Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
MedienwissenMedienkulturMedienpolitikSuche

Das Altpapier am 6. März 2018Jetzt wird alles schneller und besser.

Was man ARD und ZDF nicht vorwerfen kann: zu wenig über Diesel zu talken und die frisch designierte Digitalstaatsministerin Dorothee Bär zu selten zu interviewen. Andere Vorwürfe gibt es natürlich, aber auch eine schöne Vision von einem europäischen Rundfunks-Gesellschaftsvertrag. Frisches Graubrot wird ab heute wieder in den Rundfunkbeitrags-Diskussionen gekaut. Außerdem: Was macht eigentlich das "Morning Briefing"? Ein Altpapier von Christian Bartels.

Für wahre, äh, Influencer beginnt die neue Woche immer nach dem "Tatort", wenn Anne Will mit klug gewählten Themen und stets den besten zur Verfügung stehenden Gästen die Diskussions-Agenda der nächsten Tage vorwegnimmt. Üblicherweise wird freitags rechtzeitig vor Büroschluss bekanntgegeben, wer denn zum Wochenende-Ende worüber reden wird. Am vergangenen Freitag aber machte Deutschlands meistgeguckte Talkerin es besonders spannend, so "als erwarte das Publikum eine besondere, politische Überraschung". Zunächst mit Recht, findet Caroline Fetscher vom Tagesspiegel: "SPD-Votum, Italien-Wahl, Schweiz-Abstimmung" – so viele tagessaktuell Spannendes wie am vergangenen Sonntag steht schließlich selten zur Auswahl. Und umso größer dann die Überraschung:

"Bei Anne Will diskutierte man am Sonntag über die Diesel-Frage. Wirklich? Tatsächlich? Kann die Ankündigung stimmen? ... Aber auch der Anruf beim Sender am Sonntagnachmittag hatte nichts anderes ergeben. Ja, das Thema sei Diesel: 'Das liegt doch nah!'"

Tatsächlich lag Diesel-Getalkeim beitragsfinanzierten deutschen Fernsehen am Sonntagabend exakt 71-einhalb-Stunden nah: Vor der ARD-Sonntags-Talkshow war das Thema zuletzt in der ZDF-Donnerstags-Talkshow durchgenommen worden.

Der AutorChristian Bartels

Wenn man so will, hat Anne Wills Redaktion selbstlos mit Leben gefüllt, was der amtierende ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm in seinem wohl größten Power-Interview zur schweizerischen Volksabstimmung, dem mit "Tagesschau24", Bedenkenswertes gesagt hat (gleich nach den etwas schwachbrüstigen, von meedia.de dennoch herausgepickten Sätzen "Wir müssen in einen Dialog mit dem Publikum, mit der ganzen Gesellschaft treten"):

"... Wir müssen aber auch offen für Kritik sein, für berechtigte Anliegen aus der Gesellschaft und auch immer wieder bereit sein, uns selbst zu überprüfen. Also ob die Angebotspalette schon umfassend genug ist oder ob von bestimmten Dingen vielleicht nicht zu viel vorhanden ist und wir auf andere Dinge besser reagieren sollten."

Sendungs-Besprechungen in Onlinemedien gab es natürlich dennoch – das Talkshow-Kritiken-Business ist schließlich eine der schönsten öffentlich-rechtlich-privaten Partnerschaften –, und nicht alle schrieben von "verschleuderter Sendezeit am Sonntagabend" (wie es am Schluss der sueddeutsche.de-Besprechung heißt).


Yo Billag-Nachhall

Mit dem Wilhelm-Interview waren wir schon eingestiegen in eines der beiden Top-Themen dieses Dienstags: weiteren No-No-Billag-Nachhall (siehe v.a. auch Sonder-Altpapier vom Montag). Daran herrscht weiterhin kein Mangel, er geht bloß unmerklich in gewohnte deutschen Rundfunkbeitrags-Diskussionen über.

Alle bekannten, äh, Narrative sind vertreten, vom einfach schönen "Triumph der Argumente" "über die Ideologen" (Charlotte Theile heute auf der SZ-Meinungsseite: "Viel mehr kann man sich von einer politischen Debatte nicht wünschen") bis zu "Die Bürger ... akzeptieren nicht länger mehr als das medienpolitische Modell des Senders und Empfängers. Sie verlangen mehr Mitspracherechte, schlichtweg mehr Demokratie" ("Medienkommissar" Siebenhaar im Handelsblatt).

