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Das Altpapier am 15. November 2017Medienvergesslichkeit

... ermöglicht immerhin Reenactments-Recycling. Das Internet oder zumindest die Konzerne, die es beherrschen, vergessen natürlich nichts (und monetarisieren vieles). Sollte Mark Zuckerberg am besten Karotten anbauen? Außerdem: eine rekordverdächtige Mediatheken-Verweildauer, #rauchenfürdeniz, eine deutsche Serie, die keiner gut findet. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Bemüht sich der reichste öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen sicheren Beitrags-Einnahmen denn auch genug um Sparsamkeit? Dazu herrschen, wie regelmäßige Altpapier-Leser wissen, äußerst unterschiedliche Ansichten. Wo tatsächlich schon Spar-Potenzial pfiffig gehoben wird, hat Fritz Wolf beim Besprechen der sechsteiligen ZDF-Doku "Terra X: Europa-Saga" für epd medien entdeckt.

Weil Christopher Clark ("souveräner, auch über die nötige Ironie und britischen Humor verfügender Moderator") in der Reihe die Geschichte Europas seit der griechischen Antike zusammenfasst, gibt's eine Menge "Re-Enactments" zu sehen, also mit meist vielen Kleindarstellern nachgestellte Spielszenen. "Man wundert sich schon nicht mehr über die Chuzpe, all das inszenierte Zeug wie dokumentarisches Material zu behandeln", schreibt Wolf. Allerdings war das "Europa-Saga"-Schlachtengetümmel – fast wie es sich für Historien-Dokumentationen gehört – tatsächlich schon mal anderswo zu sehen gewesen:

Der AutorChristian Bartels

"Dieses wütende Gesicht von Cäsar unter seinem Helm, das war doch schon mal zu sehen. Wie die Osmanen die Hagia Sophia stürmen, das Tor aufbrechen und die Christen niedermetzeln - auch noch erinnerlich. Ebenso die Szene, in der die nach Unabhängigkeit von Großbritannien strebenden Bostoner die Ballen mit Tee im Meer versenken."

Denn bei diesem Sechsteiler handelt es sich um "ein Glied in einer längeren TV-History-Kette", zu der außer früheren Clark-Sendungen auch die Arte-ZDF-Reihe "Ach Europa!" und wohl noch einige andere gehören. Anstatt immer wieder neu Kleindarsteller als römische Legionäre oder amerikanische Revolutionäre einzukleiden, wofür am Ende ja die Beitragszahler bezahlen müssten, griffen die Produzenten einfach in ihren Fundus und recycelten "immer wieder die selben nachgestellten Szenen." Wer ist's, der so clever spart? "Produzent ist in allen Fällen Gruppe 5, die Kölner Produktionstochter des ZDF". Und tatsächlich, die privatwirtschaftliche ZDF-Tochterfirma "ZDF Enterprises" informiert auf ihrer Webseite, dass sie sich schon 2002 an der Gruppe 5 Filmproduktion GmbH beteiligt hat. Vielleicht ist "beteiligte" für einen Anteil von inzwischen "74,9 %" ein wenig niedrig gestapelt, doch authentisch wirkt der bürokratische Sound ("Aufgrund der Durchführung der Produktion der Talkshow 'Maybrit Illner' ist die Gruppe 5 Filmproduktion außerdem Teil einer Erfolgsstory des ZDF-Informationsprogramms").

Wo allerdings nichts darüber steht, dass Gruppe 5 eine ZDF-Enkelfirma ist: im länglichen "über uns", mit dem diese selbst "noch mehr Lust auf neue Gruppe 5-Projekte!" machen möchte. Bei allen Transparenzoffensivchen gibt's im öffentlich-rechtlichen Milieu eben auch weiterhin eine Neigung zum Verschleiern.

Jenseits des Spareffekts findet Wolf Reenactment-Recycling übrigens nicht so toll:

"Was mit den Bildern freilich auch recycelt wird, ist eine bestimmte Sicht auf die Geschichte. Es ist eine Geschichte der Personen, nicht der Strukturen. Der Blick ist eindimensional auf Ereignisgeschichte gerichtet, auf Krönungen und Schlachten, auf Schlachten und Krönungen."

Insofern gäbe es einen noch clevereren Spar-Trick: die doofen Reenactments ganz wegzulassen und in "Dokus" genannten Sendungen wieder vorwiegend auf dokumentarisches Material zu setzen.

