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Kolumne: Das Altpapier am 26. Januar 2024Erleichterung und Ernüchterung

26. Januar 2024, 09:53 Uhr

Eine Studie räumt den Vorwurf ab, öffentlich-rechtliche Nachrichten wären weniger vielfältig als private. Problematisch finden die Forscher vor allem die überwiegend negative Parteiendarstellung. Und der Prüfbericht im Fall Hubert Seipel liegt vor: War der NDR naiv? Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Wie ausgewogen berichtet der ÖRR?

Es liegt eine neue Studie (pdf) vor, die sich mit der Frage beschäftigt, ob journalistische Medien in Deutschland – vor allem geht es um öffentlich-rechtliche Nachrichtenformate – vielfältig und ausgewogen berichten. Das ist gut. Denn die Frage ist wohl kaum so einfach zu beantworten, wie in den vergangenen Jahren immer wieder auf der Basis taktisch herausgepickter Einzelfälle behauptet wurde.

Es handelt sich um eine quantitative inhaltsanalytische Auswertung der politischen Berichterstattung "entlang grundlegender gesellschaftlicher Konfliktlinien" in neun öffentlich-rechtlichen Medienformaten und in 38 privaten Medien. In einem Zeitraum von drei Monaten 2023 wurden mehr als 9.000 Beiträge untersucht. Die Studie stammt vom Institut für Publizistik der Uni Mainz, mitfinanziert wurde sie von der Mercator-Stiftung, der Publizistik-Professor Marcus Maurer und sein Team haben sie erstellt. (Zuletzt tauchten Maurer und zum Teil wechselnde Mitstreiter hier im Altpapier auf, als es um die Ausgewogenheit der Ukraineberichterstattung ging. Zur Ausgewogenheit der Corona-Berichterstattung und der Medienberichterstattung während der sogenannten Flüchtlingskrise arbeiteten sie auch schon.)

Eine erste Erkenntnis der neuen Ausgewogenheitsstudie lautet: Die inhaltliche Vielfalt der Politikberichterstattung ist unter dem Strich hoch, in den Öffentlich-Rechtlichen wie in den privaten Vergleichsmedien. Sie unterscheiden sich in Sachen Ausgewogenheit nicht sonderlich.

Eine zweite lautet: Die öffentlich-rechtlichen Formate berichteten insgesamt im Schnitt "weniger negativ über die aktuellen Regierungsparteien als die Vergleichsmedien". Aber das bedeutet nicht, dass sie positiv berichten würden, nur nicht ganz so negativ. "In acht der neun öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformate (einzige Ausnahme: heute.de) sowie in allen untersuchten Vergleichsmedien wurden sowohl Parteien links der Mitte als auch rechts der Mitte überwiegend negativ dargestellt", fasst Torsten Zarges bei dwdl.de zusammen.

Und eine dritte Erkenntnis lautet: Es gäbe insgesamt schon mehr Raum für marktliberale und konservative Positionen. Die meisten öffentlich-rechtlichen Nachrichten, so fasst es Sonja Zekri in der "Süddeutschen Zeitung" (Abo) zusammen, "nehmen eine eher 'sozialstaatliche' als eine 'marktliberale Grundpositionierung' ein, (…) darin den privaten Medien ähnlich."

Das klingt in dieser Kürze nun womöglich insgesamt widersprüchlich, aber ist es eigentlich nicht – man muss die grautönige Ausrufezeichenfreiheit einer Studie einfach aushalten und sie bei Vertiefungsinteresse lesen.

Darin steht zum Beispiel auch, was sie alles nicht klärt. Sie klärt zum Beispiel nicht, ob auch das Redaktionspersonal vielfältig genug ist. Und auch nicht, wie groß die Gefahr ist, eine sogenannte False Balance herzustellen, im Vergleich zu jenem Risiko, gesellschaftliche Meinungsverteilungen durch deren anteilige Abbildung zu zementieren. Und Zekris Hinweis aus der "SZ", "dass redaktionelle Entscheidungen [gemeint ist wohl: im Nachrichtenjournalismus; Altp.] mehr mit Handwerk als mit 'Grundpositionierungen' zu tun haben", ist auch nicht unwichtig: "(W)as genau sagt die Studie letztlich aus?", fragt sie – eine gute Frage schon angesichts der Tatsache, dass in den Untersuchungszeitraum der sogenannte Heizungsstreit fiel, in dem sich Redaktionen ganz besonders durch die Überhöhung von Personenstreit hervortaten (Altpapier).

Zwei Dinge stechen aber in den Deutungen hervor. Torsten Zarges hat beim Civis-Mediendialog, bei dem die Studienergebnisse am Donnerstag vorgestellt wurden, notiert, es habe "eine Mischung aus Erleichterung und Ernüchterung" gegeben. Erleichterung, weil es die angeblich besonders herausstechende Vielfaltsarmut des ÖRR, die oft behauptet wird, nicht gebe. Ernüchterung dagegen, weil "die Anforderungen an den beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk höhere sein müssten als an private, gewinnorientierte Medien – auch und gerade, wenn es um die Perspektivenvielfalt geht". Also: Die Öffentlich-Rechtlichen müssten womöglich, je nach Definition von Ausgewogenheit, nicht nur genauso vielfältig, sondern vielfältiger sein als der restliche Markt.

