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Das Altpapier am 30. Mai 2018Geht mal aus der Sonne!

Lassen manche Journalisten anhand ihres Umgangs mit der AfD erkennen, dass sie unter dem "Stockholm-Syndrom" leiden? Kann ein Journalist gegenüber einer erklärtermaßen journalistenfeindlichen Partei unvoreingenommen sein? Was hat die Falschberichterstattung über Hitzacker angerichtet? Ein Altpapier von René Martens.

Der AutorRené Martens

In regelmäßigen Abständen wird frisch aus der medienkritischen Mottenkiste – hach, das Oxymoron ist schon ein schönes Stilmittel – die Forderung hervorgekramt, Journalisten müssten eine gewisse Neutralität wahren. Der aktuelle Remix der Debatte wurde in Gang gebracht durch eine "putzige" Äußerung des Zeit-Redakteurs Martin Machowecz im "Lieblings-Social-Network der Medienblase" (DLF-Moderatorin Brigitte Baetz).

"Ich sehe recht viele Journalisten in meiner Timeline, die gestern offenbar mehr oder weniger privat an einer Demo namens 'AfD wegbassen' teilgenommen haben. Ich finde das problematisch. Kann man denn dann am nächsten Tag wirklich wieder glaubwürdig über die #AfD schreiben?"

twitterte Machowecz am Sonntag. Im "Lieblings-Social-Network der Medienblase" bzw. im Thread unter Machowecz’ Statement fand dann auch eine ergiebige Diskussion statt, ehe sie am Dienstag zum Beispiel der Deutschlandfunk in der von der eben zitierten Baetz moderierten Sendung "@mediasres" aufgriff. Baetz sprach dort mit FR-Redakteur Hanning Voigts, der die Gegenposition zu Machowecz vertritt:

Er halte es "eigentlich für völlig unproblematisch", dass Journalisten auf Demonstrationen ihre Meinung kund tun, sagt Voigts in dem Interview, und es sagt schon einiges aus über das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein von Journalisten in diesen Zeiten, dass Voigts diese Selbstverständlichkeit überhaupt betonen muss.

Wer an einer Demonstration teilnehme, sollte aber nicht über sie berichten, sagt Voigts dann auch noch. Jein, würde ich sagen. Wenn man selbst bei einer Demonstration war, und diese plötzlich überraschend zum Berichterstattungsgegenstand wird, obwohl kaum Journalisten die Demo beobachtet haben, kann es natürlich angemessen sein, den Zur-richtigen-Zeit-am-richtigen-Ort-Status zu nutzen und korrigierend in die Berichterstattung einzugreifen. Dass man selbst eigentlich als Bürger vor Ort war und nicht beruflich, muss man dann natürlich auch schreiben.

Einige Positionen zur Frage, ob Journalisten demonstrieren "dürfen", sind im DLF-Text zum Interview mit Voigts zusammengefasst. Um das Thema "Haltung" – da landet man ja schnell, wenn es darum geht, wie und wo ein Journalist seine Meinung äußern darf/soll/muss – geht es in dem DLF-Gespräch auch:

Haltung bedeute für ihn, "für Meinungspluralismus, Menschenrechte" und gegen Rassismus und andere Formen der Diskriminierung einzutreten, also "Werte", deren Verteidigung im "ureigensten Interesse" der Journalisten ist, weil sie nämlich eine Voraussetzung dafür sind, dass sie ihren Beruf überhaupt ausüben können.

Jörg Wimalasena wiederum hat für die taz mit Machowecz über Journalisten als Demoteilnehmer und journalistische Haltung gesprochen. Machowecz sagt:

"Man muss als Journalist sogar eine Haltung haben: Es ist unser Job, sich immer wieder eine zu erarbeiten. Genau deshalb finde ich es schwierig, sich an einer Demonstration gegen eine Partei zu beteiligen, über die man noch berichten will. Man ist dann kein Zweifelnder mehr, man wirkt zu­mindest voreingenommen."

Diagnose "Stockholm-Syndrom"

Wie man als Journalist überhaupt nicht voreingenommen sein kann gegenüber einer Partei, die, wenn sie es denn könnte, dafür sorgen würde, dass weder Machowecz noch die Autoren oder Leser dieser Kolumne (sofern sie Journalisten sind) ihren Beruf ausüben können – das ist noch einmal eine andere Frage.

