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Das Altpapier am 7. Mai 2018Tausend Mücken

War die Ellwangen-Berichterstattung teilweise angetrieben von einer gewissen Bürgerkriegslust? Warum sind Journalisten willens, die Pressemitteilungen von Pharma-Konzernen und Chemieunternehmen nachzurecherchieren, die der Polizei aber nicht? Bietet die aktuelle WDR-Affäre die Chance, die „zerstörerischen“ Hierarchien der öffentlich-rechtlichen Sender zu reformieren? Ein Altpapier von René Martens.

Der AutorRené Martens

Dementi haben manchmal einen unfreiwillig komischen Anstrich. Das lässt sich - ohne damit eine Einschätzung zum Wahrheitsgehalt abzugeben - auch für folgendes sagen, das sich im aktuellen Spiegel findet:

„Henke bestreitet die Vorwürfe. Er habe nie einer Schauspielerin viermal die Hand auf den Oberschenkel gelegt, lässt er durch seinen Anwalt ausrichten (…)“

Die Passage stammt aus einem (inklusive Fotos) vierseitigen Artikel (€) von Laura Backes, Lars-Olav Beier und Ann-Kathrin Müller. Es ist ein neuer großer Mosaikstein in der Geschichte um Übergriffs-Vorwürfe gegen hochrangige WDR-Mitarbeiter. Im Vorspann steht folgende Frage:

„Hat Gebhard Henke … seine Macht missbraucht, indem er Schauspielerinnen und Regisseurinnen sexuell belästigte?“

Hintergrund: In zwei Fällen sind die Schilderungen der Übergriffe verbunden mit dem Vorwurf, dass sie berufliche Nachteile erlitten hätten, weil sie sich Henkes Avancen entzogen hätten. Geäußert haben sich sechs mutmaßliche Opfer, vier davon wollten ihren Namen nicht im Spiegel gedruckt sehen. Dass Henke „seinen Namen selbst öffentlich gemacht“ habe (Altpapier), „lesen sie als Drohung. Und sie haben Sorge um ihre Karriere, ihren Ruf oder den ihrer Familie.“

Im Artikel geht es auch um Vorwürfe im Rahmen von Henkes Tätigkeit für die Kunsthochschule für Medien Köln (KHM). Der Spiegel hat mit „einer Regisseurin, die an der KHM mehrere Jahre als künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitete“, gesprochen:

„Henke habe immer wieder versucht, sie auf den Mund zu küssen, seine Hand auf ihren Bauch gelegt, nahe an ihrem Busen. Laut protestiert habe sie deshalb nie. ‚Ich hatte immer nur kurzfristige Verträge. Die Verlängerung war kompliziert und musste jedes Mal von einer Kommission genehmigt werden.‘ In dieser Kommission saß Henke. Außerdem sei klar gewesen: ‚Wenn man weiterhin in der Branche arbeiten will, sollte man sich Gebhard Henke nicht zum Feind machen.‘“

Dieser Abschnitt enthält die imho zentrale Passage:

„Es gehe um eine feine Grenze, die man selbst in der Situation als unangenehmen Übergriff wahrnehme, aber aus eine Mücke keinen Elefanten machen wolle, sagt die Frau heute. ‚Die Wahrheit ist: Man kann auch von tausend Mücken in den Wahnsinn getrieben werden.‘“

Um noch einmal auf Henkes Sichtweise einzugehen: Zweimal zitiert ihn der Spiegel mit der Formulierung, die Vorwürfe der mutmaßlichen Opfer seien „frei erfunden“.

Bezug auf die aktuelle Spiegel-Geschichte nimmt auch Harald Staun in der FAS-Rubrik „Die lieben Kollegen“ (derzeit nicht frei online) - und zeigt sich in dem Zusammenhang irritiert über den Ende der vergangenen Woche von 16 Film- und Fernsehfrauen unterschriebenen Offenen Pro-Henke-Brief (Altpapier):

„(Es) verwundert, warum sie ihre Solidarität bekundeten, noch bevor überhaupt die konkreten Vorwürfe bekannt waren. ‚Wir können und wollen (...) nur für uns und über unsere Erfahrungen sprechen‘, schreiben sie in dem Brief, als würde es anderen Frauen helfen, wenn sich herausstellt, dass Henke nur manchmal ein Sexist war.

