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Politik und VerfassungKnapp 70 Prozent der Ostdeutschen vertrauen auf das Grundgesetz

08. Mai 2024, 13:00 Uhr

Eigentlich nur als Provisorium gedacht, feiert das Grundgesetz als deutsche Verfassung bald seinen 75. Geburtstag. In den neuen Bundesländern gilt es seit 34 Jahren. Eine neue repräsentative Studie der TU Dresden hat die Akzeptanz des Regelwerks untersucht – in Ost, West, bei Migranten, Einkommensschwachen und den verschiedenen Anhängern des politischen Spektrums.

Es gibt auch noch gute Nachrichten in diesen aufgewühlten Tagen. Die absolute Mehrheit der Deutschen vertraut auf die deutsche Verfassung. Insgesamt 81 Prozent der Deutschen sind der Meinung, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland habe sich "voll und ganz" oder "eher" bewährt. Nur eine kleine Minderheit von sechs Prozent ist vom Gegenteil überzeugt. Das ist das Ergebnis einer Studie des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) an der TU Dresden.

"Die Ergebnisse unserer Studie verdeutlichen, dass das Grundgesetz auch nach 75 Jahren eine starke Stütze unserer Demokratie bleibt, trotz deutlicher Meinungsverschiedenheiten mit Blick auf die Ränder des politischen Spektrums", sagte Professor Hans Vorländer, Leiter der Studie und MIDEM-Direktor. Allerdings gebe es Unterschiede bei der Akzeptanz, sowohl zwischen Befragten, die in Ost- und Westdeutschland sozialisiert sind, als auch bei Migranten und den verschiedenen Anhängern des politischen Spektrums.

Akzeptanz in Ost und West variiert

Das Vertrauen in das Grundgesetz variiert in den alten und neuen Bundesländern. Insgesamt 68 Prozent der im Osten sozialisierten Befragten glauben, dass sich das Grundgesetz bewährt hat. In den alten Bundesländern liegt die Akzeptanz höher. Hier gaben 87 Prozent der Befragten an, dass sich die Verfassung bewährt hat. "Man muss bedenken, dass in Ostdeutschland das Grundgesetz erst seit 34 Jahren gilt", erklärte Studienleiter Vorländer. Auch in den alten Bundesländern habe es gedauert, ehe das Grundgesetz anerkannt und akzeptiert worden ist. Zudem sei die Entwicklung im Osten durch die Transformationszeit viel unruhiger verlaufen. "Eine Akzeptanz von knapp 70 Prozent ist eine sehr akzeptable Zahl."

Bildrechte: TU Dresden

Man muss bedenken, dass in Ostdeutschland das Grundgesetz erst seit 34 Jahren gilt. Eine Akzeptanz von knapp 70 Prozent ist eine sehr akzeptable Zahl.

Hans Vorländer | Studienleiter

Das Grundgesetz – eigentlich nur ein Provisorium

Vorländer sieht in den Zustimmungswerten ein gutes Zeichen für die Demokratie. "Damit hat sich das Grundgesetz nach Auffassung der meisten Deutschen als vollwertige demokratische Verfassung bewährt und sich zu einem Symbol für Stabilität und Demokratie in Deutschland entwickelt", erklärte der Politologe. Dabei sei das Grundgesetz 1948/49 ursprünglich als vorübergehende Regelung eines deutschen Weststaates konzipiert worden, daher rühre auch die Bezeichnung "Grundgesetz" anstelle von "Verfassung".  

Der Grund: Für den Fall einer Vereinigung beider deutscher Teile hatten sich die Verfassungsväter im ursprünglichen Artikel 146 überlegt, dass das Grundgesetz an dem Tag seine Gültigkeit verlieren solle, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."

Als weitere Option für eine mögliche deutsche Einigung gab es in der damaligen Version des Textes den Artikel 23, der die Übernahme des Grundgesetzes für "andere Teile Deutschlands", beziehungsweise später hinzugekommene Länder ermöglicht – als Beitritt in den Geltungsbereich des Grundgesetzes. Die frei gewählte Volkskammer entschied sich Vorländer zufolge damals für die Wiedervereinigung nach dem sogenannten Beitrittsartikel 23.

Zum Bedauern der DDR-Bürgerrechtler: Keine verfassungsgebende Versammlung während der Wiedervereinigung

"Zum Bedauern vieler DDR-Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler sowie einzelner Gruppierungen in der westlichen Bundesrepublik kam es nicht zu einer verfassungsgebenden Versammlung, die eine neue, gesamtdeutsche Verfassung hätte erarbeiten und beschließen können", heißt es jetzt in der Studie.

Dafür hätte es verschiedene Gründe gegeben, wie die Befürchtung, das Zeitfenster für die historische Chance einer Wiedervereinigung könnte sich wieder schließen. Doch auch die Befürchtung vor einem Zusammenbruch des Wirtschaftssystems und riesigen ökonomischen Verwerfungen haben laut Transformationsforschern damals eine Rolle gespielt. "So kam es lediglich zu einigen vereinigungsbedingten Anpassungen, die aber nicht zu einer neuen, vom Volk zu verabschiedenden Konstitution führten", sagte Vorländer.  

Zum Bedauern vieler DDR-Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler sowie einzelner Gruppierungen in der westlichen Bundesrepublik kam es nicht zu einer verfassungsgebenden Versammlung, die eine neue, gesamtdeutsche Verfassung hätte erarbeiten und beschließen können.