Eine "alberne" (O-Ton Machowecz) Zusammenfassung seiner Position liefert der Zeit-Redakteur hier, und er ist auch bereit einzugestehen, dass er möglicherweise "inkonsequent" argumentiert, weil er "schon mal gegen die NPD demonstriert" hat.

Mikael in den Fahrt (Metronaut) nimmt Machoweczs Äußerungen in Sachen AfD-Berichterstattung als Indiz dafür, dass er unter dem "Stockholm-Syndrom" leide. In der Headline wird die Diagnose noch deftig zugespitzt:

"Umgang mit der AfD: Ein Land hat das Stockholm-Syndrom."

Der Metronaut-Autor schreibt:

"Manche Journalisten und Politiker fordern im Gleichklang mit der Partei ein, dass man die AfD quasi mit Samthandschuhen anfassen und gleichberechtigt behandeln solle. Nur so könne man die Anhänger der Partei noch erreichen (…) (Außerdem) ist die Annahme falsch, dass jemand nicht faktentreu, quellengenau und nach allen Regeln der journalistischen Sorgfaltspflicht arbeiten könne, wenn er in erbitterter Gegnerschaft zum Gegenstand seiner Berichterstattung steht. Oder wenn er auf Demos geht. Es ist sicherlich eine weitere Herausforderung des Berufes, aber zahlreiche Journalisten und Historiker haben gezeigt, dass es ohne weiteres möglich ist. Sie haben gerade durch die emotionale Verbundenheit mit dem Thema tiefer, länger und kritischer recherchiert."

Um diesen Themenkomplex einigermaßen launig abzuschließen:

"Am Sonntag bei einer Feier zum 70. Geburtstag von #Israel gewesen. Jetzt harte Gewissensbisse: kann ich jemals wieder eine Meldung zum Nahostkonflikt schreiben?!?",

twittert Patrick Gensing. Sein Ratschlag:

"Geht mal aus der Sonne, Leute …"

Von der, zugegebenermaßen nischigen, Diskussion zur Journos-auf-Demos-Sache aus gibt es nun mehrere Abzweigungsmöglichkeiten zu anderen (entfernt verwandten) aktuellen Themen. Zum Beispiel zur Debatte über die Berichterstattung über die Demo der AfD und die Gegendemonstranten (unter denen, siehe oben, auch Journalisten waren) am vergangenen Wochenende (siehe Altpapier von Montag).

Carolina Schwarz kritisiert für die taz einen Beitrag von n-tv.de, wo die "Gegenüberstellung von AfD-Demo und Gegen­protest" in der Headline "Nazis überall" gipfelte. Die finden Bertelsmanns Nachrichten-TV-Koryphäen offenbar auch weiterhin knorke, denn geändert haben sie sie bis dato nicht. "Mit dieser Überschrift" bediene n-tv, so Schwarz, "ein Framing der Rechten".

"Unabhängig & parteiisch"

Während der heute viel zitierte Martin Machowecz der Ansicht ist, dass, verkürzt gesagt, "Unvoreingenommenheit" eine Voraussetzung für "Glaubwürdigkeit" ist, gibt es im Journalismus auch Stimmen, die das genaue Gegenteil vertreten. Aktuell drängt sich da der Hinweis auf das neue linke Online-Magazin Ada auf, das sich "unabhängig & parteiisch" nennt, also ehrlicher ist, als es Medien gemeinhin sind. Der heute schon erwähnte Jörg Wimalasena stellt Ada in der taz vor und gibt sich dabei bedingt zuversichtlich:

"Deutsche Leser sind (…) zumeist an den Schreibstil gewöhnt, der an den hiesigen Journalistenschulen gelehrt wird. Ihnen dürfte der verspielte und wenig formalisierte Schreibstil (…) zunächst fremd vorkommen. Doch dieser Stil könnte auch ein Erfolgsrezept für Ada sein. In Deutschland mangelt es zwar nicht an linken Publikationen – wohl aber an linken Texten mit unterhaltsamem und nicht-dozierendem Schreibstil. Eine echte Lücke."