Falls Sie ein eigenes Bild von der "Europa-Saga" machen möchten, können Sie sich übrigens Zeit lassen. Die Reihe könnte womöglich als  Fernsehsendung mit der längsten Mediatheken-Verweildauer des frühen 21. Jahrhunderts selbst in die deutsche Medien-Geschichte eingehen: Sie ist "verfügbar bis 22.10.2027, 15:42".

Neues rund um Facebook

Wer in unserem "Zeitalter sich beschleunigender Medienvergesslichkeit" (noch mal Fritz Wolf) nichts vergisst: das Internet, oder zumindest die Konzerne, die darin monopolartige Infrastukturen aufgebaut haben und sie nun monetarisieren. Den tagesaktuell heftigsten Überblick gibt netzpolitik.org, indem es einen englischsprachigen Vortrag der "Techno-Soziologin" Zeynep Tufekci zusammenfasst.

Darin ging's etwa um Googles Youtube, dessen

"Autoplay-Feature immer neue Videos vorschlägt, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer möglichst lange zu binden ... Perfide an der Vorgehensweise der Algorithmen sei jedoch, dass die Vorschläge tendenziell immer ein wenig extremer als das zuvor gesehene Video seien. Wer Videos über Vegetarismus sehe, würde thematisch zum Veganismus gelotst. Das Gleiche funktioniere jedoch auch im politischen Kontext:  Wer bei einer Wahlveranstaltung für Donald Trump anfinge, käme nach  kurzer Zeit bei rassistischen Botschaften an, wer bei Hillary Clinton beginne, würde bei linken Verschwörungstheorien landen."

Wer sich fragt, was Hillary Clinton denn mit links am Hut hatte, muss es wahrscheinlich bloß googlen (oder seine Alexa fragen). Der Titel des Tufekci-Vortrags, "Wir erschaffen eine Dystopie, nur damit Leute mehr Werbung anklicken", bezieht sich jedoch auf Facebook, das unter anderem "Menschen, die kurz vor einer manischen Phase stehen" erkennt, und zwar "als besonders zugänglich für einen Ausflug nach Las Vegas".

Um Facebook kreisen auch harte tagesaktuelle News. Ob der wichtigste deutschsprachige Aktivist gegen dieses sogenannte soziale Netzwerk vorm höchsten europäischen Gericht vermutlich einen Erfolg errungen hat oder vermutlich nicht, ist umstritten. "Erfolg für den österreichischen  Datenschutz-Aktivisten Max Schrems", meldet sueddeutsche.de. "Facebook-Sammelklage in Österreich unzulässig", meldet hingegen tagesschau.de und tut so, als habe Schrems gar keinen Erfolg erzielt.

Tatsächlich gibt's aus jedem Blickwinkel "eine gute und eine schlechte Nachricht" (netzpolitik.org), zu der das "vermutlich" jedenfalls dazugehört, da aktuell bloß der Generalanwalt des EuGH, Michal Bobek, Einschätzungen bekannt gegeben hat, an die sich der Europäische Gerichtshof häufig hält, aber nicht immer. Schlecht sieht es demzufolge aus für Schrems' Idee einer grenzüberschreitenden europäischen Sammelklage gegen Facebook, besser für die, als einzelner "Verbraucher" gegen den Datenkraken klagen zu können. Dabei geht es auch um die künftig noch spannenderen Fragen wie die, ob der Firmensitz als Gerichtsstandort gilt, wie es US-amerikanische Konzerne mit Europa-Sitz im an Datenschutz kaum interessierten Irland gerne hätten. Einen Überblick über weitere laufende Klagen gibt der österreichische Standard. Auf Schrems' Portal europe-v-facebook.org gibt's ein frisches PDF-Dokument.

Ebenfalls um Facebook geht es auf der FAZ-Medienseite, auf der heute Charlie Hebdo-Chefredakteur Gérard Biard interviewt wird. Also der Chef jener französischen Satire-Zeitung, deren nahezu gesamte Redaktion im Januar 2015 von islamistischen Mördern massakriert worden war. Trauriger Anlass des heutigen Interviews ist, dass die verbal oft attackierte Redaktion derzeit erneut von derselben Seite bedroht wird, nachdem sie "den Islamologen Tariq Ramadan karikiert" hatte (vgl. FAZ-Bericht aus der vergangenen Woche; bei parismatch.com gibt's – Achtung! – die Karikatur zu sehen).

