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Kraniche: Coole Vögel, stehen auf cooles Moor. Hier: Diepholzer Moor. Bildrechte: imago/Zoonar

European Green DealRenaturierungsgesetz: Warum Forschende so langsam verzweifeln

11. Juli 2023, 11:35 Uhr

Das Renaturierungsgesetz gilt als eine der wichtigsten Maßnahmen im European Green Deal, mit dem unser Kontinent klimaneutral werden möchte. Dabei geht es um nichts Geringeres als den Erhalt unseres Lebensraums. Das Gesetz könnte jetzt scheitern – vor allem die starke konservative EVP-Fraktion stellt sich dagegen. Forschende sehen die Schuld in gezielten Falschinformationen und appellieren an die Vernunft aller Beteiligten.


Man darf's vielleicht nicht allzu penibel nehmen, aber zuweilen stellt sich die Frage, was genau konservative Politik eigentlich zu konservieren gedenkt. Diese Frage dürften sich zumindest in diesen Wochen Umwelt-, Klima- und Biodiversitätsforschende stellen, die verfolgt haben, wie in Brüssel die Zukunft des Kontinents verhandelt wird. Zum Selbstverständnis einer jeden Christdemokratin und eines jeden Christdemokraten dürfte gehören, das Alte und Ursprüngliche zu bewahren. Und es wiederherzustellen, falls das in der Vergangenheit nicht ganz so gut geklappt hat. Um nichts anderes geht es beim Renaturierungsgesetz.

Das Gesetzesvorhaben heißt offiziell EU Nature Restoration Law und ist Teil des European Green Deal, ein – unter der konservativen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) – geschnürtes Maßnahmenpaket, das den Kontinent bis zur Mitte des Jahrhunderts klimaneutral machen soll. Das Renaturierungsgesetz ist eine solche Maßnahme und sieht vor, zwanzig Prozent der Naturräume (Land und Wasser) in ihren natürlichen Ausgangszustand zurückzuversetzen. Darunter fällt auch die Wiedervernässung von ursprünglichen Moorböden. Zum Vergleich: Achtzig Prozent der Lebensräume der EU gelten als degradiert. Das Gesetz gilt als riesige Chance auf Naturkonservierung, Schutz der Biodiversität und des Klimas.

Renaturierungsgesetz: Druck und Drohungen in der EVP-Fraktion

Vor zwei Wochen war das Gesetz Thema im Umweltausschuss. Mit den geschlossen-geballten Nein-Stimmen der Konservativen und Rechten stand am Ende ein Patt aus 44 zu 44, was in dem Fall so viel wie Nein heißt und erstmal nur eine Empfehlung an das EU-Parlament ist, das am Mittwoch darüber abstimmt. Die ganze Angelegenheit hat nebenbei auch ein Geschmäckle: Medienberichten zufolge hätte EVP-Chef Manfred Weber (CSU) Befürworterinnen und Befürwortern des Gesetzes im Vorfeld mit einem Rausschmiss aus der Fraktion gedroht, sollten sie nicht mit "Nein" stimmen.

Wir haben in den vergangenen Wochen ein Feuerwerk an Falschinformationen gesehen.

Prof. Dr. Sebastian Lakner | Universität Rostock

Dass es dazu kommen konnte, ist Guy Pe'er angesichts der Faktenlage mehr oder weniger schleierhaft. Der Ökologe und Wahl-Leipziger arbeitetet am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) sowie am iDiv, dem Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung. "Was mich trifft, ist, dass so eine wichtige Entscheidung auf Grundlage von Missinformationen getroffen werden soll", sagte Pe'er am Montag in einem Pressegespräch. Und bedient sich einer Metapher: Ein Gebäude brauche Wände, auf denen es steht. Wenn man die wegreißt, hat man irgendwann nicht mehr viel vom Häusle.

