Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
MedienwissenMedienkulturMedienpolitikSuche
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 8. August 2023Huch, Skepsis

08. August 2023, 10:31 Uhr

In der großen Öffentlich-Rechtlichen-Debatte legen ein WDR-Chefredakteur und die WDR-Redaktion "Monitor" Schippen drauf. Wissen Anstalten-Chefetagen oft gar nicht, was für Qualitäten ihre Angebote besitzen? Und ist der Google-Konzern "Vorreiter des Bösen"? Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

von Christian Bartels

Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Selbstkritik und Kritiker-Kritik

Was gedruckte Zeitungen gut können: echte Debatten organisieren, in denen Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven konkret, aber ausgeruht statt emotional in Echtzeit aufeinander reagieren. In der Samstags-"FAZ"  hatte der inzwischen 82-jährige Ex-SWR-Intendant Peter Voß eine teils derbe, teils differenziertere Wutrede über jüngere Öffentlich-Rechtlichen-Aufreger gehalten. (Altpapierkorb gestern). Wozu vielleicht interessant ist, dass Voß jahrzehntelang CDU-Mitglied war und als solches Karriere machte, doch 2009 im Zuge der Brender-Affäre austrat, wie die Wikipedia weiß. Damals hatte die Merkel-CDU ihre Machtsphäre im ZDF zunächst noch kräftig ausgebaut, bevor das Bundesverfassungsgericht den Einfluss der Politik dann immerhin begrenzte.

Am heutigen Dienstag nun folgt auf der "FAZ"-Medienseite eine Erwiderung von Stefan Brandenburg. Das ist der Aktuelles-Chefredakteur des WDR, dessen Entschuldigung für den WDR-produzierten "Tagesschau" -Beitrag, in dem eine freie Produktionsassistentin wie zufällig als Passantin im "Penny"-Laden befragt wurde (Altpapierkorb vom Donnerstag), zuletzt breit zitiert wurde. Brandenburg gibt Voß an manchen Stellen recht und widerspricht an anderen energisch. Und er stellt heraus, was sich im Medienalltag seit Voß' aktiven Zeiten verändert hat:

(Anmerkung der Redaktion: bis zum 16.08.23 11:28 war in diesem Absatz zu lesen: "(...) in dem eine Reporterin wie zufällig als Passantin im 'Penny'-Laden befragt wurde (...)". Dies wurde geändert, da es sich um eine freie Produktionsassistentin gehandelt haben soll.)

"Jeder Halbsatz in der 'Tagesschau' wird heute in Echtzeit seziert. Manches, was sich früher schlicht versendet hat, beschäftigt uns heute tagelang, weil es jemand im Netz gefunden hat. Ich beklage das nicht, im Gegenteil: Ein gesundes Misstrauen der Öffentlichkeit ... macht uns wacher und professioneller und letztlich unseren Journalismus besser. Allerdings lässt sich aus einzelnen Fehlern ein Zerrbild zeichnen, zu dessen Verbreitung jemand wie Voß mit seinem Gastbeitrag und der Autorität des früheren Amtes kräftig beiträgt, wohl wissend, dass das zu seiner Zeit noch anders war."

An einer Stelle liegt Brandenburg falsch. Es war nicht "Bild", das im "Tagesschau"-Beitrag die Produktionsassistentin entdeckte, sondern der Twitter-Account @argonerd (Altpapier). An manchen Stellen  erfordert seine Argumentation Wohlwollen:

"Bei uns im WDR ist kürzlich die Aussage von Friedrich Merz 'Die Grünen sind der Hauptgegner' so geschnitten worden, dass der Nachsatz fehlte 'in dieser Bundesregierung'. Das war ein Fehler. Und die Beteiligten, denen das eine halbe Stunde vor Sendebeginn unterlaufen ist, waren kreuzunglücklich. Verstehe ich, dass das zu Misstrauen führt? Ja, vollkommen. Hat es mit Manipulation zu tun? Nein, definitiv nicht."

Klingt sympathisch emotional. Aber zumindest manche Menschen, die da zustimmen, würden wohl doch lieber von Redaktionen informiert werden, deren Mitglieder antizipieren, welche Folgen heutzutage, da ja jeder Halbsatz in Echtzeit seziert wird, selbst scheinbar kleine Kürzungen auslösen können. Wie auch immer, Brandenburgs lesenswerter Beitrag enthält viele bemerkenswerte Sätze. Z.B. noch:

"Die Penny-Geschichte wäre niemals so groß geworden, wäre nicht der Boden, auf den sie gefallen ist, so gut bereitet. Menschen halten es für möglich, dass wir in den Nachrichten eine Meinung untermischen, die unsere eigene ist."