Eine leicht überraschende Position ungefähr in der Mitte:

"... den Fall zu den Akten legen – und weitermachen wie bisher ... das sollte niemand. ... Denn die NoBillag-Initiative hat mit dem Finger auf Probleme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gezeigt, die hie wie da existieren: ARD, ZDF und Deutschlandfunk sind ineffiziente, schwerfällige Firmen. Wer bei acht Milliarden Euro Einnahmen jammert, dass zu wenig Geld da sei, sollte erst einmal bei Sportrechten und Promi-Quiz-Sendungen mit ­Eckart von Hirschhausen sparen, bevor er oder sie wieder ankommt und höhere Beiträge fordert."

Das überrascht deshalb leicht, weil Jürn Kruse es in der Öffentlich-Rechtlichen-freundlichen taz schreibt. (Wobei Programmstrategen natürlich einwenden würden, dass sich Promi-Quizshows immer noch preiswerter pro Sendeminute herstellen lassen als Donnerstags- und Samstags-Krimis, und überdies als was mit Bildung abhaken lassen, sofern die  Quizmaster ab und zu naturwissenschaftliche Fragen stellen ...).

Michael Hanfeld schließlich hat seine FAZ-Medienseite zu einer beinahe monothematischen Themenseite umgemodelt, mit insgesamt drei Artikeln. Erstens leitet Hanfeld selbst vom Überblick über das "Stimmenkonzert auf den öffentlich-rechtlichen Kanälen in eigener Sache" ("das von abwägend-räsonierend reichte, wie beim Intendanten des Deutschlandradios, bis hin zu Schulterklopfen nach dem Motto 'Wir sind so schön, wir sind so toll, wir retten die Demokratie'") rasch in zum aktuellen Kampfplatz der deutschen Rundfunkpolitik über, der Presseähnlichkeits-Telemedien-Frage, die ab heute wieder verhandelt werden soll.

Zweitens (Blendle) gibt der Schweizer Jürg Altwegg einen Überblick übers Schweizer Stimmenkonzert: "Kaum scheitert das 'No Billag'-Votum, ist der Schweizer Rundfunk wieder obenauf" (und zumindest klingt z.B. das "Rückblickend betrachtet, war das eine Riesenchance für uns"-Interview, das "@mediasres"  mit der Chefin des rätoromanischen Funkhauses führte, Ladina Heimgartner, ein bisschen so, als sei so eine Volksabstimmung einfach ein geiler Kick, den ARD und ZDF sich ruhig auch mal geben sollten ...)

Weil Binnenpluralismus aber ebenfalls zur FAZ-DNS gehört, druckt das Blatt dann noch eine sympathische Rede der RBB-Intendantin Patricia Schlesinger (Blendle), einen "Vorschlag für einen europäischen Gesellschaftsvertrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks", der schön klingt, gute Gedanken enthält ("Europa kann stolz sein auf diese Rundfunkidee – auch als Gegenmodell zur Beliebigkeit aus dem Silicon Valley") und manchmal gar macron-esk anmutet ("Warum nicht eine europäische Plattform der Öffentlich-Rechtlichen, auf denen europäische Produktionen für alle Menschen Europas zugänglich wären?..."). Ob die Europäische Rundfunkunion, "ein Zusammenschluss von zurzeit 73 Sendern in 56 Staaten", in diesem Sinne wenigstens so handlungsfähig wäre wie die Europäische Union, und ob am Ende nicht die reichen Sender den armen etwas abgeben müssten, braucht sicher nicht überlegt zu werden, solange mindestens 37 Sender mit im Boot wären ...


"Einige Ostländer" gegen ca. 1,70 € Erhöhung

Jetzt aber in den grauen Alltag, der rundfunkpolitisch seit Monaten und für weitere Monate im Ringen um die Brötchen besteht, die ARD und ZDF ab 2021 zusätzlich bräuchten (siehe zuletzt dieses Altpapier). Tagesaktuell übers heutige Treffen von Intendanten und Rundfunkländerkommission, "um über Sparmaßnahmen sowie mögliche Veränderungen am Auftrag zu beraten", informiert Claudia Tieschky bei sueddeutsche.de, und zwar um auf ihr frisch geführtes Interview mit Heinz Fischer-Heidlberger, dem Vorsitzenden der Finanzbedarfs-Ermittlungs-Kommission, gespannt zu machen. Das gibt's hier und hier (jeweils Bezahlartikel). Tieschky leitet von der No-Billag-Abstimmung mit "Die deutsche Krise dürfte erst noch kommen" ins Inland über, Fischer-Heidlberger schildert dann beredt diverse Dilemmata. Das größte läuft daraus hinaus, dass die Anstalten, wenn sie nicht weniger Programme anbieten als bisher, im nächsten Jahrzehnt "ungefähr 1,70 Euro mehr Beitrag pro Monat" bräuchten, die "einige Ostländer" (womit Fischer-Heidlberger natürlich deutsche Bundesländer, insbesondere im Sendegebiet des MDR meint) aber nicht bewilligen möchten ...

