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Das neue Selbstbestimmungsgesetz löste eine Debatte aus. Im Jahresrückblick erklärt Annika Schneider, warum diese "Debatte" mit einem seriösen Meinungsaustausch wenig zu tun hat. Bildrechte: MDR MEDIEN360G

Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 2. Januar 2023Wer trans sagt, wird Sturm ernten – und der Journalismus schaut zu

02. Januar 2023, 09:00 Uhr

Eigentlich sollte es um die berechtigten Forderungen einer von Gewalt bedrohten Minderheit gehen. Stattdessen stehen trans Menschen plötzlich in einem medialen Krieg, in dem ganz andere Themen verhandelt werden. Ein Rückblick auf die Berichterstattung über das geplante Selbstbestimmungsgesetz. Eine Kolumne von Annika Schneider.

von Annika Schneider

Wenn der rbb-Skandal rund um Patricia Schlesinger etwas Gutes hat, dann vielleicht das hier: Seitdem über Ruhegelder und Massagesitze diskutiert wird, missbrauchen Gegnerinnen und Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks seltener die Anliegen von trans Menschen für ihre Attacken gegen die Sender.

Alle auf die "Maus"

Die AutorinAnnika Schneider

Erinnern Sie sich noch an den Artikel im vergangenen Juni, in dem fünf Gastautorinnen und -autoren ARD und ZDF vorwarfen, Kinder zu "indoktrinieren" – und den die "Welt" genüsslich auf der Titelseite platzierte? Oder an den Vorwurf, die "Sendung mit der Maus" wolle ihr Publikum "einschüchtern und erziehen" mit einem Beitrag über eine trans Frau? Das fantasierte Ex-"Bild"-Chef Julian Reichelt im März in einem Tweet und löste damit ein passables Berichterstattungsdomino aus. Im Sommer wurden dann die Ausschweifungen in der rbb-Spitze öffentlich. So taugte es schon nicht mehr zum Skandal, als Jan Böhmermann Anfang Dezember in einer Folge seines "ZDF Magazin Royale" zum Thema Trans medial an die Front zog.

Aber beginnen wir mit dem, was im vergangenen Jahr viel zu selten im Zentrum der Berichterstattung stand: den Fakten. Die Regierungsampel werkelt seit Monaten an einem neuen Selbstbestimmungsgesetz, das Justiz- und Familienministerium in einem "Infopapier" so beschreiben:

"Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz heben wir das veraltete und zum Teil verfassungswidrige Transsexuellengesetz aus dem Jahr 1980 auf. Wir ersetzen es durch eine einfache und einheitliche Regelung, mit der Menschen ihren Geschlechtseintrag oder ihre Vornamen ändern können. Das bereitet dem bisherigen entwürdigenden, langwierigen und kostenintensiven Verfahren ein Ende, in dem erst zwei psychiatrische Gutachten eingeholt werden müssen, um den Personenstand im Personenstandsregister ändern zu dürfen."

Debatte ins Nirgendwo

Nach jahrelangem Kampf für eine Neuregelung stehen Aktivistinnen und Aktivisten für Trans-Rechte kurz vor dem Ziel – und würden sich trotz allem Bemühen um gesellschaftliche Solidarität inzwischen wohl wünschen, das öffentliche Interesse an dem Vorhaben wäre nicht ganz so groß ausgefallen. Denn die "Debatte" rund um das geplante Gesetz lässt sich kaum noch als solche bezeichnen. Zu wenig hat das mediale Gemisch aus Krakeel, Angriffen und Unterstellungen mit einem seriösen Meinungsaustausch zu tun.

Im Kosmos der "sozialen" Netzwerke haben wir uns daran gewöhnt, dass die meisten Debatten niveaumäßig schnell in den Sinkflug gehen. Aber auch in der Berichterstattung renommierter Medien ist im vergangenen Jahr einiges schief gelaufen. Wer denkt, das sei nur für diejenigen problematisch, die sich gegenseitig als "Trans-Lobby" und "TERFs" beschimpfen, irrt. Denn die aktuelle Debatte schadet allen (außer Klickzahlenjunkies):

