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Teilchen kollidieren. Sieht natürlich in echt nicht so aus. Bildrechte: imago/Pond5 Images (M)

Interview: Neue PhysikMyonen und andere Teilchen: Kippt unser Weltbild, Herr Stöckinger?

17. April 2024, 14:53 Uhr

Die Teilchenphysik ist die Grundlage für … eigentlich alles. Sie beschreibt, was wir sehen und was wir nicht sehen. Was wir spüren und was wir nicht spüren. Seit einiger Zeit steht unsere moderne Physik auf dem Prüfstand. Denn eins ist klar: So ganz vollständig ist unser Wissen noch nicht, woraus die Welt und das Universum eigentlich bestehen – und welche Kräfte wirken. Vor zwei Jahren ging ein Rüttler durch die Elementarteilchenforschung. Dresdner Forschende waren und sind mit dabei.

Was die Welt zusammenhält …… das wissen wir im Grunde längst: Quarksteilchen sind es, die wiederum Atome bilden, die wiederum Moleküle bilden, die wiederum das Gerät bilden, auf dem Sie sich gerade diese Lektüre zu Gemüte führen. Und dann gibt es noch Teilchen, die sehen und spüren wir nicht, können sie aber nachweisen, weil sie mit anderen Teilchen interagieren. Das ist wichtig, weil wir so nicht nur sehen, was wir sehen, sondern auch, was sonst noch da ist. Die Grundlage der modernen Physik ist das Standardmodell der Elementarteilchen – und obwohl es alles um uns herum beschreibt, wissen wir, dass es unvollständig ist. Deshalb steht es auf dem Prüfstand, beim g-2-Dauerexperiment am US-Teilchenbeschleuniger Fermilab, Nähe Chicago. 2021 sorgte eine dortige Messung für Wirbel. Sie passte nicht so ganz und unser physikalisches Weltbild geriert etwas ins Wanken. Hat es sich inzwischen schon weider ausgewankt? Besprechen wir das mit dem Elementarteilchenphysiker Dominik Stöckinger von der TU Dresden. Er und weitere Forschende sind am g-2-Experiment beteiligt.

Herr Stöckinger, Sie als Teilchenforscher: Nehmen Sie Bäume und Colaflaschen und Stubenfliegen noch als solche war, oder zerlegen Sie erstmal alles im Kopf?

Prof. Dr. Dominik Stöckinger Bildrechte: TU Dresden/Benjamin Griebe (M), MDR

Dominik Stöckinger: Ich nehme durchaus Alltagsgegenstände und Lebewesen als solche wahr und behandle sie auch entsprechend. Es ist aber eine tolle und für mich sehr befriedigende Erkenntnis, dass wir im Prinzip in der Lage sind, den Aufbau und das Verhalten von Alltagsgegenständen auf immer fundamentalere physikalische Gesetze zurückzuführen. Sämtliche Materie, die wir auf der Erde sehen, ist aus sehr wenigen Elementarteilchen aufgebaut. Und – was noch beeindruckender ist – sämtliche physikalische Prozesse, die wir im Alltag beobachten, lassen sich auf lediglich zwei fundamentale Wechselwirkungen zurückführen: zum einen die Schwerkraft, zum anderen der Elektromagnetismus, welcher durch den Austausch von Photonen (also Lichtteilchen) vermittelt wird.

Die kennt man mitunter. Zum Inventar aus dem Physikunterricht gehören noch Protonen und Elektronen, Neutrinos hat man auch schon mal gehört. Und das Higgs-Teilchen durfte sich vor gut einem Jahrzehnt eines kleinen Hypes erfreuen. Soweit, so gut. Sie forschen aber auch an Myonen. Was bitte ist das?