Das Café, das sie „Freienstrich“ nennen

So anerkennenswert die Spiegel-Recherche ist, die nach Angaben des Autorenteams zwei Monate gedauert hat: Als instruktiveren Beitrag zum Thema empfinde ich eine Wortmeldung Sabine Rollbergs im Tagesspiegel. Die frühere Arte-Beauftragte des WDR äußert sich in der sonst manchmal bräsigen Rubrik „Zu meinem ÄRGER“. Rollberg ärgert es, dass in der aktuellen WDR-Affäre

„meist nur von den Verfehlungen einzelner die Rede ist und das System dahinter unberücksichtigt bleibt. Ein Geflecht von Macht, Kumpanei und Abhängigkeiten, von dem vor allem auch die freien Mitarbeiter*innen der Sender ein trauriges Lied singen können. ‚Freienstrich‘ nennen sie daher ein Café im Dunstkreis des WDR, wo es um die Gunst der Festangestellten geht. Es geht also nicht nur um Männer, es geht um Hierarchien, die ihre Macht missbrauchen, und um Strukturen, die das zulassen. Metoo birgt die Chance zu einer grundlegenden Reform der zerstörerischen Hierarchisierung der Sender. Diese Machtfülle und die Ohnmacht der Kreativen sind für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gefährlicher als jede AfD-Kritik.“

Rollberg ordnet die aktuelle WDR-Affäre um die Vorwürfe der sexuellen Belästigung also in das Gesamtbild ein, das der Sender abgibt. Auch ich habe das zumindest versucht (in einem am Freitag hier bereits erwähnten Medienkorrespondenz-Artikel).

Was bei dem Tagesspiegel-Beitrag fehlt: der explizite Hinweis darauf, dass Rollberg selbst ein Hierarchieopfer ist (siehe dieses und dieses Altpapier).

Der Gedanke, die „Machtfülle“ der Hierarchen „und die Ohnmacht der Kreativen“ seien „für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gefährlicher als jede AfD-Kritik“, verdient eine nähere Betrachtung. Wäre das größte Problem der Öffentlich-Rechtlichen tatsächlich gelöst, wenn in den Sendern die, jetzt mal bewusst plakativ bis naiv formuliert, die Kreativen (wieder?) die Macht übernähmen, und die nur auf Machterhalt bedachten Pöstchenjäger nichts mehr zu melden hätten?

Vor ein paar Jahren hätte ich bei der Beantwortung dieser Frage noch zu einem Ja tendiert. Ob jene, die heute, um Rollbergs Formulierung aufzugreifen, für die „Kritik“ der AfD an den Öffentlich-Rechtlichen empfänglich sind, etwas anfangen könnten mit dem unter den skizzierten Verhältnissen entstehenden (besserem) Programm? Wohl eher nich, und daran tragen - ich riskiere jetzt mal ein, zwei Gedankensprünge - die Öffentlich-Rechtlichen mindestens eine Mitschuld. Wer heute das Anti-ARD/ZDF-Lied der AfD singt, ist in der Regel durch die etablierten Medien sozialisiert worden. Es stellt sich also unter anderem die Frage, warum diese nicht in der Lage waren, ihren (einstigen) Zuschauern ausreichend Medienkompetenz zu vermitteln und ihren Bildungsauftrag zu erfüllen.

Panischer Gleichklang

Was wäre noch nachzutragen in Sachen Ellwangen-Berichterstattung? (siehe Altpapier von Freitag). Georg Diez ordnet sie in seiner Spiegel-Online-Kolumne in einen größeren Zusammenhang ein:

„Die Rechten, das ist deutlich, haben den Vorteil, dass sie die Widersprüche der Gegenwart reduzieren können und klare Parolen formulieren: Deutschland den Deutschen etwa, heute etwas sarrazinesker verpackt. Oder: Merkel, die Muslime, die Medien sind an allem Schuld. Vor allem aber: Flüchtlinge, Flüchtlinge, Flüchtlinge. Die Art und Weise der Berichterstattung über den Polizeieinsatz in der Flüchtlingsunterkunft in Ellwangen zeigt dabei, wie wirkungsvoll diese Methode ist: Im panischen Gleichklang wurde der Untergang des Rechtsstaats besungen, unterfüttert mit martialischen Bildern, die eher an Bürgerkrieg erinnerten oder erinnern sollten. Politik und Medien lassen sich seit einer ganzen Weile von rechts vor sich hertreiben, unfähig zum Atemholen, Nachdenken abgeschafft, ein Einzelfall jagt den anderen und wird zum größeren Gesamtbild verdichtet, zur Gefahr, zum Symptom, es ist die bekannte Eskalationsstrategie der Diskursverschiebung: Der Ausnahmezustand als Normalität.“

Stefan Gärtner geht in seinem „kritischen Sonntagsfrühstück“ für die Titanic unter anderem ein auf die „erleichterte“ (Gärtner) SZ-Seite-Eins-Schlagzeile „Polizei greift in Flüchtlingsheim durch“:

