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"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 13. November 2023Doppelte Fragezeichen

13. November 2023, 10:07 Uhr

Die Welt wird überschwemmt mit gefälschten Bildern und Informationen ohne Kontext – aus dem Gaza-Krieg, aber auch aus dem Sudan. Keine Bilder sind allerdings auch keine Lösung. Wie sollen Redaktionen mit dem Material umgehen? Was sollen sie zeigen, wo sind Grenzen? Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

von Klaus Raab

Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Desinformation, Propaganda, Fakes: Das Problem ist erkannt, aber..

"Die Berichterstattung über den Gaza-Krieg stellt Nahost-Korrespondenten vor enorme Herausforderungen" (1). "Der Nahostkonflikt hat sich zum Tummelplatz von Fakenews und – auch offizieller – Propaganda entwickelt" (2). "Disinformation has flourished across a range of online platforms" (3). "Die Masse an Desinformation, die sich seit den Terrorangriffen der Hamas in Sozialen Netzwerken verbreitet, ist enorm. Das Verifizieren benötigt Zeit; das Verbreiten einer Falschmeldung nur Sekunden" (4).

Desinformation, Propaganda, dekontextualisierte Bilder und Fakes: Darum ging und geht es in diesen Tagen bei "Zapp" vom NDR, bei Meedia,de, im britischen "Guardian" und auf den Seiten des Recherchekollektivs Correctiv. Aber die oben gesetzten Links sind nur vier beinahe beliebig ausgewählte. Man könnte dutzende, international wahrscheinlich hunderte Links zu entsprechenden Beiträgen setzen, die sich aktuell mit Desinformationswellen und den Folgen beschäftigen. Das Thema ist eines für "Übermedien", für die "Süddeutsche", die "FAZ", die "New York Times", und fürs Altpapier war es in den vergangenen Wochen natürlich auch schon mehrfach eines.

Auch die afrikanische "The Continent" schrieb an diesem Wochenende – wenn auch ohne Fokus auf den Gaza-Krieg – über den Umgang mit Fakes und Propaganda: Sie wies etwa darauf hin, dass im Sudan derzeit "gefälschte Clips des gestürzten Führers Omar al-Bashir mit geklonter Stimme in den sozialen Medien geteilt" würden; und "in Sambia wurde ein gefälschtes Video verbreitet, in dem der Präsident erklärt, er werde nicht 2026 nicht mehr kandidieren wird": Wenn "afrikanische Machthaber und politische Kräfte von außerhalb des Kontinents" die Berichterstattung online schon nicht unterdrücken könnten, dann würden sie eben auf "flooding the zone" mit Fake-Informationen setzen.

Auseinandersetzungen mit Desinformation gibt es also viele, und die gute Nachricht ist: Das Problem ist international als eines anerkannt. Die nicht so gute Nachricht: Davon ist es natürlich nicht gebannt. Im Fall des Gaza-Kriegs sieht man das besonders deutlich. "Aus dem Zusammenhang gerissene Fotos und Clips sind eine gängige Form der Fehlinformation", schrieb die "New York Times" kürzlich über die kursierenden Videos, "doch Experten zufolge ist ihr Missbrauch zur Darstellung des Ausmaßes des Leids besonders ungeheuerlich".

Falsche Videos: "Es gibt zu viele davon"

Nun besuchen seit Jahren schon Journalistinnen und Journalisten Schulen, um darüber zu sprechen, wie man "Fake News" erkennt und selbst identifiziert. Sie nennen in diesen Tagen Faktencheck-Tools und geben Tipps. Aber sie kommen auf die Art nicht unbedingt vor die Welle. Erstens werde der Einfluss von Information auf Meinungen tendenziell überschätzt, wie der Soziologe Nils Kumkar hier kürzlich in anderem Zusammenhang zitiert wurde: "Wer gegen Desinformation anarbeitet, schafft damit auch immer Bewusstsein für Desinformation", was aufs Konto derer einzahlt, die von Misstrauen in Medien profitieren. Und…

"auch wenn Faktenchecker das ein oder andere falsche Video aufdecken und richtig einordnen: es gibt viel zu viele davon",

wie Samira El-Ouassil in ihrer neuesten "Übermedien"-Kolumne schreibt, in der sie sich vor allem um die Kanäle TikTok und X (vormals Twitter) kümmert. "Tiktok und X belegen seit der Attacke der Hamas auf Israel, wie die Netzwerke an ihre Grenzen kommen – von der Zersetzung des Diskurses ganz zu schweigen", schreibt sie. "Tiktok ist wie ein unersättlicher Schlund für Unwahrheiten."