Die Myonen kann man als schwere Geschwister der Elektronen bezeichnen. Sie verhalten sich in vielen Aspekten genau gleich wie Elektronen, aber es gibt zwei Unterschiede: Zum einen sind sie instabil, zerfallen also nach einigen Mikrosekunden in Elektronen und Neutrinos, weswegen sie in Alltagsgegenständen nicht vorkommen. Zum anderen haben sie eine etwa 200 mal größere Masse als Elektronen. Gemäß Einsteins Formel E = mc^2 kann man solche Teilchen produzieren, wenn man zum Beispiel Elektronen mit entsprechend hoher Energie aufeinander schießt. Dies passiert ohne menschliches Zutun von alleine sehr häufig durch die kosmische Strahlung, die auf Atome in der Atmosphäre trifft, weswegen etwa hundert Myonen pro Sekunde und pro Quadratmeter auf den Erdboden treffen. Bevor sie zerfallen, kann man sie in Detektoren am Erdboden entdecken.

Kurze Nachhilfe – das Standardmodell der Teilchenphysik:

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Etwas groß geraten, nicht gerade stabil, nicht in Alltagsgegenständen – klingt nach einem Teilchen zweiter Klasse.

Das Myon wird wegen seiner Ähnlichkeit zum Elektron als Teilchen der zweiten Generation bezeichnet und wir wissen heute, dass es tatsächlich sogar drei solcher Generationen von Elementarteilchen gibt. Zum Elektron und Myon gesellt sich noch das Tau-Teilchen. Warum, wissen wir nicht. Das Myon ist von allen Teilchen der zweiten oder dritten Generation dasjenige, das wir am genauesten untersuchen können, denn es lässt sich verhältnismäßig einfach erzeugen und es lebt relativ lange, bevor es zerfällt.

Im Experiment am Fermilab nutzen sie diesen Umstand und untersuchen das magnetische Moment von Myonen … helfen Sie mir kurz?

Dieses magnetische Moment – also g-2 – ist analog zur Nadel eines Kompass: Wenn man es in ein äußeres Magnetfeld einbringt, dreht es sich. Erstaunlicherweise ist es möglich, dass Elementarteilchen überhaupt ein solches magnetisches Moment besitzen können – dies ist daher eine fundamentale Kenngröße für Elementarteilchen. Das magnetische Moment des Myons hat die interessante Eigenschaft, dass es recht stark beeinflusst werden kann durch sogenannte Quantenfluktuationen. Diese Quantenfluktuationen kann man sich so vorstellen, dass das Myon sich nicht isoliert im Vakuum bewegt, sondern dass es permanent mit anderen Elementarteilchen wechselwirkt, die sehr kurzzeitig im Vakuum entstehen und wieder zerfallen. Die hohe Masse der Myonen ist hierbei ein Vorteil, denn sie ermöglicht das Auftreten von Quantenfluktuationen mit praktisch allen bekannten – oder auch unbekannten – Elementarteilchen.

Falls demnächst eine signifikante Abweichung definitiv etabliert werden könnte, dann könnte dies von Teilchen kommen, die zugleich auch die dunkle Materie im Universum erklären könnten.

Nun hat sich 2021 am Fermilab herausgestellt, dass Myonen sich nicht ganz so verhalten, wie angenommen. Was stimmt denn nicht mit denen?

Unser gesichertes Wissen über Elementarteilchen lässt sich im sogenannten Standardmodell zusammenfassen, einer sehr genau definierten Theorie, einer mathematischen Beschreibung aller bekannter Elementarteilchen. In diesem Standardmodell kann man alle Quantenfluktuationen ausrechnen und somit den Wert vorhersagen, den das g-2 haben müsste, falls das Standardmodell korrekt ist. Zahlreiche theoretische Physiker haben also viele Jahre lang gerechnet und hatten im Jahr 2020 ein Ergebnis erhalten. Im Jahr 2021 erschien dann das erste Messergebnis des Experiments am Fermilab, wo das g-2 direkt gemessen wurde. Die beiden Zahlen stimmten nicht perfekt überein! Daher stand die Frage im Raum, ob unser Standardmodell unzureichend ist, ob also zusätzliche – vorher nicht bekannte – Elementarteilchensorten oder Wechselwirkungen existieren.