„(…) Es war wahrlich höchste Zeit! Bei Steuerhinterziehung oder Schummeldieselbau, da wird in Ruhe und neutral ermittelt, da gibt es einen Anfangsverdacht oder stellt wer Beweismaterial sicher; aber verliert einer aus dem Busch nach ein paar faulen Jahren in einer Sammelunterkunft die Beherrschung, da greifen wir durch, handelt es sich doch um einen Schlag ins Gesicht unserer Rechtstreue, weil wir nämlich kein Volk ohne rechtsfreien Raum sind und es auch nicht werden wollen.“

Panajotis Gavrilis (Deutschlandfunk) meint:

Alle haben verloren. Die Medien, die voreilig berichten und Polizeimeldungen teilweise nicht hinterfragen. Die Politikerinnen und Politiker, die diesen Fall dankbar aufnehmen, um Stimmung zu machen gegen die, die sie eh nie haben wollten. Und die Geflüchteten, an die heute kaum noch jemand denkt.“

Dem stimme ich zu, jedenfalls zu 67 Prozent. Dass auch die, um Georg Diez zu variieren, Deutschland-den-Deutschen-Politiker, die die Vorkommnisse nutzten, „um Stimmung zu machen“, verloren haben - gern würde ich es glauben, aber ich finde dafür keine Indizien.

Das von Gavrilis kritisierte Nicht-Hinterfragen von Polizeimeldungen - immer mal wieder ein Thema im Altpapier -  greift auch Buzzfeed-Deutschland-Redakteur Marcus Engert in einem Gastkommentar für die taz auf:

Bei G20 wurden halb so viele Polizisten im Einsatz verletzt, wie behauptet. In Ellwangen konnten weder Waffen noch Gewalttäter gefunden werden. Das kam raus, weil Journalisten nicht einfach abgetippt, sondern angerufen und nachgefragt haben. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Kommunikationsteams der Polizei lügen. Aber sie betonen manches stärker, anderes nicht, lassen Dinge weg – und können natürlich auch nicht alles sehen oder hören.“

Engert wirft folgende Frage auf:

„Bei Pharma-Konzernen und Chemieunternehmen, bei Waffenschmieden und AKW-Betreibern: Würde man sich dort mit den Aussagen der Pressestelle zufrieden geben, ohne jede Rückfrage? Man würde es nicht. Warum sollte man das bei der Polizei anders halten?“

Eine Erklärungshypothese wäre, dass zu viele Journalisten im Herzen Polizisten sind. Eine andere Erklärung bietet ein mit Blick auf das Krawallblatt Krone geschriebener Beitrag des österreichischen Medienwatchblogs Kobuk!:

„Was wir in der Krone zum Thema Polizei lesen, ist kein Journalismus. Es ist die ungefilterte Position des Innenministeriums, der Polizeigewerkschaft und einer Redaktion, die von exklusiven Geschichten aus diesen Quellen lebt.

Demnach handelt es sich bei der ungeprüften Übernahme von Polizeiangaben also eher um ein strategisches Eine-Hand-wäscht-die-andere-Verhalten. Der Anlass des Kobuk!-Textes ist eher kurios: die Krone-Schlagzeile „Fast 38.000 Beamte im Dienst verletzt: Immer mehr Gewalt gegen Polizisten!“

Hans Kirchmeyr dröselt auf, dass es sich hier um eine Hochrechnung der besonderen Art handelt. Zum einen haben die Krone-Schreiber die Zahl der Gewaltopfer schon mal künstlich verdoppelt, indem sie Verletzungen mitgerechnet haben, die sich Polizisten ohne die Einwirkung Dritter zuzogen, zum anderen haben „schlicht alle verletzten Polizisten bis zurück ins Jahr 2000 (!) addiert“. Kirchmeyr meint:

„Ebenso gut hätten sie bis Metternich gehen können, aber das wäre wohl doch zu sehr aufgefallen.“

Altpapierkorb („Der größte Flop der Weltgeschichte“, konstruktiver ZDF-Journalismus, Prozess gegen Deniz Yücels Anwalt, unechte Instagram-Influencerinnen, Kotbeutel mit Frakturschrift)

+++ „Für Menschen, die wie ich unter ’N.’-Rufen mehrmals von Nazis gejagt und unzählige Male von Klassenkameraden verprügelt wurden, bedeutet so eine Sendung einen enormen Kampf, weil diese Erfahrungen immer wieder getriggert werden. Gerade die saudämlichen Rechtfertigungen erinnern mich immer wieder an unverschämte Diskussionen und Demütigungen selbst vor versammelten Leuten“ - Ali Schwarzer beschreibt für Übermedien die letztwöchige „Maischberger“-Katastrophe. „Natürlich ist eine Talkshow kein linker Lesezirkel, aber ein Minimum an Anstand darf man ja wohl verlangen“, meint er.