Wenn sich junge Menschen überdurchschnittlich viel bei TikTok über Politik informieren, werden die Botschaften der Hamas quasi normalisiert: Die Terrororganisation "nutzt dieses Chaos der Desinformation. Sie profitiert von der mangelnden Inhaltsmoderation und flutet X und Tiktok mit ihrer terroristischen Propaganda", so El-Ouassil.

(Falls sich tatsächlich immer noch jemand wundern sollte, dass hier der Begriff "Terrororganisation" für die Hamas verwendet wird, ein Begriff, den etwa die britische BBC doch anfangs für eine Weile gezielt nicht verwendet hat, dann würde ich mich einfach mal mit Nils Minkmar zurückwundern: "Was sollen die sonst sein? Ein Lesezirkel?")

Und wie sollten Redaktionen mit Bildern umgehen?

Zusammengefasst gibt es also, erstens, zu viele Bilder und Botschaften; man kommt nicht mit dem Faktenchecken und Verifizieren hinterher. Aber vielleicht, zweitens, gibt es auch zu wenige Bilder. Oder zu viele der falschen und zu wenige der wichtigen Bilder. Im Deutschlandfunk-Podcast "Nach Redaktionsschluss", der sich bis Ende des Jahres wöchentlich mit medienjournalistischen Themen rund um den Gaza-Krieg befassen will, wurde darüber diskutiert, wie Redaktionen mit zum Teil schwer erträglichen Bildern aus dem Nahen Osten umgehen sollten.

Andrej Reisin derweil widersprach bei "Übermedien" (Abo) der These, man dürfe bestimmtes Bildmaterial aus dem Krieg nicht zeigen, weil das dem Terrorismus Vorschub leiste. Konkret bezieht er sich etwa auf Georg Mascolos Argumentation aus der "Süddeutschen Zeitung" (Abo). Reisin schreibt:

"Die Behauptung, es seien Babys geköpft worden, ist zum Beispiel bis heute umstritten – insbesondere von palästinensischer Seite wird sie aus naheliegenden Gründen dementiert. Israel hält daran fest, dass es in jedem Fall Bildmaterial gebe, auf dem Entsprechendes zu sehen sei. Was ist nun Desinformation? Und was wäre, wenn Israel entsprechendes Bildmaterial veröffentlichen würde? Folgt man Georg Mascolo, müsste die EU diese Bilder zensieren, um dem Terrorismus keinen Vorschub zu leisten. Das erscheint mir absurd."

Der Text ist gut, aber schlechte Argumente hatte auch Mascolo nicht. Am besten wird es wohl sein, man liest zusätzlich zu den beiden auch die Texte, auf die Reisin verweist, also etwa den von Mascolo sowie Beiträge von Florian Klenk im "Falter" und von Malin Schulz in der "Zeit"; und die Kommentare unter Reisins Text lohnen sich auch – nicht als Korrektiv, aber als Ergänzung. Denn dass man als Journalist dem Publikum keine Informationen vorenthalten dürfe, ist ein bedenkenswertes Argument (Altpapier), aber die im ersten Kommentar unter Reisins Beitrag aufgeworfene Frage, wo man als Redaktion die Grenze zieht und vor welchen Bildern man Leserinnen und Leser schützen muss, ist auch relevant.

