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Politik und GesellschaftGesellschaftliche Polarisierung: "Politische Bildung ist keine Feuerwehr"

09. April 2021, 15:09 Uhr

Was ist eigentlich Demokratie?  Viele Menschen verstehen darunter verschiedenste Konzepte. Die TU Dresden und das sächsische Ministerium für Europa und Gleichstellung wollen jetzt die politische Bildung für Jugendliche und Erwachsene verbessern. Dafür haben sie die neue John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie (JoDDiD) in Dresden gegründet. Warum das nötig ist, darüber hat MDR WISSEN mit Direktorin Anja Besand gesprochen.

Politische Bildung wird heftig diskutiert. Was heißt das überhaupt?

Politische Bildung soll Menschen unterstützen, selbstbestimmt und kritisch ihr Urteil bilden zu können. Sie soll also dabei helfen, politische Urteils-und Handlungsfähigkeit herauszubilden. Das ist ja gar nicht so einfach, wenn man in Zeiten lebt, in denen viele Desinformationskampagnen laufen.

Politische Bildung ist also nicht politisch?

In einer Demokratie geht es bei politischer Bildung darum, Unterstützung für Selbstbestimmung und eine eigene Urteilskraft zu leisten. Gerade in Sachsen und Ostdeutschland ist es manchmal ein Problem, dass viele Menschen politische Bildung mit Staatsbürgerkunde gleichsetzen und damit schlechte Erfahrungen verbinden. Doch Staatsbürgerkunde war ideologisch geprägt, mit direkten Vorgaben der politischen Interpretation. Das ist bei politischer Bildung heute anders. Wir liefern Werkzeuge und Gelegenheiten, über Grundfragen des politischen und sozialen Miteinanders nachzudenken, damit alle sich ein eigenes Urteil bilden können. Natürlich ist auch politische Bildung wertgebunden, an einen Meinungspluralismus im Sinne in der Verfassung. Auf dieser Basis ist alles möglich. Doch glauben Sie mir, politische Bildung ist kein reines Vergnügen, sondern oft sehr harte Arbeit.

Wie hoch ist die Gefahr, dass wir Desinformationen ausgesetzt sind?

Schon früher gab es Desinformationen. Doch heute gibt es eine sehr viel höhere Zahl an Medienkanälen als früher. Als ich klein war, gab es drei Programme im Fernsehen. Heute ist die Zahl der Programme um ein Vielfaches gewachsen, nicht nur im Fernsehen, auch im Radio. Dazu kommen Social Media und Printprodukte. Die zahlreichen Kanäle führen dazu, dass sich viele in Echokammern zurückziehen, in denen sie nur noch mit Informationen konfrontiert sind, die eigene Weltbilder bestätigen, und wir uns heute als Gesellschaft nur noch schwer verständigen können.

Es besteht also schon Streit über das Thema?

Wir bewegen uns in sehr unterschiedlichen medialen Umwelten. Das kann schwierig werden, wenn wir dann wieder aufeinander treffen. Schon allein die Fragen, was ist der Fall und wo liegt das Problem, sind schon hochgradig strittig. Und da hat die Diskussion über die Inhalte noch nicht einmal begonnen.

Ist die Demokratie in Gefahr? Oder warum braucht es die Forschungsstelle "JoDDiD"?

Ich gehe mal ein Stück zurück. Hier an der TU Dresden, an der Professur für Didaktik der politischen Bildung, ist es unser tägliches Brot, Lehrkräfte auszubilden. Dadurch war unsere Aufmerksamkeit sehr stark auf die Schule gerichtet. Der Bereich der außerschulischen Schul- und Erwachsenenbildung wurde in Sachsen in den vergangenen Jahren weniger gut begleitet. Ein substanzielles Problem ist die Projektfinanzierung der Schul- und Erwachsenenbildung. Aufgrund der projektgebundenen Förderung vieler Initiativen müssen sich viele Akteure hier von Projekt zu Projekt hangeln, oft erneuert sich das Personal. Das führt dazu, dass zwischendurch viel Wissen verlorengeht und das Feld immer wieder neu aufgerollt wird und genau da wollen wir helfen.

Es gibt also enorme Defizite?

Ich würde es gar nicht so negativ formulieren. Es gibt keine passende Infrastruktur. Das liegt aber nicht an den Menschen, die sich in der politischen Bildung intensiv bemühen. Wir sind mit der Forschungsstelle jetzt eine Support-Struktur für alle, die politische Jugend- und Erwachsenenbildung machen. Wir unterstützen jeweils dabei, darüber nachzudenken, wie Gruppen erreicht werden und inklusive Prozesse aussehen können. Damit füllen wir eine Lücke und sind auch Vorreiter. Sachsen ist hier ganz vorn.

Ist JodiDD auch eine Reaktion auf den Rechtsruck?

Die Forschungsstelle entstand nicht wegen der Corona-Pandemie und auch nicht vor dem Hintergrund der Pegida-Bewegung. Wir sind kein gesellschaftlicher Reparaturbetrieb. Doch die Aufmerksamkeit ist anders geworden. Ja, damals war Sachsen ein Bundesland, in dem politische Bildung erst ab der 9. Klasse unterrichtet wurde. Heute beginnt der Unterricht ab der 7. Klasse. Das JoDDiD kommt jetzt, vielleicht auch durch die Sensibilisierung.

Kann politische Bildung Radikalisierung wirklich vorbeugen – und wenn ja wie viel?

