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Mobbing kann den Alltag zur Hölle machen Bildrechte: imago images/ingimage

StudieLGBTQ-Jugend: Mehr Suizidgefährdung durch Mobbing?

10. November 2020, 12:59 Uhr

Nicht alle, die ernsthaft lebensmüde sind, sprechen darüber. Das macht solche Tode so schrecklich für Angehörige. Ein Forschungsteam hat Zusammenhänge zwischen Mobbing und Selbstmordgedanken bei LGBTQ-Jugendlichen gesucht.

Man verpasst absichtlich den Schulbus und die erste Stunde, damit man während der zwanzigminütigen Fahrt nicht den Blicken und Sprüchen zweier Fieslinge ausgesetzt ist. Man meldet sich nicht mehr im Unterricht, weil sonst ein Tuschelkonzert ausbricht. Man geht nach der Deutschstunde gleich zur Toilette, damit man während der Pause keine Zielscheibe für die Peiniger abgibt.

Mobbing-Erfahrungen fressen Energie, sie verunsichern, sie quälen, sie rauben Schlaf, Selbstbewusstsein und schlimmstenfalls den Lebenswillen. Es reichen Kleinigkeiten, zum Mobbing-Opfer zu werden. Belanglosigkeiten, die einen von der grauen Menge unterscheiden: das "falsche" Handy, die Klamotten, bestimmte Messengerdienste, soziale Medien oder Online-Games nicht zu nutzen. Die sexuelle Orientierung, die Geschlechterzugehörigkeit. Nehmen sich Kinder oder Jugendliche wegen solcher Erfahrungen das Leben, weil der Druck zu groß, der Alltag zu ausweglos erschien, bleiben Angehörige und Freunde bis ins Mark getroffen zurück. Hätten sie es wissen können? Gab es Hinweise? Wer hätte sie sehen können?

Welche Rolle spielt die sexuelle Zugehörigkeit - spielt sie eine?

Und wie ist das eigentlich, gibt es einen Unterschied zwischen Mobbing-Erfahrungen von Selbsttötungen von LBGTQ-Jugendlichen und Nicht-LBGTQ-Jugendlichen? Eine Forschungsgruppe der Universität Yale in den USA wollte genau das wissen. Doch wie findet man heraus, dass es Mobbing gab, bevor sich Kinder oder Jugendliche das Leben genommen haben?

Tagebücher oder Online-Einträge eröffnen das, was Menschen erlebt - oder ertragen haben. Bildrechte: imago images/Cavan Images

Hinweise geben Hinterlassenschaften der Jugendlichen, die sich selbst das Leben genommen hatten, aber auch die Aufzeichnungen offizieller Stellen wie Gerichtsmediziner, medizinisches Personal, Leichenbeschauer und Aufzeichnungsakten von Gerichtsmedizinern, sowie Beschreibungen von Angehörigen oder Freunden der Verstorbenen. Zum anderen direkte "Nachlässe" der Jugendlichen - also Tagebuch- oder Social-Media-Einträge, Textnachrichten in Messengerdiensten, Emails, und private Selbstmordnotizen. Für die Studie wurden knapp 10.000 Todesfälle von Heranwachsenden im Alter zwischen zehn und 19 Jahren untersucht. Sie stammen aus dem Zeitraum 1. Januar 2003 bis 31.12.2017. Alle diese Informationen stammen aus einer Datenbank, die sämtliche Informationen zu gewaltsamen Todesfällen, einschließlich Selbstmorden, sammelt.

Was bdeutet noch mal LGBTQ?

Die Bezeichnung steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Queer.

Wie findet man Hinweise auf den Lebensüberdruss eines Menschen? Bildrechte: picture alliance / dpa | Caroline Seidel

Sowohl für Hinweise auf LGBTQ-Jugendliche unter den 9.884 Todesfällen an sich, als auch Hinweise auf Mobbing wurde in zweistufigen "Siebverfahren" gesucht und in einem zweiten Schritt überprüft. So identifizierten die Forschenden 334 LGBTQ-Jugendliche. Die Suche nach Mobbing-Vorfällen anhand festgelegter Begriffe in den Hinterlassenschaften der toten Jugendlichen ergab 601 potentielle Datensätze. Insgesamt standen demnach fünf Prozent aller Todesfälle in Zusammenhang mit Mobbing. Bei den als LGBTQ-klassifizierten Jugendlichen wurden aber 20,7 Prozent gemobbt - also jede/r Fünfte. Und bei den als Nicht-LGBTQ-klassifizierten Heranwachsenden waren es 4,4 Prozent - also knapp jede/r Zwanzigste.

Je jünger, desto mehr Mobbingfälle im Suizid-Vorfeld

Bildrechte: Colourbox

Wobei in beiden Gruppen mehr Jungen, bzw. die in der Gruppe der LBTGQ als solche eingeordnet wurden, betroffen waren. Bei den LBGTQ-Kindern 53 Prozent derer, die als Jungen eingeordnet wurden, und 47 Prozent bei denen, die als Mädchen betrachtet wurden. In der Gruppe der Nicht-LBGTQ-Gruppe - insgesamt 9.550 Jugendliche - wurden bei Jungen sogar deutlich mehr Mobbing-Erfahrungen belegt: Nämlich bei 7.300 - also 76,4 Prozent. Bei den 2.250 Mädchen dieser Gruppe hatten 23,6 Prozent eine Mobbingvorgeschichte. Die Zahlen zeigen: Je jünger die LBGTQ-Kinder waren, desto häufiger wurde Mobbing im Vorfeld des Suizids gefunden - nämlich bei den Zehn- bis 13-Jährigen waren es knapp 68 Prozent.

Aber wie aussagekräftig ist nun eine solche Untersuchung? Dem Forschungsteam zufolge ist es möglich, dass Mobbing als Motiv oder tödliche Vorgeschichte für den Freitod von Jugendlichen unterschätzt wird. Besonders bei der LBGTQ-Jugend, denn eine systematische Erfassung von LBGTQ-Informationen in Sterbeurkunden gibt es nicht. Studien-Hauptautorin Kirsty Clark sagt:

Wir hatten erwartet, dass Mobbing ein häufigerer Faktor sein könnte, aber überrascht hat uns die große Diskrepanz. Unsere Ergebnisse deuten stark darauf hin, dass zusätzliche Schritte unternommen werden müssen, um LGBTQ-Jugendliche - und andere - vor der heimtückischen Bedrohung durch Mobbing zu schützen.

Kirsty Clark

Ihre Studie wurde in JAMA Pediatrics veröffentlicht.

Mobbing in der Schule Bildrechte: imago/emil umdorf

Sie haben Selbsttötungsgedanken oder eine persönliche Krise? Die Telefonseelsorge hilft Ihnen rund um die Uhr: 0800 1110111 und 0800 1110222. Der Anruf ist anonym und taucht nicht im Einzelverbindungsnachweis auf. Auf der Webseite Telefonseelsorge.de finden Sie weitere Hilfsangebote.

(lfw)

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