Die Fotografen des Hamas-Terrors – und die doppelten Fragezeichen

Der Verdacht, der hier schon am Freitag Thema gewesen ist, zieht derweil große Kreise: Wussten vier freischaffende Fotografen schon vor den Hamas-Angriffen auf Israel am 7. Oktober davon, was passieren würde? Oder warum waren sie so früh vor Ort, um Fotos zu machen, die dann die "New York Times", CNN, Reuters und Associated Press abnahmen? Das Blog "Honest Reporting", hinter dem eine NGO steckt und das als eine Art Watchblog für Berichterstattung über Israel gelesen werden kann, ist keine journalistische Quelle – aber kann eine Quelle für Journalisten sein.

Sicher ist: Es gibt Fragezeichen an den Fragezeichen, die "Honest Reporting" aufwarf. Bei der "FAZ" vom Samstag etwa, die schon ein Fragezeichen in die Überschrift nimmt ("Journalisten als Helfer des Terrors?"), oder in der "taz", in der Doris Akrap korrekt von "unbelegten Vorwürfen" schreibt. Aber:

"Wenn etwas dran ist an dem Verdacht, den die Organisation 'Honest Reporting' aufgeworfen hat, wäre es sicher eine neue Ebene der Ungeheuerlichkeiten in diesem schrecklichen Krieg",

kommentiert Harald Staun in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Er weist auf etwas hin, worauf auch Historiker Gerhard Paul in einem weiteren Deutschlandfunk-Beitrag hinwies: Fotos sind nur Ausschnitte und Inszenierungen. Staun schreibt:

"Wie nahe die Fotografen der Hamas standen, lässt sich schlecht per Ferndiagnose anhand von ein paar Selfies beurteilen. Wenn man aber zum Beispiel die Fotos sieht, die sie auch in der Vergangenheit auf ihren Social-Media-Profilen veröffentlichten, kann man kaum Zweifel daran haben, dass einige von ihnen sehr klar auf einer Seite stehen (… ) Wo da im Einzelnen die Linie zwischen einer professionellen Abgeklärtheit liegt, mit der die Bedürfnisse eines globalen Markts an Horrorbildern bedient werden, und der Überzeugung, am Ende doch mit der Hamas für eine gemeinsame 'Sache' zu kämpfen, ist schwer zu sagen."

Moritz Baumstieger, der für die "Süddeutsche" berichtet hat und dessen Text am Freitag hier als erster verlinkt war, legte zudem einen Kommentar nach, in dem es um die sich vor allem in "US-Medien aus dem ideologischen Vorfeld der Trump-Bewegung" anschließende Debatte geht, in der eine "Komplizenschaft von Medien und Terroristen" behauptet werde:

"Natürlich haben einheimische Reporter, die im Gazastreifen über lange Zeit hinweg arbeiten und das auch überleben wollen, Kontakte zur Hamas. Sie treffen deren Mitglieder und Funktionäre, bekommen im Zweifel Anrufe, sich jetzt mal besser bereitzuhalten",

schreibt er und versucht so, die Redaktionen aus der Kritik zu nehmen, die nicht jeden freien Mitarbeiter "einem Ideologiecheck unterziehen" könnten. Hinterher könnten sie das vielleicht, vorher eher nein. Dennoch wiegt der Vorwurf an die Redaktionen, sie hätten sich von der Terrororganisation Hamas in Dienst nehmen lassen, schwer. Die "New York Times" und auch die anderen Häuser wehren sich daher heftig dagegen. Dass die Medien, die die freien Fotografen beschäftigten, auch den Vorwurf zurückweisen, dass sie selbst vorher von den Anschlägen gewusst hätten, wirkt übereifrig angesichts der Tatsache, dass "Honest Reporting" ihn gar nicht erhoben hatte. Andererseits: Vielleicht kann man als Medienhaus in dieser Frage nicht zu deutlich werden.