Hand aufs Herz, kann man sich denn nicht auch ein bisschen vermessen? Also, so ein ganz kleines bisschen?

Es ist eben sehr wichtig in der Physik, nicht nur ein Ergebnis anzugeben – egal ob Messung oder Berechnung –, sondern auch die Unsicherheit des Ergebnisses sehr genau und ehrlich abzuschätzen. Hierbei hat das Experiment am Fermilab extrem hohen Aufwand betrieben. Die Messung wurde in einzelne Teile aufgeteilt und jeder Teil wurde von mehreren unterschiedlichen Teams durchgeführt. Jedes Team hat unabhängig gearbeitet und es wurde sichergestellt, dass keine Vergleiche zwischen den Teams stattfinden konnten – wir nennen das eine blinde Analyse. Erst nachdem alle Teams einzeln sicher über die jeweiligen Vorgehensweisen waren, wurden die Daten verglichen und kombiniert zum Gesamtergebnis. Dieser Vorgang fand bereits 2021 statt und wurde nun im Jahr 2023 wiederholt. Alle Ergebnisse sind miteinander im Einklang, und somit können wir sehr sicher sein, dass hier kein Irrtum in der Messung vorliegt.

Grundsätzlich ist es so, dass wir ja annehmen, dass unser Wissen über die fundamentalen Gesetze der Elementarteilchen noch nicht vollständig ist

Zwischen theoretischer Vorhersage und Messergebnis gab's 2021 dann die besagte Abweichung. Also, ab einer hinteren Nachkommastelle. Müssen Sie's denn so genau nehmen?

Nun, wenn wir den Anspruch haben, dass unser theoretisches Gebäude, das Standardmodell, tatsächlich alle Elementarteilchen und alle ihre Wechselwirkungen beschreibt, dann muss ja die Standardmodellvorhersage für g-2 ganz genau mit dem experimentellen Wert übereinstimmen. Die Quantenfluktuationen einiger bekannter Teilchen, wie zum Beispiel vom W-Boson und Z-Boson und Higgs-Boson (dies sind Teilchen der sogenannten schwachen Wechselwirkung) wurden zum Beispiel in Dresden berechnet, und diese beeinflussen das g-2 des Myons in der neunten Nachkommastelle. Wenn wir also wissen wollen, ob die schwache Wechselwirkung tatsächlich so funktioniert wie es das Standardmodell sagt, dann sollten wir g-2 genauer messen und berechnen als bis zur neunten Nachkommastelle.

Prof. Dr. Dominik Stöckinger… ist Direktor des Instituts für Kern- und Teilchenphysik an der Technischen Universität Dresden und Professor für die Phänomenologie der Elementarteilchen.

Gut, überzeugt. Als 2021 diese ungleichen Zahlen veröffentlicht wurden, war von dunkler Materie die Rede, deren Teilchen mit den Myonen umhertanzen. Und von einer neuen Physik. Steht unser Weltbild eigentlich noch?

Inzwischen ist ziemlich klar, dass die 2021 beobachtete Diskrepanz nicht an einem zu ungenauen Fermilab-Experiment lag. Jedoch wurde in der Zwischenzeit auch an der theoretischen Berechnung weitergearbeitet. Und in der Tat sind da einige Unklarheiten zutage getreten. Diese betreffen jene Teile der Berechnung, die mit Quantenfluktuationen sogenannter Hadronen zu tun haben – Hadronen ist ein Überbegriff für Teilchen wie Protonen oder Neutronen, die an der starken Wechselwirkung teilnehmen. Eine etablierte Berechnungsmethode für die hadronischen Quantenfluktuationen beruht auf experimentellen Messungen an Hadronen. Und nun wurde auch eine alternative Berechnungsstrategie verfolgt, die ohne solche Hadron-Messungen auskommt. Diese alternative Berechnung liefert ein leicht anderes Ergebnis. Die Gemeinde der theoretischen Physiker ist intensiv dabei, all solche inneren Konsistenzprobleme zu analysieren und ist optimistisch, innerhalb der kommenden Jahre Fortschritte zu machen. Aber aktuell ist nicht klar, was die genaue Vorhersage des Standardmodells für g-2 ist. Und daher ist aktuell auch nicht klar, ob die Fermilab-Messung von g-2 von der Vorhersage des Standardmodells für g-2 abweicht oder nicht.