Um kurz aus einem frischen Ada-Artikel zu zitieren, der eher nicht "verspielt" formuliert ist (und in dem es darum geht, wie linke Medien damit "umgehen" sollten, dass das, "was im Internet gelesen wird, vor allem große Konzerne bestimmen"):

"Die Vielfalt an (potenziellen) Realitätskonstruktionen im Internet ist keine, solange sie nicht wahrgenommen wird. Jeder kann sich zwar äußern, ob man aber gehört wird, steht auf einem anderen Blatt. Große Medienhäuser haben im Vergleich (…) zu kleinen linken Online-Medien wie Ada (…) einen viel größeren Einfluss",

schreibt Kerem Schamberger.

Kommen wir zurück zu der Frage, ob ein Journalist nicht glaubwürdiger ist, wenn er keine Unvoreingenommenheit vorgaukelt. Letztere Ansicht hat neulich die NDR-Journalistin Alena Jabarine vertreten (siehe Altpapier), und nicht unähnlich ist auch die Haltung der Macher der neuen ARD-Reportage-Reihe "Rabiat", deren vierte Folge an diesem Montag zu sehen war. Unter anderem über "Rabiat" habe ich für die Medienkorrespondenz geschrieben:

"Vereinfacht und erst einmal wertfrei gesagt, handelt es sich bei den 'Rabiat'-Filmen um Weiterentwicklungen der Presenter-Reportage. Die Autorinnen und Autoren von 'Rabiat' stehen in noch größerem Maß im Zentrum als bei herkömmlichen Filmen dieses Genres. Ihre persönliche Haltung zu den jeweiligen Themen und Personen kommt stärker zum Ausdruck (…) Die Macher von 'Rabiat' stehen also für explizit weniger Distanz als es im herkömmlichen TV-Reportage- und Doku-Journalismus üblich ist."

Bestenfalls hemdsärmelig

Timo Rieg war am Pfingstwochenende m.W. der erste, der die im allergünstigsten Fall hemdsärmelige und kontextlose, im weniger günstigen Fall mutwillig rechtes Framing (siehe oben in einem etwas anderen Kontext) bedienende Berichterstattung über ein Protest-Happening in Hitzacker kritisiert hat. Der Bildblog – "Es ist etwas erschreckend, dass wir Redaktionen, die eigentlich ernst genommen werden wollen (hier: Welt und shz.de), in diesem Fall problemlos in eine Reihe stellen können mit den Hetzern von Politically Incorrect" – und andere haben mit ähnlich verdienstvollen Texten nachgezogen. Jetzt holt Rieg für Telepolis noch einmal aus:

"Dass sich im Netz inzwischen tausende erregter, oft hasserfüllter User-Kommentare zu dem Ereignis in Hitzacker finden, dass Forderungen nach einer Ausweitung des Vermummungsverbots im Raum stehen und die Polizeigewerkschaften eine Reihe von Sonderregelungen für ihre Klientel verlangt haben (u.a. Sperrung ihrer Adressdaten beim Einwohnermeldeamt), ist der unkritischen Verbreitung einer kleinen Meldung der Polizeiinspektion Lüneburg in bundesweiten Medien geschuldet, wobei in vielen Fällen die Darstellung der Polizei von den Journalisten noch deutlich übertrieben wurde."

Altpapierkorb (P7S1-Firlefanz, Schirrmachers Mutter, WM-Zeitschrift 5474901418, Renaissance des Hörspiels)

+++ Wenn in Russland Journalisten nach einem tendenziell lebensbedrohlichen Angriff auf sich der Polizei Fotos der Täter (in Aktion) liefern und ein Behördenvertreter dann sagen würde, naja, man könne ja nicht ausschließen, dass die Bilder gefälscht sind – es gäbe wohl einen Aufschrei unter deutschen Journalisten, und das nicht zu Unrecht. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Mühlhausen, das nicht in Russland liegt, hat sich gegenüber Michael Brakemeier vom Göttinger Tageblatt gerade entsprechend geäußert, es geht um einen Angriff von zwei Neonazis auf Journalisten, der im Altpapier hin und wieder Thema war (ausführlich hier).

