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Wer bei Vorlesungen oder Telefonkonferenzen nebenbei kritzelt, kann sich besser fokussieren und auf den Inhalt des Gesagten verarbeiten. Bildrechte: MDR/Jennifer Schollbach

PsychologieWarum wir beim Zuhören kritzeln und was die Zeichnungen über uns sagen

26. August 2021, 14:55 Uhr

Menschen kritzeln – bei Vorlesungen, Konferenzen oder Telefonaten. Das hat nichts mit Langeweile zu tun, sondern ist ein Akt tiefer Konzentration und ein Trick des Gehirns, um nicht vom Thema abzuschweifen. Die Tische der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe können davon ein Lied singen und sind ein echtes Zeitdokument studentischer Konzentrationskunst. Doch was sagen die Zeichnungen über den Künstler oder die Künstlerin aus?

von Jennifer Schollbach

Solange ich denken kann, habe ich meine Schulhefte, Schreibblöcke, Notizhefte oder einfach nur Papierfetzen mit kleinen Zeichnungen vollgekritzelt, wenn ich den Lehrern und Lehrerinnen, oder jetzt eben den Kollegen und Kolleginnen zugehört habe. Oft zum Leidwesen dieser, denn sie haben das als mangelndes Interesse wahrgenommen. Doch ich konnte nicht anders. Ich hatte den Drang zu kritzeln. Mal waren es Cartoons, mal Blumen, mal irgendwelche geometrischen Formen oder sich ständig wiederholende Muster.

Ich wusste schon früher, dass ich mich dadurch besser auf das Gesagte konzentieren konnte. Doch heute ist mir klar, dass es nicht nur mir so ging, sondern auch sehr vielen anderen Menschen. Das bestätigt auch Prof. Dr. Michael Mingen von der Technischen Universität Ostwesfalen-Lippe: "Durch Kritzeleien aktivieren wir uns selbst, um Inhalte zu verarbeiten und nicht mit den Gedanken abzuschweifen."

Kritzeln als Lernmethode

Mingen zufolge belegen englische Studien sogar, dass die Gedächtnisleistung während des Kritzelns um 30 Prozent gesteigert werden kann. Das heißt, dass Gedächtnisinhalte, die während unserer Kritzelarbeit entstehen, noch ein paar Tage lang um 30 Prozent besser abrufbar sind. Kritzeln ist also für viele Menschen eine gute Methode, um ihre Konzentration zu vertiefen und sich Gesagtes besser einzuprägen.

Bildrechte: imago/Science Photo Library

Übrigens waren einige der größten Denkerinnen und Denker der Geschichte sehr passionierte Kritzler: Leonardo da Vinci zum Beispiel oder der polnische Mathematiker Stanisław Marcin Ulam. Er hatte während eines wissenschaftlichen Vortrags gekritzelt und begonnen, natürliche Zahlen von innen nach außen in einer quadratischen Spirale aufzuschreiben. Plötzlich fiel ihm auf, dass die Primzahlen darin einem gewissen Muster folgen. In der Mathematik spricht man heute von der Ulam-Spirale.

Die Zeichnungen verraten etwas über uns

Natürlich ergeben sich aus den meisten Kritzeleien vermutlich keine bahnbrechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, aber das nebensächliche Zeichnen hilft uns dennoch manchmal, Zusammenhänge im Nachhinein zu erkennen und auch Emotionen zu verarbeiten. So berichtete der Health Blog der Harvard Medical School zum Beispiel über Dr. Robert Burns von der University of Seattle, der die Zeichnungen seiner Patientinnen und Patienten nutzte, um deren emotionale Probleme zu diagnostizieren. Denn die Wahl der Kritzelmotive läuft meist unbewusst ab und sagt einiges über uns aus. Was das Zeichnen während Telefonaten oder Vorlesungen angeht, stellt Prof. Mingen folgendes fest:

Bildrechte: MDR Wissen/Jennifer Schollbach

"Wer geometrische Formen malt, setzt sich intensiv mit einem Problem oder einer Fragestellung auseinander und versucht Struktur hineinzubringen." Sie können aber auch auf Entscheidungsprobleme hindeuten. Florale Muster wiederum vermitteln eine positive Stimmung. Entweder befindet sich der Kritzler oder die Kritzlerin bereits in dieser oder will sich darin hineinversetzen.

Der Drang sich zu verewigen

Auch Wände, Bänke und Tische sind oft Untergrund für Kritzeleien. Der Hörsal der Medienproduktion an der Technischen Universität Ostwestfalen-Lippe kann davon ein Lied singen. Die Tischreihen darin sind wahre Zeitdokumente studentischer Konzentrationskritzelei. Über Jahrzehnte hinweg haben sich dort eine Menge unterschiedliche Zeichnungen angesammelt. Doch warum wurde da auf die Tischplatte gekritzelt und nicht auf den Notizblock? Das könnte damit zusammenhängen, dass der Mensch seit den ersten Höhlenmalereien den Drang verspürt, sich irgendwie zu verewigen. Irgendetwas will er hinterlassen, und seien es nur die Initialen auf einem kleinen Klapptisch.

"Oftmals kommt die Person nach langer Zeit an den Ort zurück, an dem sie ihren Namen hinterlassen hat. Und es gelingt ihr sehr gut, sich in die damalige Zeit zurückzuversetzen oder sich genau an die Situation zu erinnern", sagt Prof. Minge.

Kritzeln – das hat also nichts mit Langeweile zu tun, sondern dient zum einen dazu, uns zu konzentrieren und zum anderen, um uns und der Nachwelt zu zeigen "Ich war hier, ich war Teil dieses Ortes, ich gehöre dazu". Der Hörsal der Medienproduktion wurde übrigens saniert, die neuen Tische sind noch völlig unbekritzelt. Aber keine Angst –  die Tischkunstwerke wurden gerettet, werden jetzt sogar an Absolventinnen des Fachbereichs verlost und können hier auch noch bestaunt werden.

JeS

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