So ist es. Und dieser Eindruck verbreitet sich, teilweise zu Unrecht, schneller weiter als dass es den Anstalten gelingt, gegenzusteuern. Wenn ihnen das bewusst ist – gut. Unterdessen sorgt die ebenfalls beim WDR angesiedelte "Monitor"-Redaktion auf der Plattform Instagram des Datenkraken Facebook mit einem "Lexikon gegen 'verharmlosende Klimasprache'" für Furore. Der weithin Öffentlich-Rechtlichen-freundliche "Tagesspiegel" schreibt:

"Statt Klimawandel sollte es nach Ansicht der Redaktion besser Klimakrise heißen. Wandel klinge zur sehr nach 'einem sanften, natürlichen Prozess'. Tatsächlich seien die Veränderungen aber heftig, gefährlich und menschengemacht. Statt von Klimaskeptikern sollte von Klimaleugnern geredet werden. Der Begriff Skeptiker würde suggerieren, dass es Nachdenken, Abwägen und Eigenständigkeit im Urteil gebe."

Auch dieser sprachpolizeiliche Denkanstoß löst bereits vieles aus, wie sich auf Twitter/X unter dem Hashtag #monitor zeigt. Sicher regt er viele von denen, die zur Finanzierung des bestausgestatteten öffentlich-rechtlichen Rundfunks der Welt, beitragen (müssen), also von fast allen in Deutschland, zum weiteren Nachdenken und Abwägen darüber, was sie daran haben, an. Ob er das Wohlwollen, das der öffentlich-rechtliche Rundfunk recht dringend benötigt, jenseits der "Monitor"-Fangemeinde erhöht, da ist, huch, Skepsis angebracht.

P.S. bzw. nochmals huch: In der am Morgen erschienenen Onlinefassung trägt Brandenburgs "FAZ"-Beitrag, anders als im Blatt, die Überschrift "Warum Skepsis hilft, Spekulation aber nicht". Dabei kommt das Wort "Skepsis" gar nicht drin vor ...

Wie wichtig und gut öffentlich-rechtlicher Rundfunk (auch) ist

Zu was Schönem: dem "Kleinen Fernsehspiel", dessen althergebrachter Name doppelt aus der Zeit gefallen ist. "Die Redaktion des Kleinen Fernsehspiels ist so alt wie das ZDF selbst - und ist auch nach 60 Jahren noch ein Garant für unkonventionelle Produktionen", lobt dwdl.de. Okay, das könnte daran liegen, dass im ZDF an mindestens 165 Stunden pro Woche Produktionen laufen, die mindestens in dem Sinne konventionell sind, dass sie beinhart formatiert sind (was sich bei unserer ARD nicht anders verhält). Genau das musste das Kleine Fernsehspiel nie sein, und muss es weiterhin nicht, sagt Redaktionsleiter Burkhard Althoff im Interview:

"Aber der Platz bietet eben auch Freiheit, etwa von Formatierung. Unsere Filme müssen nicht 88 Minuten lang sein, sondern können 40 Minuten oder drei Stunden dauern, denn gerade bei ersten Filmen ist es besonders wichtig, sie nicht in ein Format zu pressen."

Anlass ist der Start der Reihe "Shooting Stars", derentwegen das Kleine Fernsehspiel heute abend linear schon vor Mitternacht, also um 23.15 Uhr auf Sendung gehen darf. Althoff erläutert, was aus den Filmemachern, die für seine Redaktion oft Debütfilme drehen, später oft wird:

"Denken Sie an Felicitas Korn, die jüngst mit ihrem Film den Burgemeister-Preis in München gewonnen hat, oder Franziska Hoenisch, die inzwischen 'SOKO'-Folgen oder einen ' Bergdoktor' gemacht hat".

Es gibt also Brücken, die vom Kleinen Fernsehspiel zu den Krimis und Serien führen, die das ZDF-Programm im Wesentlichen ausmachen. Das ist sinnvoll, um gute Leute zu gewinnnen, und tut vielleicht sogar "SOKO"-Krimifolgen gut. Andererseits erinnert Althoff daran, dass einer der sehr wenigen international bemerkenswerten deutschen Kinofilme, "Systemsprenger", sozusagen auch ein Kleines Fernsehspiel ist. Und schließt:

"Ich wünsche mir deshalb, dass bei Produzenten, Kinoverleihern und allen, die in der Branche tätig sind, das Bewusstsein dafür wächst, wie wichtig der öffentlich-rechtliche Rundfunk für die junge Branche und das Ökosystem Medien in Deutschland ist."