Lebensmittelsicherheit: Behauptungen wissenschaftlich nicht haltbar

Weitergedacht bedeutet das: Die Wände verbrauchen Raum, auf dem sie stehen. Ohne Wände stünde freilich mehr Wohnraum zur Verfügung, nicht viel, aber ein bisschen. Wenn man aber will, dass das Haus weitestgehend stabil bleibt, muss man auf dieses Bisschen verzichten. Insbesondere für die Landwirtschaft ist "dieses Bisschen" aber mit Einschränkungen verbunden. Die derzeitige Stimmung: Sollte das Gesetz (zusammen mit der geplanten Pestizidverordnung) kommen, kann die Ernährungssicherheit des Kontinents (und der Welt) nicht mehr gewährleistet werden. Dass diese Behauptung wissenschaftlich nicht haltbar ist, haben wir bereits im MDR Klima-Update Mitte Juni verhandelt. In einem offenen Brief haben sich Forschende, denen angesichts der Debatte ganz offenbar der Kragen geplatzt ist, mittlerweile an die EU gewandt. Hier warnen sie eindringlich vor derlei zweifelhaften Einschätzungen. Oder um es mit den Worten von Sebastian Lakner zu sagen: "Wir haben in den vergangenen Wochen ein Feuerwerk an Falschinformationen gesehen."

Der Agrar- und Umweltwissenschaftler der Uni Rostock betont: "Auf einem ganz großen Teil der Fläche ändert sich überhaupt nichts." Es sei aber endlich an der Zeit, den eigenen Zielen und Vorgaben Taten folgen zu lassen. Diese Ziele und Vorgaben nennen sich FFH-Gebiete, das steht für die bereits 1992 beschlossene Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie. Sie beschreibt ein EU-weites zusammenhängendes Netz aus schützenswerten Naturräumen. Aus einer Neunziger-Jahre-Perspektive nice-to-have, in Deutschland Ländersache und aus Lakners Sicht mangelhaft umgesetzt, er spricht hier von einem jahrelangen "Vollzugsdefizit". Einer aktuellen Studie der Uni Bologna zufolge hängt Deutschland mit dem Ausweisen von strengen Naturschutzgebieten derart hinterher, dass es EU-weit den drittletzten Platz einnimmt.

Bildrechte: MDR WISSEN

Mit dem Renaturierungsgesetz könnte sich jetzt einiges ändern und geschützt werden, was ohnehin geschützt werden soll. In Deutschland sind es 9,3 Prozent der Landesfläche, die als FFH-Fläche ausgewiesen sind. Nur wenn landwirtschaftliche Betriebe innerhalb der sogenannten Schutzgebietskulisse agieren (neben FFH-Gebieten zum Beispiel auch solche, die unter die Vogelschutz- oder Wasserrahmenrichtlinie fallen), wird das Renaturierungsgesetz relevant.

Weitere Herausforderung: Besseres Auskommen für Landwirtinnen und Landwirte

Die Frage ist aber auch: "Wie kriegen wir die Leute dazu, die dort wirtschaften, dass sie ein besseres Auskommen haben?" Sebastian Lakner zufolge ist das die andere große Herausforderung, die anstehe. In seiner Forschung habe er bereits gezeigt, dass eine gezielte Förderung ein absoluter Game-Changer sein kann. Renaturierung bedeutet also auch, Fördergeldlücken zu schließen. Und dass Naturschutz mit Landwirtschaft Hand in Hand gehen kann. Letzteres zeigt etwa das Konzept der Paludikultur, eine Form von Landwirtschaft auf Moorböden, auch auf solchen, die durch das Renaturierungsgesetz wiedervernässt werden sollen. Moorböden sind, nebenbei vermerkt, nicht nur einfach Naturräume, sondern ziehen beträchtliche Mengen von CO2 aus der Atmosphäre.

Wir bringen Natur zurück. Das bedeutete nicht, dass wir die Menschen wegschmeißen.

Dr. Guy Pe'er | Ökologe

Weder eine Perspektive für die Natur, noch für die Bewohnerinnen und Bewohner Europas, aber ganz sicher nicht für die Landwirtschaft ist ein Einfach-so-weiter. Letzterer würde ohne entsprechender Renaturierungsmaßnahmen schlichtweg die Existenzgrundlage entzogen. Ökologe Guy Pe'er stellt klar: "Wir bringen Natur zurück. Das bedeutete nicht, dass wir die Menschen wegschmeißen."

So bleibt zu hoffen, dass die Entscheidung im EU-Parlament auf Fakten und nicht auf gezielten Fehlinformationen fußen wird. Wenn es nicht klappt, sind wir zum Ende der Woche um eine Frage und eine Erkenntnis reicher. Frage: Wenn nicht so, wie machen wir's dann? Erkenntnis: Konservierend und konservativ ist eben nicht das gleiche.

mit Informationen aus einem Pressegespräch des Science Media Center

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