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Das Altpapier am 13. August 2018Orgeln für Orgien

Die taz plant das Ende ihrer werktäglichen Printausgabe. Die Deutsche Welle schränkt die Kommentarfunktion im Netz deutlich ein. Die "European Championships" funktionieren fürs Fernsehen. Die Berichterstattung über Jan Ullrich ist eine Frechheit. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Der AutorKlaus Raab

Man kann schwer sagen, wo genau die Medienbranche in vier, fünf Jahren steht. Aber als sehr wahrscheinlich darf gelten, dass auf das Jahr 2021 das Jahr 2022 folgt. Auf den taz-Innovationsreport vom März, den "Report 2021", über den ich damals hier im Altpapier schrieb, es sei "wohl der ehrlichste Innovationsreport zumindest einer deutschen Zeitung (…), der jemals im Wortlaut an die Öffentlichkeit gelangt ist", folgt nun bei der taz deshalb das "Szenario 2022", in dem es um die praktischen Folgen geht. Im Innovationsreport 2021 hatte es geheißen:

"Unsere Printauflage sinkt. Vielleicht nicht so schnell wie die anderer Zeitungen, aber nach allem, was man prognostizieren kann, werden wir mit der gedruckten Zeitung in drei Jahren nicht mehr genügend Geld verdienen, um den Journalismus zu finanzieren, den wir machen wollen, den wir machen müssen."

Für Orgien in Georgien

Nun deutet taz-Geschäftsführer Karl-Heinz Ruch an, dass man diese Erkenntnis nicht einfach schulterzuckend hinnimmt und aufs Ende warten will. Sondern er schreibt – worauf turi2 am späten Samstag hingewiesen hat – den Genossinnen und Genossen der Zeitung in der taz-Mitgliederinfo Nr. 28 (hier als pdf, S. 7):

"Wer sich früher verändert, hat auch früher wieder liebgewonnene Gewohnheiten. Deshalb sagen wir: Es ist Zeit für Veränderung."

Konkret:

"Wir sind sicher, dass wir die Existenz der taz sichern, wenn wir uns bereits jetzt gut darauf vorbereiten, dass der tägliche Druck und Vertrieb der Papier-taz bald nicht mehr möglich sein könnte. Wir müssen die Chancen nutzen, die darin liegen und neue Publikationsmuster entwickeln, die kostengünstiger, ökologischer und schneller sein können als zuvor."

Auf gut deutsch, die taz mit Chefredakteur Georg Löwisch denkt sehr ernsthaft über das nahe Ende ihrer werktäglichen Printausgabe nach und will in einigen Jahren lieber papierlos, aber dafür mit einer existierenden Redaktion mitorgeln, als gar keine Partys mehr zu feiern. Ohne Igel an den Orgeln keine Orgien in Georgien.

Wie die Redaktion (der ich – Offenlegung – bis 2017 angehörte) sowie die taz-Genossinnen und -Genossen das ziemlich nach Beschluss klingende Gedankenspiel finden, wird man sehen. Wobei sie eigentlich schon reichlich Zeit hatten, sich gedanklich auf den Abschied vom Papier vorzubereiten. In einer älteren taz-Mitgliederinfo aus dem Jahr 2011 berichtete Karl-Heinz Ruch über eine Strategierunde, die über die "taz in zehn Jahren" (pdf, S. 8) diskutiert habe. In dem Text hieß es damals:

"Diese Runde sah sich mit einem Umfeldszenario konfrontiert: In zehn Jahren gibt es keine gedruckten Tageszeitungen mehr."

Man kann also sagen: Es läuft im Grunde wie erwartet. Und da ist Handeln sicher nicht die schlechteste Idee. Zumal wenn man bedenkt, dass die taz mit ihrer Printausgabe bislang nicht jeden Winkel der Republik erreicht.