Mitternachtssonne in Lappland. Auch das ist Teilchenphysik. Beim Anblick aber irgendwie egal, dass uns hier Protonen, Photonen und Konsorten nur was vorschwirren. Bildrechte: IMAGO/Lehtikuva

Mit Verlaub, das klingt etwas ernüchternd. Also erstmal keine geheimnisvollen Tanz-Teilchen aus der dunklen Materie?

In Dresden haben wir uns sehr intensiv mit der möglichen Rolle von neuen Teilchen und Wechselwirkungen auf g-2 beschäftigt. Wenn es zusätzliche Elementarteilchensorten geben würde, dann könnten die das g-2 des Myons beeinflussen. Falls demnächst eine signifikante Abweichung, ähnlich wie 2021, definitiv etabliert werden könnte, dann könnte dies zum Beispiel von neuartigen, zusätzlichen Higgs-Bosonen kommen oder aber von supersymmetrischen Teilchen, die zugleich auch die dunkle Materie im Universum erklären könnten. Wenn die Abweichung klein oder gar nicht vorhanden ist, dann können wir eine Obergrenze an die Quantenfluktuationen neuer Teilchen ermitteln. In beiden Fällen – große oder kleine Abweichung – lernt man konkrete Details über mögliche neue Physik, zum Beispiel darüber, welche genauen Eigenschaften die dunkle Materie haben könnte. Grundsätzlich ist es so, dass wir ja annehmen, dass unser Wissen über die fundamentalen Gesetze der Elementarteilchen noch nicht vollständig ist. Es gibt zu viele offene Fragen, wie zum Beispiel nach der Natur der dunklen Materie im Universum oder der Frage, wie die Schwerkraft auf der Ebene der Elementarteilchen und ihrer Quantenfluktuationen wirkt. Wir wissen auch nicht, warum es drei Generationen von Elementarteilchen gibt anstatt einer und ob die Tatsache, dass es im Universum viel mehr Materie als Antimaterie gibt, einen physikalischen Grund hat. Wenn wir an neuen Elementarteilchen und neuen Wechselwirkungen interessiert sind, ist das meist kein Selbstzweck, sondern hat die Hoffnung, dass uns die Eigenschaften neuer Teilchen näher an die Antworten auf solche grundlegenderen Fragen führen.

Hört sich irgendwie bedrohlich an …

Zugleich würde sich die Alltagsphysik durch das Auffinden neuer Elementarteilchen nicht wirklich ändern. Für den Apfel und die Planeten gibt es keinen nennenswerten Effekt, da diese von Quantenfluktuationen von Elementarteilchen generell kaum beeinflusst sind.

Na zum Glück. Wenn Sie nach Feierabend eine ordinäre Küchenwage in der Hand haben, mit nur einer mehr oder weniger genauen Nachkommastelle – können Sie die eigentlich noch ernst nehmen?

Haha, wie eingangs gesagt: Eigentlich schon …

Herr Stöckinger, besten Dank!

Wie geht's weiter?Beim g-2-Experiment am Fermilab stehen die Daten für die Läufe 4, 5 und 6 noch aus. In den kommenden drei Jahren wird es dazu weitere Updates geben. Es bleibt spannend!

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