"Todesdrohungen sind der neue Status quo" lautet die Überschrift des auf Deutsch einstweilen nur kostenpflichtig verfügbaren Interviews, und "eine Mitschuld" gibt Biard

"soziale[n] Netzwerke[n] und Foren, denn sie sind Plattformen für hemmungslose Angriffe. Beleidigungen sind der neue Status quo, Einschüchterungen und Bedrohungen gelten als legitime Argumente. Man sagt nicht mehr: 'Ich bin anderer Meinung', sondern: 'Du Hurensohn, ich werde dich umbringen.' Diejenigen, die für diese Plattformen verantwortlich sind, unternehmen im Grunde nichts, um diese Gewaltaufrufe herauszufiltern. Fotos von entblößten Brüsten werden auf Facebook schneller entfernt als antisemitische Kommentare."

Insofern äußert Biard auf die Frage "Wenn Sie Mark Zuckerberg bitten könnten, etwas zu unternehmen. Was wäre das?" erst mal "Unplug Facebook, Plant Carrots!" (wie die Überschrift des auf Englisch gratis lesbaren Interviews lautet).

Rauchen für Deniz (und wer es noch schlechter hat)

Ebenfalls unvergessen, leider aus dem Grund, dass er auch nach über einem Dreivierteljahr unfreigelassen ist: Deniz Yücel. Gestern in Berlin wurden von der taz die solidarischen Autokorsos (vgl. etwa das Altpapier "Tröööt" aus dem Februar) zum "Rauchen für Deniz" variiert. Stimmungsvolle Bilder sowie solidarische Tweets (nichtsolidarische aber auch) sind auf Twitter zu sehen bzw. lesen.

Hier gibt's ein neues "Zapp"-Interview mit Dilek Mayatürk Yücel. Und vorm Korb ist überdies noch Platz, einen Wunsch zu erfüllen, den Yücel im am Montag hier ausführlich erwähnten Interview äußerte. Darin sagte er u.a.:

"Soweit mir bekannt, hat die schwierigsten Haftbedingungen der Journalist Nedim Türfent zu ertragen. Der Mitarbeiter der inzwischen per Erlass geschlossenen prokurdischen Nachrichtenagentur Diha sitzt seit 17 Monaten im Gefängnis, ein Jahr davon in Einzelhaft; lange Zeit bekam er weder Zeitungen noch Bücher. Für seinen Fall würde ich mir eine größere internationale Aufmerksamkeit wünschen. Der nächste Prozesstag ist am 17. November in Hakkari im äußersten Südosten des Landes. #FreeNedim."

Nedim Türfent ist auch auf Twitter und hat seine bislang letzten Tweets im Mai 2016 abgesetzt.

Altpapierkorb (Medien als Agenten; deutsche Serie, die keiner gut findet; langer Atem, Lagerfeld)

+++ Jetzt eine gute Nachricht: Die Deutsche Welle, der aus Bundesmitteln, also Steuern finanzierte Auslandssender, muss sich in den USA noch nicht als "foreign agent" registrieren. Das muss nur der russische Staatssender RT/ "Russia Today", weswegen womöglich bald auch die "von der US-Regierung finanzierten Auslandssender Radio Free Europe/Radio Liberty und Voice of America" sowie CNN und eben die Deutsche Welle etwas Ähnliches in Russland werden tun müssen. "In den USA beruht die Registrierung als 'ausländischer Agent' auf einem Gesetz aus dem Jahr 1938 – damit sollte etwaige Propaganda Nazideutschlands in den USA kontrolliert werden", weiß Bernd Pickert von der taz. +++ Die DW weiß auch aus Moskau noch nichts genaues und äußert sich sehr diplomatisch (Tagesspiegel). +++ "Tragisch ist indes, dass die Amerikaner den Russen mit der Einstufung von ... RT einen willkommenen Vorwand geleistet haben, die Pressefreiheit weiter einzuschränken" (SZ-Meinungsseite).

+++ "Der große sozialdemokratische Schlawiner Em Jay Eumann, bis Juli noch Medienstaatssekretär in NRW" (Altpapier neulich) soll nun tatsächlich rheinland-pfälzischer Medienwächter werden. Er sieht übrigens inzwischen deutlich, äh, reifer aus als auf dem "Klüngelmännchen"-Foto im uebermedien.de-Artikel, zeigt sein Twitter-Profil.

+++ Am Sonntag wurde Dieter Wedel, der inzwischen in Bad Hersfeld intendiert (PDF) und dessen TV-Schaffen "offenbar abgeschlossen" ist, 75. Thomas Gehringer gratulierte in epd medien dem Regisseur und Autor, indem er besonders an die Serie "Der Mann, der keine Autos mochte" erinnert, die "seit 1993 ...offenbar unangetastet im Archiv" des ZDF lagert. "Aber die Pflege des öffentlich-rechtlichen Programmguts wird ja auch auf anderen Plattformen betrieben, und so kann man sich alle sechs Folgen kostenlos auf dem Videoportal eines global operierenden Medienkonzerns anschauen."