+++ Am 1. Juni tritt bei Pro Sieben Sat 1 Max Conze als neuer Vorstandsvorsitzender an, und "der sollte was tun", findet die FAZ. Michael Hanfeld schreibt: "Unter Conzes Vorgänger (Thomas) Ebeling war die 'Unterhaltung', die wir einmal im Sinne von 'Programm' verstehen wollen, das Letzte, womit Pro Sieben Sat 1 von sich reden machte. Die Umsätze durchs Internetgeschäft und durch geschickt gewählte Beteiligungen gediehen prächtig, die Sender aber verkümmerten. Die komplette Expertise, die sich Sat 1 und Pro Sieben mühsam im Laufe von mehr als zwanzig Jahren aufgebaut haben, ist so gut wie perdu (…) So toll das Online-Geschäft und der restliche Firlefanz auch laufen mögen – aus dem Wettbewerb (hat sich) der Sender weitgehend verabschiedet. Die Gruppe ist in puncto Unterhaltung und Information heute weder ein ernsthafter Herausforderer der öffentlich-rechtlichen Sender noch des großen Privatsenderkonkurrenten RTL."

+++ Spiegel Online, Bild.de, Bild, Huffington Post und die Abendzeitung sind auf diesen Witzartikel der Website nachrichten.de reingefallen. Das dröselt der Bildblog auf.

+++ In seiner Rezension von Michael Angeles Frank-Schirrmacher-Porträt "Der letzte Zeitungsmensch" greift Wolfgang M. Schmitt im Neuen Deutschland bereits die Rezeption anderer Rezensenten auf: "Ein 'durch und durch boshaftes Buch' sei das Portrait, schreibt Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung, auch andere Weggefährten Schirrmachers sind erzürnt. Dabei demontiert Angele Schirrmacher keineswegs, sondern lenkt die Aufmerksamkeit lediglich auf Facetten, die jenen, die ihre Abende weder im Borchardt noch in der Paris Bar verbringen, unbekannt sein dürften (…) Geradezu obskur ist der Vorwurf, Angele betreibe eine Boulevardisierung, weil er Schirrmachers Mutter in Wiesbaden besucht und von diesem Treffen im Epilog reportagehaft – dazu gehört nun mal, ihren polnischen Akzent zu erwähnen – erzählt. Schirrmacher hat, was seine Herkunft anbelangt, Rätsel aufgegeben und Geschichten erfunden: So sei er in einer Villa aufgewachsen, die in Wahrheit ein Reihenhaus war. Ist es da nicht die Pflicht des Kollegen, diese Rätsel zu lösen? Dass ausgerechnet die stets witwenschüttelnde Bild-Zeitung meint, Angele habe die Mutter mit seinem Besuch 'belästigt', sollte man nicht einmal ignorieren."

+++ Hannes Ley hat gerade das Bundesverdienstkreuz bekommen – für seine Arbeit mit der Facebook-Gruppe #ichbinhier, die versucht, mit konstruktiven Kommentaren gegen Hate Speech vorzugehen. Die SZ hat die Auszeichnung zum Anlass für ein Interview genommen, in dem es unter anderem um Reconquista Internet, die geistesverwandte, aber im Detail anders als #ichbinhier arbeitende Gruppierung Jan Böhmermanns. Ley sagt: "Ich finde das cool, dass die das gemacht haben. Böhmermann hat es mit seiner Reichweite geschafft, innerhalb von einer Woche 50 000 Leute zu mobilisieren, das ist natürlich der Hammer – wir haben für 38 000 achtzehn Monate gebraucht. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass es eine echte Herausforderung und eine Menge Arbeit ist, da eine Organisationsstruktur reinzubekommen, damit es sich auch langfristig trägt. Da wünsche ich RI, dass sie das schaffen."

+++ Michalis Pantelouris lobt in seiner Übermedien-Kolumne (€) das zur Fußball-WM erschienene Coffeetable-Heft 5474901418 (für das Pantelouris, was er dann auch offen legt, selbst einen Text geschrieben hat).

+++ Die 67. Verleihung des Hörspielpreis der Kriegsblinden am gestrigen Dienstag war für @mediasres Anlass für ein Interview mit dem Hamburger Medienhistoriker und langjährigen Hörspielpreis-Juror Hans-Ulrich Wagner. Dieser spricht von einer "Renaissance des Hörspiels" – trotz "eklatanter" und "versteckter Sparmaßnahmen", unter denen Hörspielschaffende zu leiden hätten.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.