Politische Bildung ist keine Feuerwehr. Wir können nicht alles geradebiegen. Manchmal gibt es Ärger in der Gesellschaft. Manchmal ist der Ärger ja auch berechtigt. Die Demokratie ist angewiesen auf mündige Bürgerinnen und Bürger, deswegen ist politische Bildung von wichtigem Interesse. Politische Bildung sorgt nicht für Ruhe und Frieden, und dass sich hier alle heiter verstehen. Sie ist – zumindest in der Demokratie – kein sicherheitspolitisches Instrument. Sie unterstützt die Menschen, ihre Konflikte im demokratischem Rahmen auszutragen und Meinungen begründen zu können, damit wir gemeinsam ringend und  vielleicht auch heftig streitend zu guten Entscheidungen kommen können.

Politische Bildung macht also sicherer?

Das Zauberwort heißt Ambiguitätstoleranz – also die Fähigkeit, Ungewissheit auszuhalten. Das können wir jetzt seit 13 Monaten Pandemie gut beobachten. Hier müssen viele Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden, das ist Politik. Im Nachhinein lässt sich leicht über Geschehenes urteilen.

Zeigen die aktuellen Querdenker-Demonstrationen, dass die Demokratie gefährdet ist?

Ich antworte Ihnen jetzt als Didaktikerin. Wir wünschen uns, dass die Menschen nicht nur in ihren Echokammern bleiben und die Informationen suchen, die zu ihren Meinungen passen. Wir wünschen uns, dass die Menschen in der Lage sind, zu erkennen, was Antisemitismus ist. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn sich ein Gastwirt, der verzweifelt ist, dem gerade wegen Volksverhetzung gesuchten Koch Attila Hildmann anschließt, haben wir ein Problem.

Was soll sich jetzt ändern?

Wir möchten das Repertoire politischer Bildung erweitern. Damit wir nicht nur die Menschen erreichen, die sich ohnehin für Politik interessieren. Wir wollen politische Bildung für alle. Damit sie interessant wird, muss politische Bildung aber so gemacht werden, dass sie auf den Alltag und die Interessen aller Menschen reagiert, und bis das passiert, haben wir noch einiges zu tun.

 Politische Bildung im Alltag – wie soll das gelingen?

Wir wollen viel mehr über Räume nachdenken. Früher wurden Formate für Zielgruppen entwickelt. Das halten wir angesichts gesellschaftlichen Polarisierung und Echokammern für nicht ausreichend. Wichtig sind Räume, an denen verschiedene Menschen zusammenkommen, zum Beispiel Wartezimmer und Wartezonen. Wir können uns politische Bildung im Museum und im Supermarkt vorstellen.

Wie kann politische Bildung im Supermarkt aussehen?

Die Idee kam uns im ersten Lockdown. Hier ist uns aufgefallen, dass in dieser speziellen Situation der Supermarkt der einzige Ort war, den alle Menschen aufsuchen und wo sie aufeinandertreffen. Analoge Abstimmungen zu bestimmten Fragen, zum Beispiel mit Tennisbällen, wären hier bestimmt interessant. Die Menschen können so direkt ein Feedback erfahren und eine Ahnung bekommen, in welchem Spektrum an Meinungen sie sich bewegen.

Das JoDDiD bietet auf seiner Seite auch einen Shop. Warum?

Wir stellen Weiterbildungsangebote und Material zur Verfügung, dass man sich ausleihen kann. Dazu gehören zum Beispiel Abstimmungsgeräte und politische Spiele. Der Shop ist nicht kommerziell interessiert. Gleichzeitig haben wir mit unserer Abendschule digitale Audio-Vortragsformate entwickelt, die nach Bedarf abgerufen werden können. Dazu laden wir erfahrene Akteure ein, ihr Wissen weiterzugeben. Obwohl bislang nur angekündigt, haben uns zur Abendschule schon viel Nachfragen erreicht. Zudem beraten wir bei Anträgen für Förderprojekte.

Welche Inhalte sollen vermittelt werden?

Der Stellenwert des Wissens wird gerade in der Domäne Politik überschätzt – mehr Wissen hilft nicht immer, oft geht es auch um Werte. Aber natürlich gibt es Wissen, das wichtig ist. Wir nennen das Basiskonzepte des Politischen. Ein Beispiel: Was ist eigentlich Demokratie? Demokratie bedeutet, neben vielen anderen Aspekten, einerseits Freiheit. Andererseits ist sie aber auch ein Verfahren, auf das wir uns einigen, um zu Regeln zu kommen. Der Aspekt Freiheit ist besonders gut durchleuchtet, die Regelhaftigkeit allerdings noch nicht. Wichtig ist es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Welche Rolle spielt die Vergangenheit, die DDR?

In der politischen Bildung beschäftigen wir uns mit der zukunftsgerichteten Frage, wie wir leben wollen. Es geht nicht so sehr darum zurückzublicken. Aber Vorstellungen, die Menschen in den Bildungsprozess einbringen, bilden schon so etwas wie einen Ausgangspunkt. Mit diesen Konzepten müssen wir arbeiten. Die Entwicklung selbstbestimmter Urteilskraft können wir nicht im TetraPak herüberschieben. Wir müssen uns immer wieder von Staatsbürgerkunde abgrenzen. Andererseits ist es wichtig, die Menschen ernst zu nehmen und ihnen die Sicherheit zu geben, dass kein Brainwashing mit ihnen passiert.

Das Interview führte Katrin Tominski

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