Schöne Worte, die fast noch mehr als bei Produzenten, Verleihern undsoweiter in den höheren Chefetagen der Anstalten selbst Gehör verdienen würden. Denn:

"Man wird das Gefühl nicht los, dass die Verantwortlichen in den Anstalten oft nicht wissen, was für eine Qualität sie da eigentlich produzieren – und aus Unkenntnis, Rücksichtslosigkeit oder Dummheit zerschlagen sie dann, was sie haben".

Das nun schrieb Tobias Rüther in der "FAS" mit Bezug auf die Pläne des Bayerischen Rundfunks, die Kulturberichterstattung seines Radiosenders Bayern 2 umzumodeln (siehe v.a. Altpapier vom Freitag). Insbesondere lobt Rüther die von Abschaffung bedrohte Sendung "kulturWelt" ("macht vor, wie Radiofeuilleton von heute funktioniert, das auch über Generationen hinweg gehört wird. Gerade in den Debatten um Identitätspolitik hält es die Balance zwischen den Positionen, was umso wichtiger ist, je stärker Positionen sich zu verhärten drohen").

Heute in der Werktags-"FAZ" zitiert Michael Hanfeld den bayerischen Staatsminister Blume (CSU) sowie Sprecher der in Bayern mitregierenden Freien Wähler und der SPD, die die Ankündigungen der Anstalt allesamt auch kritisieren. Da es sich mit Regierungsferne in der Praxis wie mit den meisten wohlklingenden Idealen rund um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verhält – so lala – (und da der Bayerische Rundfunk in punkto Regierungsnähe medienhistorisch oft vorn dabei war), könnte das ja Hoffnung für Bayerns Kulturradio bedeuten.

Google-Kritik, die sich gewaschen hat

Kritik an Google und dem sagenhaft reichen Google-Konzern, der sich inzwischen ja Alphabet nennt, liest man manchmal. Z.B. wiederum von Hanfeld im gestern erschienenen Bericht über ein kanadisches Gesetz, das die einheimischen Pressemedien vor den Plattformkonzernen aus dem Nachbarland USA schützen soll (wobei Hanfeld außerdem das Bundeskartellamt, das als "gesetzlich vorgesehene Marktaufsicht (aus)fällt", und den "FAZ"-Verlag selber kritisiert, der sich sein Leistungsschutzrecht durch Google "für Kleingeld durch Einzelverträge" habe abkaufen lassen ... Hanfeld kritisiert ja gerne vieles auf einmal).

Grundsätzlicherer Google-Kritik begegnet man im Internet schon deshalb kaum, weil Suchmaschinenoptimierung für die Reichweite enorm wichtig ist und man das zweite "n" in diesem langen Wort auch streichen könnte. Gerade in Deutschland beherrscht eine Suchmaschine den Markt allein, eben Google. Jetzt aber mal hier unten (wo Suchmaschinen sowieso nicht mehr crawlen)! Digitalcourage e.V. macht kämpferisch aufmerksam auf eine

"grobe Ungerechtigkeit, die Google jetzt den Web-Nutzenden auf der ganzen Welt aufzuzwingen versucht. Die sogenannte 'Web Environment Integrity' (Integrität der Web-Umgebung, WEI) ist die schlimmste Aktion, die wir seit langem von Google gesehen haben",

schreibt Greg Farough von der Free Software Foundation. Mit dieser "Methode zur vollständigen und totalen Kontrolle des freien Internets" verschwinde die "Vorstellung vom Internet, ... dass es sich um eine Sammlung von mit Hyperlinks versehenen Seiten handelt, auf die von einer Vielzahl unterschiedlicher Rechner, Programme und Betriebssysteme zugegriffen werden kann". Google werde zum "Vorreiter des Bösen". Immerhin aber reiten im globalen Internet viele Böse, schreibt in einem Diskussionsstrang, der sich im Fediverse ergeben hat, Stefan Münz:

"Da wäre es mal hilfreich, nicht immer auf die 'Großen' zu schimpfen, denn genau die bräuchte es jetzt. Wenn Amazon, Wikipedia, Instagram und andere ankündigen würden, den Standard nicht zu implementieren, wäre das der beste Weg, um WEI zu Fall zu bringen."