Der zweite Punkt ist der erwähnte mediale Negativismus, den die Forscher herausgearbeitet haben. Studienleiter Maurer sieht gar eine "bedenkliche Tendenz". dwdl.de zitiert ihn: "'Natürlich haben Medien auch eine Kontrollfunktion', so Maurer. 'Wenn sie ihre Berichterstattung aber auf Probleme beschränken, ohne über Lösungen zu berichten, kann das selbst zum Problem werden, weil dadurch das Vertrauen in die etablierten Parteien sinkt.'" Also, so führt epd Medien sinngemäß quasi den Gedanken weiter: Die AfD kommt zwar seltener in Medien vor als die Union und die Regierungsparteien, aber könnte davon profitieren, dass diesen in der Berichterstattung Kompetenz abgesprochen wird. Weil die AfD sich auch von einer "Inkompetenzunterstellung" (Armin Nassen neulich bei "Caren Miosga") nährt.

Hier knüpft eine der größeren Aufgaben an, vor denen der Politikjournalismus steht: Er muss kritisch sein. Aber nicht aus Prinzip, nicht weil man halt mal gelernt hat, dass man als Journalist der Macht immer auf die Finger zu klopfen hat, selbst wenn sie nur zur Tasse Kaffee greift. Sondern im Bewusstsein der größeren Kontexte, mit denen die tagesaktuelle Themenagenda verknüpft ist. Harald Staun hat es in der "FAS" einmal so formuliert: Der Nachrichtenjournalismus halte "Aktualität und Nähe" auch in einem Bereich wie der Klimaberichterstattung für die Leitwährung, obwohl "Perspektive und Kontext" viel relevanter wären.

Der Fall Seipel und die Frage: "War der NDR schlicht zu naiv?"

Im Fall Seipel gibt es Neues. Es geht um die Arbeiten des Filmemachers und Autors Hubert Seipel über Russland und Wladimir Putin, für die er, wie berichtet wurde, einen sechsstelligen Betrag aus Russland erhalten hat (Altpapier), für ein Buchprojekt, wohl nicht für Filme. Wie am Dienstag auch hier angekündigt, hat der NDR nun seinen Prüfbericht vorgelegt. Es geht darin um die Vorgänge rund um die Beauftragung und Umsetzung von Seipels Filmen.

Es gibt zwei Perspektiven. Zum einen die des NDR. Das NDR-Medienmagazin "Zapp" schreibt bei X im Rahmen eines Threads: "Die zentrale Botschaft, die der NDR meldet: Die russischen Zahlungen an Seipel waren im Sender nicht bekannt."

Bei ndr.de (wo am Ende der Prüfbericht verlinkt ist) heißt es:

"Der Bericht des ehemaligen Spiegel-Chefredakteurs Steffen Klusmann bestätigt ein Fehlverhalten des freien Autors. Hubert Seipel hätte gegenüber dem NDR Geldzahlungen eines russischen Oligarchen offenlegen müssen. Mit Blick auf den NDR und die ARD gab es keine Hinweise darauf, dass an der Produktion Beteiligte von den russischen Zahlungen gewusst oder sogar davon finanziell profitiert haben."

Das ist das eine Ergebnis der Prüfung, das "bei den Verantwortlichen des NDR wahrscheinlich erst mal zu tiefem Aufatmen geführt haben dürfte", wie der an der Enthüllung beteiligte "Spiegel" spitz anmerkt. Spitz, weil er einen anderen Aspekt der Prüfung priorisiert: den journalistischen.

"Auf 32 Seiten folgt die schonungslose Beschreibung einer Sendeanstalt, die so berauscht von den exklusiven Zugängen eines eitlen und mit Diva-Allüren auftretenden Starautors gewesen sei, dass journalistischen Standards konsequent ignoriert wurden. War der NDR schlicht zu naiv? Das Kapitel, das sich dieser Frage widmet, ist mit den Worten 'Im Rausch der Scoops' überschrieben. Innerhalb des Senders habe es damals trotz der auffälligen Verklärung Putins in Seipels Filmen keine kontroversen Diskussionen gegeben. 'Dass sie zu positiv bzw. zu unkritisch seien, habe niemand beanstandet, sagen Beteiligte, man habe den Putin-gewogenen Ansatz unter der gewünschten Meinungspluralität verbucht.'"