Studie: 100 Prozent der Antwortgeber haben geantwortet

Ist die taz mit dieser Entwicklung Vorreiter für die Branche, wie sie es schon manchmal gewesen ist, etwa bei der Einführung von Themen-Schwerpunktseiten? Oder handelt es sich um einen Schritt, der in der nicht ungeräumigen, aber auch nicht flugzeughangargroßen Mediennische der taz leichter fällt als etwa bei jenen, die große Teile ihrer Auflage am Kiosk verkaufen?

Zum Glück gibt es auch zu diesem Thema eine zumindest anschlussfähige Umfrage. Der Tagesspiegel hat "die repräsentative Studie 'New Storytelling' der Initiative Nextmedia" gelesen. Eine Frage lautete, ob der Satz "Printmedien sind in zehn Jahren tot" zutreffe. Ergebnis:

"Eine Mehrheit von 57 Prozent geht (…) davon aus, dass es in zehn Jahren noch Printmedien geben werde. 34 Prozent glauben, dass die Aussage 'eher nicht zutrifft', neun Prozent bejahen sie voll und ganz."

Den Erkenntnisgewinn der Studie muss man freilich nicht überschätzen: Im Grunde wissen wir jetzt nur, dass Leute auch zu diesem Thema ihren Senf geben, wenn man sie darum bittet.

Interessanter wäre, wie genau ein Abschied von der Printzeitung aussehen könnte. In der jüngsten taz-Mitgliederinformation schreibt Karl-Heinz Ruch, die taz könnte "unter der Woche nicht mehr morgens im Briefkasten, sondern als elektronisches Dokument im E-Paper oder im Internet auf taz.de jederzeit erreichbar" sein. Das Wort Smartphone sucht man in seinem Text vergebens. Im darauf folgenden Beitrag der Chefredaktion ist dagegen sehr wohl vom Smartphone die Rede. Was kann man heute aber wirklich sagen über die Medientrends 2022?

"Smartphones, keine Frage, wird es noch lange geben. Der große Hype darum, er neigt sich aber dem Ende zu", schreibt Helmut Martin-Jung in der Süddeutschen Zeitung vom Samstag und verweist auf die Expansion der Hersteller "in neue Produkte (Uhren, Lautsprecher, Kopfhörer)".

Die Frage ist womöglich gar nicht: E-Paper, Website oder App? Die Frage ist vielleicht eher: Was sinnvollerweise noch alles?

Wo noch kommentiert werden kann

Eine weitere Frage, die für die Jahre 2022ff. jetzt noch nicht verlässlich beantwortet werden kann, ist die nach der Bedeutung von User-Kommentaren. Die Deutsche Welle hat nun beschlossen, die Kommentarfunktion unter redaktionellen Meinungsbeiträgen zu schließen. Denn:

"Der Diskurs wurde geprägt von persönlichen Beschimpfungen, Beleidigungen und rassistischen Äußerungen, die auf unserer Seite nichts zu suchen haben."

Michael Hanfeld findet in der FAZ vom Samstag, die Deutsche Welle tut damit "et­was für die Dis­kus­si­ons­kul­tur im Netz", findet den Schritt also gut und verweist auf die Einschränkung, die manche wohl übersehen haben – dass es nur um die Kommentare unter "redaktionellen Meinungsbeiträgen" gehe:

"Der Sender zieht die Notbremse, allerdings nicht – wie sogleich missverstanden wurde – komplett, sondern gezielt. Zu nachrichtlichen Beiträgen können sich Leser weiterhin melden und punktuell, schreibt Ines Pohl, werde man zu einzelnen Meinungstücken die Kommentarfunktion ebenfalls öffnen, um – eine Debatte zu führen."

Wenn Sie sich also fragen, wo man überhaupt noch seine Meinung sagen kann: an extrem vielen Orten, außer unter redaktionellen Meinungsbeiträgen der Deutschen Welle. Es geht auch unter diesem Blog.

"Tatort"-Loser

Und was macht das öffentlich-rechtliche Fernsehen?