Sie merken, es geht hier kompliziert und sehr technisch zu. Ob die von Digitalcourage empfohlene Verwendung "freier Webbrowser für ein freies Internet" wie etwa Firefox konkret viel hilft, ist umstritten. Wobei es immer sinnvoll ist, dort, wo – noch – Alternativen zu Datenkraken-Angeboten bestehen, diese zu nutzen statt Googles Dominanz durch Googlen weiter zu erhöhen. Dass die meisten Medien über solche komplexen Themen kaum berichten, dürfte jedenfalls auch damit zu tun haben, dass (infra-)strukturelle Anbiederung bei Google zu den essentiellen Reichweiten-Erfolgsrezepten gehört.

Noch mal erwähnt sei, dass gerade da ein schöner Auftrag für Öffentlich-Rechtliche läge – natürlich nicht mit Google in Konkurrenz zu treten, aber technologieneutral zu informieren und die Abhängigkeit von Datenkraken so gering wie möglich zu halten.

(Und noch ein P.S.: Der heutige "SZ"-Feuilleton-Artikel "Google stirbt" hat mit diesem Themenfeld weniger zu tun als mit dem Megathema KI: "Google, wie wir es kennen, stirbt. Die Tatwaffe: künstliche Intelligenz. Der Täter ist Google selbst", heißt es da ...).


Altpapierkorb (Kampagne gegen Ahmed Mansour, Baerbock-Effekt auf Twitter, "besser Berlusconi als RAI", trister 320. Geburtstag)

+++ Ahmad Mansour, einer der wenigen Islamismus-Kritiker, die in öffentlich-rechtlichen deutschen Medien vorkommen, sah sich im Juli einer vor allem via Twitter lancierten Kampagne einer englischen Plattform gegenüber (hier in einem wiederum Mansour-kritischen Altpapier verlinkt). Wozu heute die "SZ"-Medienseite u.a. schreibt: "Das britische Magazin hat nach SZ-Informationen rasch auf die Forderung einer Unterlassungserklärung reagiert. Man sei nicht nur zur Abgabe einer Unterlassungserklärung bereit, sondern auch dazu, die Anwaltskosten Mansours zu begleichen, man möge bitte eine Kontoverbindung nennen. Nachdem sich die Parteien bereits insoweit geeinigt hatten, übermittelte der Hamburger Anwalt des Onlinemagazins ... einen von einem Verantwortlichen der Redaktion unterschriebenen Entwurf eines Unterlassungsvertrags. Er endet mit einer Verschwiegenheitsklausel" über fünf falsch behauptete Tatsachen. Darauf will Mansour nicht eingehen. +++ Ausführlich frei online über die Sache berichtet die Berliner Redaktion der "Neuen Zürcher Zeitung". +++

+++ Twitter/X reagiert auch auf Wünsche der aktuellen deutschen Bundesregierung. Daher heißt der Account @baerbockpress nun "Außenministerin Parody Annalena Baerbock", berichtet u.v.a. heise.de. Weil er seine Followerzahl schon mehr als verdoppelt hat, erinnerte Aurelie von Blazekovic in der "SZ" an den Streisand-Effekt. +++

+++ "Besser Berlusconi als die RAI, das sind die Zeiten", berichtet epd-Korrespondentin Birgit Schönau aus Italien, wo die rechtsstehende Meloni-Regierung ihre Machtpositionen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen weiter ausbaut und neben anderen den seit Jahrzehnten von der Mafia bedrohten "Gomorrha"-Autor Roberto Saviano cancelte ("epd medien"). +++

+++ Der Bundesgerichtshof urteilte gegen das ZDF, und zwar im Falle eines der sich auch in öffentlich-rechtlichen Medien epidemisch ausbreitendenen Truecrime-Formate (dpa/ horizont.net). +++

+++ Am 8. August 1703, also vor genau 320 Jahren, wurde die "Wiener Zeitung" gegründet, die es inzwischen nurmehr als eher triste wienerzeitung.at gibt. "Journalistengewerkschaft sieht in ÖVP und Grünen 'Zerstörer der ältesten Tageszeitung der Welt'", meldet der "Standard". Da sind natürlich nicht die deutschen, sondern die österreichischen Grünen gemeint.

Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch Jenni Zylka.

Über das Altpapier