Altpapierkorb ("Zervakis & Opdenhövel", Morgan und Murray, Coesfeld und Bertelsmann, "FilmMittwoch", Podcast-Empfehlungen)

+++ Das ProSieben-Format "Zervakis & Opdenhövel. Live" werde zum Jahresende eingestellt, hat der Sender mitgeteilt. Die Quoten! Das ist bitter, weil jeder Versuch der Privaten, journalistische Inhalte zu präsentieren und so vielleicht auch ein Publikum zu gewinnen, das keine Zeitungen im Abo hat und nicht regelmäßig Nachrichtenmagazine bei ARD und ZDF sieht, per se kein schlechter Versuch ist. Das Format, schreibt Joachim Huber im "Tagesspiegel", "litt erkennbar darunter, dass die Macher nicht genau wussten, was die Sendung wirklich sein wollte: ein eisenhartes Newsformat, eine Mischung aus ernst und albern, nachdenklich oder Spaß machen wollen, relevant oder amüsant?"

+++ Der britische Fernsehmoderator Piers Morgan, gerne als "Skandalmoderator" bezeichnet und zuletzt für den rechten Murdoch-Sender talkTV aktiv – eine Art Fox-News-Kopie –, ist "zurück", wie die "SZ" (Abo) schreibt: "zum Thema Israel". Er führte unter anderem ein Interview mit dem Publizisten Douglas Murray über die Gräueltaten der Hamas und den Krieg im Gazastreifen. Das, fasst rnd.de zusammen, "erfuhr zunächst viel Zuspruch. Auch deutsche Politiker – darunter [Gesundheitsminister Karl] Lauterbach und die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien (CDU) – teilten das Video", bevor sie sich später langatmig erklärten oder zurückruderten und ihren Tweet wieder löschten. Denn Murray ist zum einen nicht irgendein Publizist, sondern gelte "vielen als konservativer bis rechtsextremer Aktivist", jedenfalls ist er mit seiner rassistischen Islamkritik Bestsellerautor geworden. Und zum anderen lautete die Kernbotschaft, die Murray verbreitete, die Hamas sei im Grunde schlimmer als die Nazis, weil die SS immerhin "Scham" empfunden habe.

+++ Beim Bertelsmann-Konzern wird Carsten Coesfeld schon mal als nächster Vorstandschef gehandelt, jedenfalls sei er in den Vorstand berufen worden, und er bekomme ein eigenes Ressort. Investments und Financial Solutions. Das schreibt unter anderem der "Spiegel". Coesfeld ist der Enkel von Patriach Reinhard Mohn, allerdings nicht aus der Ehe mit Liz Mohn, sondern aus einer vorherigen.

+++ Apropos Familienschnurren: Am ARD-"FilmMittwoch" gibt es gewiss keine, schreibt Peer Schader in seiner dwdl.de-Kolumne:"Probieren Sie mal, die Film-Erstausstrahlungen der vergangenen Wochen hintereinander wegzuschauen, ohne dabei in die Novemberdepression abzugleiten. (…) Krankheit und Identitätsverlust, Einsamkeit und Zukunftsskepsis geistern durch die meist farbentsättigte Provinz, und jeder Film zelebriert geradezu lustvoll eine Trostlosigkeit, wie es sie in diesem Umfang sonst nirgends im deutschen Fernsehen zu sehen gibt. Alle, wirklich alle auftauchenden Charktere sind depressiv und bettlägerig, manipulativ, in sich gekehrt, einsam, dämonenbesessen oder religiös verirrt, zukunftsskeptisch, alleingelassen, hilflos oder traumatisiert. Dagegen wirkt der 'Tatort' bisweilen wie Gute-Laune-Fernsehen."

+++ Zwei Podcasts habe ich am Wochende gerne gehört, die ich gerne empfehle: Die aus verschiedenen afrikanischen Ländern, derzeit aus Nigeria berichtende Korrepondentin Bettina Rühl sprach für "quoted", den Medienpodcast der "SZ" und der Civis-Medienstiftung, mit Nils Minkmar über die Probleme der deutschen Afrikaberichterstattung.

+++ Und der langjährige Israel-Korrepondent der ARD, Richard C. Schneider, war zu Gast bei Jagoda Marinics HR-Produktion "Freiheit Deluxe" und sprach mit ihr über die Gleichzeitigkeit des Kriegs und der deutschen Diskurse und auch Fahrlässigkeiten der Medien in der Berichterstattung.

Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.