Die ARD hat am Sonntagabend keinen "Tatort" gesendet – markieren Sie sich das Datum bitte unbedingt im Kalender! Bühne frei fürs ZDF, den sonntäglichen Konkurrenzfilm mal so richtig steil durch die Decke zu jagen. Statt zwei Filme, wie üblich, gab es allerdings diesmal gar keinen. Man beliebte, Fußball (ZDF) gegen Leichtathletik (ARD) zu senden. Gemäß der alten Regel von ARD und ZDF: Entscheidend ist, dass immer nur eine Zielgruppe gleichzeitig bedient wird, diesmal eben die Sportguckerinnen und -er.

Das halbwegs schwachsinnige Fußball-Supercup-Spiel zwischen Pokalsieger Eintracht Frankfurt und Meister Bayern München lief gegen den wirklich ziemlich großartigen Abschlussabend der Leichtathletik-Europameisterschaft. (An dieser Stelle die obligatorische Offenlegung, die Sie aber eigentlich an mehreren Stellen auf dieser Seite auch alleine finden, etwa ganz oben, ganz unten und in der URL: Diese Kolumne erscheint auch heute wieder beim MDR, also bei der ARD.)

Schade für die Leichtathletik. Martin Schneider schrieb in der Süddeutschen Zeitung vom Samstag:

"Vor ein paar Wochen, es war ein Samstag, sah man an zwei Zahlen die Kräfteverhältnisse im deutschen Sport. Es lief die Fußball-Weltmeisterschaft, die deutsche Nationalmannschaft war schon lange ausgeschieden, und die ARD sendete das Spiel um Platz drei, England gegen Belgien. Das Spiel um Platz drei wollen meist die Spieler selbst gar nicht mehr spielen. Aber zuschauen, das wollten viele Deutsche trotzdem. Es schalteten mehr als acht Millionen ein, so viele wie bei einem guten Tatort. Zur gleichen Zeit sendete das ZDF das Wimbledon-Finale mit Angelique Kerber, die als erste deutsche Tennis-Spielerin seit Steffi Graf 1996 das Rasenturnier gewann. Das wollten im Schnitt zwei, in der Spitze drei Millionen sehen."

Mäh. Jedoch: Das neue auf Fernsehaufmerksamkeit abzielende Konzept der "European Championships", umgangssprachlich auch Klein-Olympia genannt, mit Fußball nicht nur eine Sportart konkurrieren zu lassen, sondern mehrere Turniere gleichzeitig zusammenzubinden und zusammen zu übertragen – Leichtathletik, Schwimmen, Golf, Turnen etc. –, habe insgesamt in den vergangenen Tagen "herausragend gut" funktioniert.

"Über 100 Stunden Sport werden ARD und ZDF am Ende der European Champions am Sonntag gesendet haben und einen Beleg dafür haben, dass es im sportlichen Kampf um Zuschauergunst gemeinsam besser geht. Nur für Schwimmen, nur für Turnen oder Bahnradfahren schalten kaum Leute ein. Im Paket aber ist das Programm plötzlich attraktiv. Eine Win-win-win-Situation für Sender, Sportbegeisterte und Sportler."


Wer die genauen Quoten wissen will – wir sind ja hier nicht bei Meedia –, schaltet zum Tagesspiegel oder zu DWDL.

Geloset haben nur die "Tatort"-Fans. Aber man kann nicht auf jede mickrige Minderheit Rücksicht nehmen. Also nicht jede Woche.

Altpapierkorb (Jens Spahn, #MeTwo, Jan Ullrich, Bild-Berichterstattung)

