenverzerrung im Fossilienbestand, der große Auswirkungen auf die Rückschlüsse hat, die man aus dieser Stichprobe zieht. Man kam schon vor zwei Jahrhunderten in Europa auf die Idee, dass es sinnvoll sein kann, nicht nur europäische versteinerte Weichtiere zu untersuchen, sondern auf der ganzen Welt. Also reiste man in die damaligen Kolonien, um Fossilien zu suchen, zu finden und Ruhm und Geld für sie zu ernten. Eine Studie der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg in nature ecology & evolution zeigt nun: Daran hat sich in den letzten 200 Jahren nicht viel geändert.

Fallschirmsprung zurück in die Kolonialzeit

"Fallschirm-Wissenschaften" nennen es die Forschenden. Man springt von den hohen Türmen der Wissenschaft der wohlhabenden, westlichen Ländern los, und landet in ausgebeuteten Regionen dieser Welt und schaut, was man so findet. Teilen tut man dabei nicht. Die Studie zeigt, dass 97 Prozent aller Daten über Fossilien der letzten 30 Jahre von Forschenden aus Ländern mit hohem oder mittlerem Einkommen stammen. Und wer die Daten hat, hat die Macht. Ein Machtungleichgewicht also.

"Infolgedessen werden einige Länder oder Regionen tendenziell besser beprobt als andere, was letztlich zu einer heterogenen räumlichen Beprobung auf dem gesamten Globus führt", sagen die Forschenden um Nussaïbah Raja von der Universität Erlangen.

Einziger Weg ist Entkolonialisierung

Um dieses wissenschaftliche, aber auch ethische Problem zu lösen, ist der erste Schritt, dieses Machtungleichgewicht anzuerkennen. Wissenschaftliche Kolonialismus herrscht nicht nur in der Paläontologie, sondern in der gesamten Wissensproduktion. Die globalen Machtverhältnisse sind noch immer extrem ungleich verteilt und stammen aus einer Zeit, in der nur Europäer als Menschen galten.

Ganz praktisch schlagen die Forschenden der Studie vor, gerechtere, ethischere und nachhaltigere Kooperationen zu etablieren. Wo heute noch die Finanzierung der Untersuchungen darüber entscheidet, wer Erstautor oder Erstautorin wird, sollte künftig darauf geachtet werden, einheimische Forschende stärker einzubinden. Auch der Zugang zu Forschungsdaten muss so geregelt werden, dass Forschende aus ärmeren Regionen der Welt Zugang zu ihnen haben. Nur so kann Forschung gerechter werden – und damit auch besser.

nvc

Link zur Studie

Die Studie: Nussaïbah B. Raja et al. "Colonial history and global economics distort our understanding of deep-time biodiversity". Erschienen in "nature ecology & evolution". Hier können Sie sie nachlesen.

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