  • Trans Menschen müssen Unterstellungen und Verdächtigungen ertragen, während ihre Anliegen kaum zur Sprache kommen. Io Görz, Chefredakteur:in von infranken.de, beschrieb bei Meedia, wie Transsein als Gefahr für den ganzen Staat dargestellt werde, während in Wirklichkeit vor allem trans Menschen selbst von Gewalt betroffen sind.
  • Die vielen Menschen, die zum Thema keinen persönlichen Bezug haben, haben kaum noch eine Chance zu verstehen, worum es eigentlich geht und was nun der Stand der Wissenschaft, was ideologiegetriebene Verteufelung ist. Sauber recherchierte Faktenberichte muss man zwischen den vielen Meinungsartikeln leider mit der Lupe (oder ausgefuchsten Schlagwort-Kombinationen) suchen.
  • Diejenigen, die seriöse Kritik an dem geplanten Gesetz haben, dringen mit ihren Bedenken nicht durch – zum Beispiel Menschen, die ihre Transition ins andere Geschlecht im Nachhinein als falsche Entscheidung betrachten. Die WDR-Journalistin Georgine Kellermann, seit vielen Jahren trans Aktivistin, betonte im Interview mit Übermedien, man müsse auch die Menschen ernst nehmen, die sich Sorgen um die Auswirkungen des Selbstbestimmungsgesetzes machen.

Dass der Meinungsbildungsprozess rund um die Personenstandsänderung dermaßen aus dem Ruder gelaufen ist, liegt nicht (nur) daran, dass sich Medien nicht genug Mühe gegeben haben. Auf Abwege geführt wurde die Diskussion von all den Gruppen, die das Thema für ihre eigenen Ziele missbrauchen, ob es nun um die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die Agenda der Rechten gegen eine pluralistische Gesellschaft oder gar anti-westliche Propagandakampagnen geht. Wer starke Nerven hat, konnte bis vor Kurzem zum Beispiel noch ein Video des für Verschwörungsschwachsinn bekannten Senders Auf1 ansehen, das "Transsexualität" mit Magersucht vergleicht und vor irreführenden Behauptungen nur so strotzt.

Warum Recherche, wenn wir Gastbeiträge haben?

Eigentlich müsste genau hier die Arbeit von Redaktionen beginnen – es ist ja schließlich politischer Berichterstattungsalltag, dass Interessengruppen versuchen, Themen in ihrem Sinne zu deuten und mit irreführenden Fakten zu torpedieren. Journalistinnen und Journalisten stellen normalerweise Argumente und Fakten gegenüber, ordnen Einzelstimmen ein und entscheiden, welchen Aspekten sie wie viel Platz einräumen. Genau das ist allerdings nicht oder zu wenig passiert.

  • Ein Grund dafür ist, dass einzelne Medienhäuser eigene Interessen verfolgen und sich von zugespitzten Artikeln Klicks und Abos erhoffen. Besonders umstrittene Positionen werden gerne als Gastbeiträge gebracht, sodass sich Redaktionen bei Kritik mit Verweis auf die Meinungsvielfalt elegant zurückziehen können.
  • Ein weiterer Grund ist die enorme Komplexität des Themas. Wer sich qualifiziert äußern möchte, muss eine ganze Reihe von Fachgebieten im Blick haben, darunter Wissenschaft und Medizin, die Geschichte des Feminismus und der Trans-Bewegung sowie juristisches Grundlagenwissen. Erkennen sollte man auch die Strategie rechter Akteure, "Gender-Themen" für eigene Zwecke zu missbrauchen. Es ist unmöglich, sich in ein paar Stunden Recherche das nötige Rüstzeug draufzuschaffen, um strittige Positionen sachlich einordnen zu können.
  • Der einfachste Weg, damit umzugehen, ist es, lediglich Einzelschicksale zu beschreiben. Für die Metaebene verlassen sich Redaktionen dann auf Gastbeiträge von und Interviews mit (vermeintlichen) Fachleuten. Io Görz schreibt dazu:

"Aus falsch verstandenem Streben nach Objektivität wird jenen die Deutungshoheit zugesprochen, die maximal entfernt sind von der Lebensrealität von trans Personen. Betroffenen hingegen wird unterstellt, sie seien befangen."

Von Angst, Hass und Gewalt

Womit wir bei der Beschwerde vieler trans Menschen wären, es werde zu oft über sie und zu wenig mit ihnen gesprochen. Bei vielen von ihnen wuchs dieses Jahr nicht nur der Ärger, sondern auch die Sorge darüber, wie Medien das Thema darstellten. Ende Juni starteten mehrere Interessenverbände eine gemeinsame Petition, in der sie vor "problematischen Tendenzen" in der Berichterstattung warnen:

"Diese Berichterstattungen gehen soweit, die Existenz von trans* Personen zur Debatte oder sogar in Frage zu stellen. Sie schüren Ängste und Hass gegenüber trans* Personen, ihrer rechtlichen Anerkennung und gesellschaftlichen Gleichstellung, indem diese als 'gefährlich' für die Mehrheitsbevölkerung dargestellt werden. Gleichzeitig erfahren trans* Personen überproportional viel physische und psychische Gewalt."