Dass die Schweizer unter der Voraussetzung für ihren öffentlich-rechtlichen Rundfunk stimmten, dass er für sie damnächst etwas billiger wird, während hierzulande alle Beteiligten über geringere oder größere Erhöhungen des Beitrags diskutieren, sollte bei aller Freude über den Ausgang der No-Billag-Abstimmung nicht vergessen werden.

Und einen Bundesländer-Spielbericht (€), demzufolge in der Telemedienauftrags-/ "Presseähnlichkeits"-Frage Hessen und Rheinland-Pfalz auf der einen Seite Nordrhein-Westfalen, Bayern und Schleswig-Holstein auf der anderen gegenüberstünden, bietet wiederum die FAZ in ihrem Wirtschaftsressort, natürlich im bekannten Duktus ("ARD und ZDF kriegen einfach nicht genug").


Wer alles Doro Bär begrüßt (und wer weniger)

Wo bleibt das Positive? Im Bundeskanzleramt! Glauben zumindest ziemlich viele Beobachter. Die beste Personalien-Nachricht aus der neuen Bundesregierung stand zwar schon im vergangenen September im Altpapier: Alexander Dobrindt wird sich wegen neuer Verpflichtungen nicht mehr um die Digitalisierung kümmern müssen, lautete sie. Jetzt aber bekommt Deutschland überraschend sogar doch noch erstmals eine Digitalstaats- pardon: Digital-Staatsministerin.

"Nun gibt es bald eine Staatsministerin für Digitales (CSU), wie von vielen inständig gewünscht. Jetzt wird alles schneller und besser",

twitterte das Kölner Institut für Medien- und Kommunikationspolitik ausgelassen (falls sich dahiner nicht auch Ironie verbirgt; die lässt sich in den sog. soz. Medien ja so schwer erkennen).

Dorothee "Doro" Bär, oberfränkische Powertwitterin, "der als Staatssekretärin seitens der Industrie eine hohe Fachkompetenz nachgesagt wurde, deren Perspektive sie jedoch gern übernommen hat" (netzpolitik.org), die "langjährige Kämpferin für die Anerkennung von Computerspielen als förderwürdigem Kultur- und Wirtschaftsgut", die "auch wiederholt die Vorratsdatenspeicherung kritisiert hat" (Stefan Krempl, heise.de), die "Ex-B.Z.-Praktikantin" (Springers B.Z.), wird ziemlich überall freundlich begrüßt. Und wurde in bester Diesel-Talkshow-Tradition gestern abend sowohl im ZDF-"heute-journal" als auch in den ARD-"Tagesthemen" interviewt.

Mag es auch sein, dass Bär weniger Gestaltungskompetenzen haben wird als Peter-Altmaier-Nachfolger Helge Braun (welt.de) und ihr neu geschaffener, in den laangen Koalitionssondierungen wohl noch gar nicht vorgesehener Posten vor allem geschaffen wurde, um Zuständigkeits-Streitigkeiten zwischen den Ministerien für Landwirtschaftsministerium und für Heimat, die manche in der neuen Regierung wahrscheinlich für insgesamt wichtiger halten, zu lösen (SPON):

"... und doch: es ist klug, eine solche Stelle einzurichten. Denn in der Digitalpolitik mit all ihren verschiedenen Zweigen, mit ihren Querschnitten über die Ressortgrenzen hinweg, ist Koordinierung in der Vergangenheit eines der Hauptprobleme gewesen",

kommentiert Falk Steiner im Deutschlandfunk, um schließlich wieder auf Dobrindt zu sprechen zu kommen:

"Anspruchsloser im Inhalt und schlechter in der Umsetzung als in der vergangenen Legislatur kann die Digitalpolitik kaum werden."