+++ Der Gesundheitsminister hat sich kürzlich mit einem Debattenbeitrag in der taz zu Wort gemeldet und gefordert, dass es in Debatten weniger um Moral gehen sollte (Altpapier vom Freitag). Dass Jens Spahn von der CDU in der taz einen Gastbeitrag schrieb, ist so verwunderlich auch wieder nicht, aber doch erstaunlich genug, dass die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung darauf im Feuilletonaufmacher mit einem Zwinkersmiley reagiert (frei für Login-Inhaberinnen und -Inhaber, sonst für 0,45 Cent bei Blendle). Patrick Bahners schreibt zudem über Spahn: "Zur MeTwo-Debatte setzte er bei dieser Gelegenheit einen Metakommentar ab, eine Bemerkung nicht zur Sache, sondern zur Form der Debatte. Das hatten auch etliche Journalisten getan. Typische Schlaubergerfragen: Wie repräsentativ sind eigentlich Anekdoten? Sind eifrige Twitterer nicht mutmaßlich gebildete Besserverdiener, die für die sprachlos Ausgebeuteten nicht sprechen können? Spahns Variante der unbesehenen Relativierung der unter #MeTwo gebündelten Evidenz: Es wurden 'sogleich die größten Kaliber aufgefahren', wie 'Rassismus'." Gute Pointe dann: "Wir wollen Jens Spahn jetzt nicht das Kaliber der Waffen vorhalten, mit denen er die Islam- und die Flüchtlingsdebatte aufmischte."

+++ Und auch das noch von Bahners: "Das ist vielleicht das Traurigste an der Debatte, zu welcher der bei #MeTwo gesammelte Stoff unter der Regie von Journalisten und Hobby-Leitartiklern mit Partei- oder Regierungsamtverwurstet worden ist: Die Chance wird versäumt, endlich einmal anzuerkennen, wie viel ohnehin von Einwanderern und ihren Nachkommen an klagloser Umstellung der Gewohnheiten verlangt wird, bevor die Zudringlichkeiten des Werteunterrichts einsetzen."

+++ Die breite, spekulative Berichterstattung über Jan Ullrich, dessen mögliche Probleme uns alle in erster Linie einen Dreck angehen, ist eine Frechheit. "Bis heute ist nicht geklärt, was eigentlich auf Mallorca geschah. Und ganz ehrlich? Es hat im Grunde auch niemanden zu interessieren", schreibt Mike Kleiß bei Meedia. Und Anne Fromm in der taz: "Ullrichs Geschichte ist nicht nur 'der tiefe Fall' eines Ex-Sportlers, es ist vor allem der tiefe Fall des Sommerlochs. Das war mit der Unionskrise ungewohnt politisch gestartet, nahm hitzebedingt einen klimapolitischen Schlenker und landete fußballbedingt beim Thema Rassismus. Jetzt aber: Sex, Drugs und Rock’n’ Roll."

+++ Stefan Niggemeier setzt sich bei Übermedien (frei für Abonnentinnen und -nnenten) mit der Bild-Zeitung Julian Reichelts und vor allem der Bild-Berichterstattung über Geflüchtete auseinander: "Neulich habe ich bei der 'Bild'-Zeitung nachgefragt, wann und warum sie ihre 'Refugees Welcome'-Kampagne eingestellt hat. Die Antwort der Pressestelle lautete vollständig: "Diese ist nie beendet worden. Das ist ein bisschen überraschend, denn der Geist der Willkommenskultur ist relativ vollständig aus dem Blatt vertrieben und durch eine neue Kampagne ersetzt worden, in der Flüchtlinge, Asylbewerber und Migranten fast ausschließlich und jeden Tag wieder als Kriminelle, Betrüger und Terroristen vorkommen. Und in der das Wort 'Asyl' nicht gedacht werden kann, ohne das Wort '-Irrsinn' hinzuzudenken."

+++ Der ehemalige Altpapier-Autor Matthias Dell verarztet beim Deutschlandfunk das Magazin Flow.

+++ Die "TV-Pionierin" (SZ) und ehemalige ZDF-Korrespondentin Fides Krause-Brewer ist gestorben. Nachrufe gibt es etwa in der SZ und beim Tagesspiegel.

+++ Ebenfalls gestorben ist der Dokumentarfilmer Klaus Wildenhahn. Einen Nachruf hat unter anderem der, wiederum, Tagesspiegel.

Neues Altpapier gibt es am Dienstag.