+++Eine neue deutsche Serie, die keiner gut findet, hat das ZDF schon ins Netz gestellt: "Die Lobbyistin". "Womöglich im Bestreben, die umfassende Verderbtheit des Politikbetriebs vorzuführen, hat Autor und Regisseur Sven Nagel ('heute show') auf zu vielen Ebenen ein paar Lügen zu viel eingebaut", findet Peter Luley in einer sachlichen SPON-Besprechung. +++ "Selbst für eine deutsche Fernsehproduktion ist das arg unterkomplex", schreibt Oliver Jungen in der FAZ. +++ Da würde Meredith Haaf (Süddeutsche) beinahe widersprechen: "Dass deutsche Produktionen sehr häufig daran kranken, ihre Zuschauer unter keinen Umständen überfordern zu wollen, ist ein so langweiliger Vorwurf, dass man ihn eigentlich nicht wiederholen möchte. Vielleicht tut man ... Sven Nagel damit auch unrecht. Vielleicht ist einfach seine eigene Vorstellung von Politik und den Menschen, die sie machen, so durch und durch schlicht, dass er nicht anders kann ...". Die "heute-show" ist schließlich eine der wenigen Sendungen, die tatsächlich dazu beitragen, die Welt schlechter zu machen. +++

+++ Der deutsche Wissenschaftsverlag Springer Nature bedauert "zutiefst", dass er in China Zensur übt, übt sie aber weiter, berichtet Deutschlandfunks "@mediasres". +++

+++ Mehr internationale Facebook-Kritik auf deutsch zusammengefasst: Bei welt.de steht, was "Facebooks Ex-Präsident Sean Parker bei einer Veranstaltung des Onlinemediums 'Axios'" sagte, u.a. über die Dopamin-artige "Rückkopplungsschleife der sozialen Anerkennung". +++

+++ "ARD-Moderatorin Anja Reschke übernimmt die Theodor Herzl-Dozentur für Poetik des Journalismus 2017 am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien" (Standard) und folgt damit u.a. Antonia Rados, Alice Schwarzer sowie Heribert Prantl nach. +++ Der, also Prantl, gab auch "dem renommiertesten Journalistenpreis in der Region" Berlin-Brandenburg, "Der lange Atem", seinen Namen (Tagesspiegel). +++ Den ersten Preis gewann Irène Bluche für einen RBB-Kulturradio-Beitrag (ders.). +++

+++ "Der deutsch-französische Journalistenpreis" gebührt Karl Lagerfeld. "Dessen Jury sollte ihm – nach Alfred Grosser, Daniel Cohn-Bendit, Volker Schlöndorff – den 'Medienpreis' für prominente Vermittler verleihen und ihn mit seinen Verdiensten um die deutsch-französische Meinungsfreiheit begründen", glossiert Jürg Altwegg vorn auf dem FAZ-Feuilleton. +++

+++Die SZ-Medienseite verzerrt nicht den Wettbewerb und mun... berichtet über Gerüchte, die über Amazon-Streamingangebote gemunkelt werden, so wie über Netflix. +++ Außerdem geht's dort um den neuen Dokumentarfilm des Dokumentarfilmer-Sohns Jonas Gernstl. +++

+++ Und falls Sie nun noch Lust haben, eine ARD-Intendanten-Rede über AfD und so was zu lesen, die gleich im ersten Satz das (hoffentlich bald ehemalige) Trend-Adjektiv "abgehängt" bemüht und später eine Menge Lesefrüchte zwischen Ryan Holyday ("Trust me. I’m lying. Confessions of a Media Manipulator") und Claus Kleber ("Mehr denn je, schreibt Claus Kleber, Anchor des ZDF-'Heute-Journals'“ in seinem Essay 'Rettet die Wahrheit!', sei er davon überzeugt, 'dass es wichtig ist, im Strom der Medien einen Felsen zu haben ...'") samplet: Bei der Medienkorrespondenz gibt's eine von Jan Metzger (Radio Bremen) jetzt frei online. +++ Einen visuelleren Beitrag, der den Trend zum "offenen Hemd mit BH-Einblick" bei den viiielen Polizistinnenfiguren, die die deutsche Fernsehfiktion bevölkern, gibt's ebendort aber auch. +++

Neues Altpapier erscheint wieder am Donnerstag.