Inzwischen haben über 160 Gruppen die Stellungnahme unterzeichnet, allerdings kaum Medienorganisationen (abgesehen von den Neuen Deutschen Medienmacher*innen). Dabei sind die Forderungen in der Petition eigentlich banal: Die Unterzeichnenden fordern unter anderem Einordnung, Ausgewogenheit, Respekt und die Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse – also journalistische Standards, für die man keine Petition brauchen sollte.

Zu "nischig", zu komplex?

Es wäre nun sehr einfach, den Blättern der Springerpresse die Schuld an dem verrohten Diskurs zuzuschieben. Klar, "Bild"-Titel über das geplante Gesetz à la "Einmal pro Jahr darf jeder sein Geschlecht wechseln" sind nicht nur irreführend, sondern in ihrer Kontextlosigkeit auch gefährlich.

Die Frage ist jedoch: Was haben eigentlich andere Redaktionen getan, um Einordnung zu leisten? Wie viele Journalistinnen und Journalisten finden das Thema "irgendwie zu kompliziert" oder "zu nischig", um sich damit auseinanderzusetzen? Wo findet sich die neutrale Einordnung, die sich zum Beispiel differenziert mit der Rolle von Alt-Feministin Alice Schwarzer auseinandersetzt – abseits von Pauschalbeschuldigungen? Wer wirft einen Blick auf Zahlen rund um Transitionen, nicht nur in Deutschland, sondern auch international?

Die Mitte der Gesellschaft ist gefragt

Das Thema Trans-Sein mag wenige direkt betreffen. Indirekt betrifft es alle – und damit meine ich nicht die Sorge, dass Männer sich qua neuem Personenstandseintrag Zugang zu Frauenumkleiden verschaffen könnten (Wann wurden Sie das letzte Mal am Eingang einer Umkleide oder Toilette nach ihrem Ausweis gefragt?).

Sorgen machen sollte die Debatte stattdessen allen, die einen fairen Diskurs als Notwendigkeit für unsere Demokratie begreifen. Trans-Rechte (Menschenrechte!) sind nicht umsonst ein Lieblingsthema von Rechten und Autokraten in der ganzen Welt. Sie glauben, dass sie damit unsere liberale Gesellschaft entscheidend schwächen können. Wollen wir das zulassen?

Es braucht nicht viel, um Regenbogenfahnen zu posten und Trans-Gegner zu denunzieren. Die Aufgabe von Journalismus ist allerdings eine andere: zu recherchieren, zu erklären und zu differenzieren.

Was Journalismus kann

Zum Schluss noch ein paar mühsam gesammelte Lesetipps mit Beiträgen aus dem Jahr 2022, die diesem Anspruch gerecht werden und sich nicht mit der Schilderung von Einzelfällen begnügen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

  • Wie sich Positionen und Zahlen einordnen lassen, zeigt ein "Zeit"-Bericht von Lisa Caspari über das erste Eckpunktepapier zum neuen Selbstbestimmungsgesetz – solider Journalismus, wie er sich leider bei dem Thema selten findet.
  • Für die "Krautreporter" erklärt Steven Meyer das Thema Transgeschlechtlichkeit in einem sehr gut lesbaren Frage-Antwort-Text (€).
  • Weil ich kaum öffentlich-rechtliche Inhalte zum Thema aus dem vergangenen Jahr gefunden habe, hier ein Video des funk-Formats "Die da oben", in dem Jan Schipmann die Debatte um das neue Selbstbestimmungsgesetz in gut 16 Minuten zusammenfasst.
  • Mit einer umfangreichen Recherche geht Amelia Gentleman im "Guardian" der Frage nach, warum sich in Großbritannien heute mehr Jugendliche als trans* bezeichnen. Sie hat dafür über mehrere Monate hinweg trans Jugendliche, betroffene Eltern, Medizinerinnen und Mediziner befragt.
  • Obwohl die "Welt" zu Recht oft als Negativbeispiel genannt wird: Frederik Schindler hat recherchiert (€), ob das neue Selbstbestimmungsgesetz Frauenschutzräume gefährdet und dafür unter anderem Verantwortliche in Gefängnissen und Frauenhäusern befragt.
  • Und weil trans Menschen in vielen Texten kaum zu Wort kommen, zum Schluss noch ein Lesetipp aus dem "Tagesspiegel" (€): Laura Dahmer, Inga Hoffmann und Nadine Lange haben die Gewalterfahrungen von fünf trans Personen dokumentiert.
  • Der Vollständigkeit halber noch der Hinweis auf eine Folge des Deutschlandfunk-Medienpodcasts "Nach Redaktionsschluss": Im Juni habe ich mit meinen Gästen kontrovers diskutiert, wie gute Berichterstattung zu Trans-Themen aussieht. Auch in "Breitband" bei Deutschlandfunk Kultur haben Dennis Kogel und Jenny Genzmer die aktuelle Debatte hörenswert analysiert.