+++ Ebenfalls alles andere als ein linker Lesezirkel: die gestrige „Anne Will“-Sendung unter dem Titel "Wie sozial ist der Kapitalismus heute?" Die Rolle des Rüpels war dem früheren Pro-Sieben-Chef Georg Kofler zugedacht: „Wo am Ende von Marx-Seminaren an Universitäten bisweilen als eine Erkenntnis steht, dass man nicht so weit gekommen sei wie erhofft, haut Kofler einfach mal ein paar Sprüche raus: Wirtschaft nach Marx sei ‚der größte Flop der Weltgeschichte‘! Sein Werk nur relevant ‚für akademische Nostalgiker‘! Praxisgetestet nur ‚in totalitären Regimes‘!“ - das schreibt Altpapier-Autor Klaus Raab, der die Sendung für Spiegel Online gesehen hat.

+++ Was man den Öffentlich-Rechtlichen ganz gewiss nicht vorwerfen kann: Dass sie sich zu wenig neue Reportageformate ausdenken. Im vergangenen Herbst im ZDF ist zum Beispiel die Reihe „Plan B“ an den Start gegangen, die immer am frühen Samstagabend läuft. Laut Redaktionsleiter Christian Dezer ist es weltweit das erste TV-Dokumentationsformat, das sich dem konstruktiven Journalismus (siehe dieses und dieses Altpapier) verschrieben hat. Ich habe mir das Format mal über einen längeren Zeitraum für die Medienkorrespondenz angesehen.

+++ Aus der aktuellen Welt am Sonntag: Baris Altintas berichtet, Deniz Yücels Anwalt Veysel Ok stehe am Mittwoch vor Gericht, ihm drohe eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren. „Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beleidigung der Justiz vor (…) Wie Welt am Sonntag von Oks Verteidigerteam erfuhr, wurde das Verfahren gegen ihn laut Anklageschrift nach einer Beschwerde aus dem Büro von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan begonnen. Die Anklage war bereits im August 2016 eingereicht worden, das Gericht nahm sie allerdings erst mehr als ein Jahr später an, als Ok die Mandate mehrerer Journalisten übernommen hatte, die nach dem Putschversuch im Vorjahr festgenommen worden waren.“

+++ In der SZ vom Wochenende berichten Johannes Aumüller und Thomas Kistner, die im Fußball-Gangster-Milieu ermittelnde Staatsanwaltschaft Frankfurt habe sich an einen TV-Journalisten gewandt, der für einen im Januar im ZDF gesendeten Beitrag mit einem Finsterling aus eben diesem Milieu gesprochen hat, und von ihm „mögliche weitere Informationen“ verlangt, die im Film nicht vorkamen. „Garniert“, so Aumüller/Kistner weiter, habe die Behörde „ihr Schreiben mit einem brisanten Zusatz: Die wahrheitsgemäße und umfassende Beantwortung der Fragen mache die Durchsuchung von Räumlichkeiten und die Beschlagnahme von Unterlagen entbehrlich. Das ist gegenüber Journalisten ein ungewöhnlicher Hinweis. Die Staatsanwaltschaft sagt dazu, es handele sich ‚um eine allgemeine formularmäßige Belehrung bei einer schriftlichen Zeugenbefragung. Es sollte jedenfalls niemand unter Druck gesetzt werden‘“. Um diesen ZDF-Beitrag geht es.

+++ In der heutigen SZ beschreibt Michael Moorstedt in seiner „Netzkolumne“ bizarre Auswüchse des Influencer-Wesens: „Das Beispiel von zwei künstlich geschaffenen Instagram-Models, die sich gegenseitig bekriegen, zeigt, wie gefährlich es ist, wenn Influencer Politik machen wollen oder sollen. Sie sind heute wenig mehr als käufliche PR-Söldner, die sich Firmen mieten können.“

+++ Der Satz, der mich an diesem Wochenende am meisten fasziniert hat, stammt aus einer FAS-Besprechung des neuen Albums des österreichischen Nuschelrappers Yung Hurn: „Während andere singende Rapper wie Nimo, Ufo361 und Bausa, mit denen Yung Hurn schon zusammengearbeitet hat, in den letzten Monaten schamlos mit dem Schlagerhaufen gespielt haben, trennt Yung Hurn von ihnen, dem ganz großen Erfolg und dem Haufen immer noch das hauchdünne Plastik eines Kotbeutels, auf dem, in Frakturschrift, ‚Stil‘ gedruckt steht.“ Schön, dass bei der FAS ein liberales Redigier-Regime herrscht, gell?

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.