Damit allerdings, mit dem Meinungsvielfalts-Argument, räume ein zweites Gutachten auf (ebenfalls bei ndr.de am Ende verlinkt), das die Frage behandelt, ob und welche Kreml-Narrative in Seipels Filmen "übernommen wurden und wo gegebenenfalls Kontext und Einordnung fehlen". Gesine Dornblüth, die von 2012 bis 2017 Moskau-Korrespondentin für das Deutschlandradio war, hat das geprüft und wird im "Spiegel" zitiert:

"'Seipel lässt nicht nur weg', sagt sie, sondern er habe bereits in seinen Fragen die verzerrten oder schlicht gelogenen Darstellungen des Kreml einfach wiedergegeben. 'In seinen Filmen und Interviews hat er Positionen Putins und der russischen Machteliten übernommen, ohne diese kritisch zu hinterfragen – und das, obwohl die Informationen für eine kritische Einordnung vor der Veröffentlichung des jeweiligen Films verfügbar waren. Besonders heikel wurden diese Filme dadurch, dass der Kreml sie ausführlich zur Selbstbespiegelung genutzt hat.’"

Der Hinweis des "Spiegels", auch er und andere Redaktionen hätten Seipel einst gerne als Experten befragt, ist fair. "Einer Auswertung zufolge zählte Seipel zwischen Dezember 2013 (kurz vor dem ersten Krieg) und Februar 2022 zu den Top Ten der Gäste in den Russland-Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens", heißt es im Klusmann-Prüfbericht. "Nicht nur der NDR, auch andere Medien und Jurys von Medienpreisen (Seipel hat sowohl den Grimme-Preis wie den Deutschen Fernsehpreis gewonnen), hätten ihm zu wenig 'notwendige Skepsis' entgegengebracht", zitiert Christian Meier in der "Welt".

Einen Umgang mit dem Fall finden muss allerdings in erster Linie der NDR. "Wenig überraschend wird es nach Abschluss der Untersuchung weder personelle noch strukturelle Konsequenzen geben", so der "Spiegel". Was im Prüfbericht empfohlen wird, ist unter anderem eine Clearingstelle, die Hinweise auf Auffälligkeiten in der Berichterstattung prüft, und eine "gesunde Form des Argwohns". Zudem könne es, wohl mit Blick auf das Zusammenspiel von Korrespondenten und anderen Autoren, "nicht schaden, (…) die Grenze zu ziehen, ab der Fachkompetenz Haltung oder Gesinnung sticht".

Auch die "SZ" (Abo) und die "FAZ" berichten.


Altpapierkorb (Grüne "Welt", Pressekonzentration, "Sports Illustrated", Krise linker Medien, Jessy Wellmer)

+++ In der "Welt" erklärt Frederik Schindler, warum die rechtsextreme Parole "Deutschland den Deutschen", deren Gebrauch AfD-Mann Bernd Baumann in der ARD verteidigt hat, rechtsextrem ist. Dieser Artikel, schreibt Stefan Niggemeier bei "Übermedien", "hat bei 'Welt'-Abonnenten viel Empörung ausgelöst. Allerdings nicht über die Parole und ihre Verteidigung durch Bernd Baumann, den parlamentarischen Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion. Sondern darüber, dass man ja wohl anscheinend gar nichts mehr sagen dürfe, als Deutscher in Deutschland. Und darüber, dass die 'Welt' immer nur böse über die AfD schreibe und nie zum Beispiel mal über die Grünen, was ein bemerkenswert bizarrer Vorwurf ist." Indeed. "Die Leserinnen und Leser, die die 'Welt' so anzieht, feiern zwar die laute Wut gegen alles, was vermeintlich 'woke' oder 'Elfenbeinturm' oder 'Lauch' ist. Aber sie danken es ihr ausweislich der Kommentarspalte nicht: Sobald die AfD kritisiert wird, werfen sie die 'Welt' in einen Topf mit all den anderen Medien, von denen sich [Chefredakteur Ulf] Poschardt so sehr abzusetzen versucht. (…) Die Strategie des Wutleser-Fischens scheint nicht nur gefährlich zu sein, sondern auch wenig nachhaltig."

+++ Ellen Nebel wundert sich in epd Medien über "PR-Botschaften" von Verlagen, die die Pressekonzentration vorantreiben und mit Synergien argumentieren.

+++ Die "taz" verabschiedet vorbeugend "Sports Illustrated", deren Ende sich schon mit dem Verkauf an die Meredith-Gruppe der rechts-konservativen Koch-Brüder angedeutet hätte, und ihren literarischen Sportjournalismus: "Am vergangenen Freitag entließ Sports Illustrated einen Großteil seiner Belegschaft, einige dürfen vorerst noch 90 Tage bleiben. Sowohl die Print- als auch die Onlinepublikation würden weitergeführt, hieß es, doch Urgestein [Ex-Redakteur John; Altp] Walters weiß, dass das nicht mehr lange weitergehen wird."

+++ In der Schweizer "WOZ" wird die Krise linker Medien kommentiert, von "Missy" bis nun "konkret".

+++ Und ein Interview mit "Tagesthemen"-Moderatorin Jessy Wellmer steht online beim "Spiegel".

Am Montag schreibt das Altpapier René Martens. Schönes Wochenende!