Niemand also, der Doro Bär kritisiert? Doch! Im Handelsblatt'schen "Morning Briefing", in dem sich inzwischen Chefredakteur Sven Afhüppe begreiflicherweise bemüht, jene Provokanz eher zu vermeiden, die Gabor Steingart womöglich seine Posten kostete (Altpapier), ist heute der "Senior Editor" sowie Ex-SZ-Medienseiten-Macher Hans-Jürgen Jakobs dran. Und der nennt Bär eine "Regierungs-Marketenderin"

"auf einem Zierposten ohne Geld, aber mit PR-Wirkung, der ihren zahlreichen Tweets offiziöse Wucht verleiht"!


Altpapierkorb (#FreeThemAll, Polizei auf Twitter, Twitter & AfD, AfD & Internet, Achim Bergmann)

+++ Weiterhin unbedingt gelesen zu werden verdienen die Beiträge der Welt-Reihe "#FreeThemAll". Am Montag ging es um Ilham Tohti, einen "ethnischen Uiguren, der an der Pekinger Nationalitätenuniversität lehrte" und vor Gericht noch sagte: "Ich nehme das Urteil nicht an. Ich protestiere!", bevor er 2014 für immer, wie das chinesische Urteil lautete, in Gefängnissen verschwand. +++

+++ "Die Polizei genießt hohes Vertrauen, nicht nur bei vielen Bürgern, sondern auch bei Journalisten. Letztere übernehmen nicht nur Pressemitteilungen, sondern auch Tweets oftmals ungeprüft in ihre Artikel und vervielfältigen sie". Dabei stimmt gar nicht immer, was drin steht. Darüber schreibt Markus Reuter bei netzpolitik.org. +++

Wo andererseits im Interview Thomas-Gabriel Rüdiger von der Polizeifachhochschule in Brandenburg diese digitale "Sichtbarkeit der Polizei" als Zeichen dafür interpretiert, "dass das Gewaltmonopol greift", und sich mehr "digitale Streifenfahrten" wünscht. +++

+++ Ob Twitter überhaupt so etwas wie eine deutsche Redaktion hat, ist unbekannt. Dass dieses Netzwerk auf der Startseite, die es uneingeloggten Nutzern anzeigte, überdurchschnittlich viele AfD-Tweets anzeigte, vermutet bei t3n.de Brian Melican. Dass Powertwitterin @SteinbachErika "zwischen dem 1. Januar und dem 28. Februar an neun von 21 Tagen, an denen die Rubrik 'Mitglieder des Bundestages' beim Abruf der aktiven Homepage sichtbar war", darin auftauchte, obwohl sie seit September 2017 dem Bundestag weder angehört noch so tut, ist wirklich merkwürdig. +++

+++ Nach der Internetadresse wir-sind-afd.de will die AfD auch die (ebenfalls von AfD-Kritikern betriebene) Adresse afd-im-bundestag.de für sich einklagen, berichtet Matthias Meisner im Tagesspiegel.+++

+++ Mit Sympathieträgern der Bankenwelt wie JP Morgan erwägt Amazon, eigene Girokonten anzubieten. Damit könnte der Datenkrake "seinen ohnehin schon enormen Datenschatz vergrößern und zum Beispiel Information über das Einkommen seiner Kunden bekommen" (faz.net). +++

+++ Bei der Suizid-Präventionsei "die Wortwahl in Nachrichten ... entscheidend", hat das Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Münchener LMU herausgefunden. Das Wort "Suizid" eigne sich zum Berichten am besten (idw-online.de). +++

+++ Ein österreichischer Journalist wurde angezeigt, weil er sich in Deutschland gegenüber einem Angehörigen eines Mordopfers telefonisch als Kriminalpolizist ausgegeben habe (Standard). +++

+++ "Warum laufen eigentlich alle Talkshows im Dritten gleichzeitig am Freitagabend? Diese Frage soll ich Ihnen noch von meiner Oma weiterreichen, die sich darüber regelmäßig aufregt, weil man ja nicht alle gleichzeitig gucken kann": Da interviewt Thomas Lückerath bei dwdl.de den WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn.

+++ Und Thomas Schmid, der zeitweise Chefredakteur der Welt war, war noch früher ein Linker und schrieb für seine Zeitung nun einen Nachruf auf Achim Bergmann, den Gründer des Trikont-Verlags, in den (den Nachruf) er szenisch mit einer Autofahrt nach Fresenhagen einsteigt. Inzwischen firmiert Trikont übrigens als "das wahrscheinlich älteste Indielabel der Welt". +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.