Auszug aus der MIDEM-Studie

Aktuelle Daten: Die Akzeptanz für die Verfassung ist im Osten sogar gestiegen

Der Wunsch nach einer gemeinsamen Verfassung oder einer Totalrevision des Grundgesetzes ist laut Vorländer zwar noch immer vorhanden, müsse aber eingeordnet werden. Bundesweit sprachen sich 15 Prozent der Befragten für eine neue Verfassung aus, 68 Prozent lehnten das jedoch ab. "Dies zeigt, dass das Vertrauen der Deutschen in ihre Verfassung insgesamt groß ist. Man könnte daraus schließen, dass das Grundgesetz in den Augen der Bevölkerung auch zukunftsfähig ist", erklärte Vorländer.

Zwar wünschten sich 14 Prozent der Befragten mit Ost-Sozialisation eine neue Verfassung – fast doppelt so viele, als bei den Befragten mit West-Sozialisation (acht Prozent), allerdings sei hier die Ablehnung des Grundgesetzes deutlich gesunken. Im Jahr 2019 seien noch 34 Prozent der Meinung gewesen, dass Deutschland eine neue Verfassung brauche.

Jeder Dritte Migrant wünscht sich eine neue Verfassung

Die Akzeptanz des Grundgesetzes ist nicht nur zwischen Ost- und West-Sozialisierten verschieden ausgeprägt. Auch ein Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund wünscht sich, das Grundgesetz durch eine neue Verfassung zu ersetzen. Rund 71 Prozent erklärten dagegen, die Verfassung habe sich für sie bewährt.

Von den Menschen, die sich um eine deutsche Staatsbürgerschaft bemühen, wünschten sich 97 Prozent der Deutschen, dass sie "die Werte des Grundgesetzes achten und respektieren" (97 Prozent). Als wichtig werden auch Spracherwerb (89 Prozent) und Lebensunterhaltssicherung (84 Prozent) angesehen.

Auch ein Teil der Menschen mit niedrigem Einkommen wünscht sich eine neue Verfassung. Insgesamt 22 Prozent der einkommensschwachen Befragten, sprachen sich für eine Revision aus.

78 Prozent wollen Verfassung aktiv verteidigen

"Die Bereitschaft der Deutschen, für den Erhalt ihrer Verfassung einzutreten, ist insgesamt hoch: 78 Prozent erklären sich bereit, das Grundgesetz gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen aktiv zu verteidigen", sagte Studienleiter Vorländer. Unter Frauen, Deutschen mit Migrationshintergrund sowie Personen mit geringem Einkommen fielen diese Werte niedriger aus. Es sei allerdings nicht genau definiert worden, was "aktiv" bedeute.

Die geringste Bereitschaft zur Verteidigung des Grundgesetzes findet sich Vorländer zufolge unter Anhängern von AfD und dem Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW).

Die Bereitschaft der Deutschen, für den Erhalt ihrer Verfassung einzutreten, ist insgesamt hoch: 78 Prozent erklären sich bereit, das Grundgesetz gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen aktiv zu verteidigen.

Hans Vorländer | Politologe und Leiter der Studie

Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und -realität 

Interessant: Besonders wichtig sind den Befragten das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Staatszielbestimmung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sowie die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit.

Allerdings beobachten die Befragten teilweise eine starke Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungsrealität. Besonders schlecht umgesetzt erscheinen ihnen die "Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen", die "Möglichkeiten direktdemokratischer Beteiligung" sowie das "Verbot verfassungsfeindlicher Parteien". 

Keine Angaben, wie gut die Befragten die Verfassung kennen

Allerdings, das könnte man durchaus als Manko der MIDEM-Studie werten: Es gibt keine Angaben darüber, wie gut die Befragten die Verfassung kennen – oder eben nicht kennen. "Das wissen wir nicht", erklärte Politologe Vorländer auf Nachfrage. "Doch wir können durchaus erkennen, dass tragende Prinzipien der Verfassung wie Meinungsfreiheit, Unantastbarkeit der Menschenwürde und Versammlungsfreiheit von den Befragten genannt werden." Deswegen sei von einem Grundverständnis auszugehen.

Über die Studie

Empirische Grundlage der Studie ist eine Erhebung, die MIDEM zusammen mit dem Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH (infas) durchgeführt hat. Im Zeitraum vom 1. bis zum 29. Februar 2024 wurden 2.989 Personen ab 18 Jahren in Deutschland repräsentativ befragt. In einem Mixed-Mode-Verfahren wurde die Erhebung sowohl telefonisch (813 Teilnehmer) als auch online (2.176 Teilnehmer) durchgeführt. Die telefonische Erhebung basiert auf einer ADM-Zufallsstichprobe, bei der sowohl Festnetz- als auch Mobilfunkanschlüsse berücksichtigt wurden (Dual Frame-Ansatz). Die zufällig gezogenen Onlinebefragten stammen aus einem offline rekrutierten Panel. Eine nachträgliche Gewichtung gleicht Verteilungsunterschiede zwischen der Stichprobe und der Grundgesamtheit aus. Bei der Befragung erhielten die Befragten einen standardisierten Fragebogen, der neue ebenso wie in der Umfrageforschung etablierte Items umfasste, um Einstellungen zu Grundgesetz und Demokratie zu ermitteln. Die meisten Items wurden mit Hilfe einer Fünferskala abgefragt.

Studie im Original

(tomi)

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Sachsenspiegel | 07. Mai 2024 | 19:08 Uhr

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