Zeitzeugen-BerichtFrauentag – Erinnerungen aus einem Betrieb
Gefeiert wurde in der DDR nicht wenig. Karl Heinz Winkler beschreibt exemplarisch einen der wichtigsten Feiertage überhaupt für Betriebe in der DDR – den Frauentag.
Wenn es jemals auf dieser Welt, vor allem aber in unserem Land, einen Feiertag gab, der länger als einen Tag dauerte, dann war es der allseits beliebte Frauentag. Er begann laut Kalender am 8. März des laufenden Jahres, an diesem Tag wurde dann auch die erste Feier veranstaltet und endete am 7. März des darauf folgenden Jahres. Um das aber etwas verständlicher zu machen, müssen wir mal einen Frauenbetrieb beleuchten. Das ist notwendig, damit auch meine Freunde aus den älteren Bundesländern wissen, wovon hier geredet wird.
Frauentag im VEB "Buchkunst und Sockenhalterdesign"
Nehmen wir als Beispiel den VEB "Buchkunst und Sockenhalterdesign". Ein Betrieb mit ca. einhundert Frauen, einem Meister, einem Hausmeister und dem Betriebsdirektor, welchem bei dem Thema Frauentag eine besondere Rolle zukommt, denn er verwaltet das Geld. Ein Direktor in so einem Frauenbetrieb hatte es nicht leicht, er musste zu seinen Kolleginnen ein gutes Verhältnis haben. Wie Vater zu Tochter oder wie ein Onkel zu seinen Nichten. Zu einigen Damen war das Verhältnis so gut, dass man fast von ehelicher Beziehung sprechen konnte. Der Direktor war eben die gute Seele im Betrieb.
Wenn der Meister für einen Tag zum Kellner wird
Mitte Januar bestellte nun besagter Direktor den Meister und den Hausmeister in sein Büro, um mit ihnen die Vorbereitungen für die am 8. März stattfindende offizielle Feier im Speiseraum des Betriebes zu besprechen. Die Beiden nahmen Platz, der Alte, so wurde er heimlich genannt, öffnete die für Repräsentationszwecke eingerichtete Hausbar, goss jedem einen Cognac ein und erläuterte seine Vorstellungen, die auch ohne Diskussion akzeptiert wurden, danach konnte man wieder gehen. Dem Meister fiel die Aufgabe des Kellners und dem Hausmeister die des Abräumers (wegen seiner abgearbeiteten Hände) zu.
Liebevolle Dekorationen und gut gekühlter Wein
Am Tag der Feier, sie sollte gegen zwölf beginnen, kamen die Damen in ihrer besten Garderobe und man konnte sehen, welche von ihnen Westbeziehungen hatten und wer sich im HO-Damenhaus einkleiden musste. Gearbeitet wurde auf Grund dieser Anzugsordnung nicht. Daher wurde bereits am frühen Morgen mit einigen Kaffees und Wackelmännern die Feier moralisch vorbereitet.
Gegen zwölf fanden sich dann nach und nach die Damen in dem schon erwähnten Speiseraum ein. Das war aber nicht so ein lieblos kahler Raum, nein, die beiden Meister hatten die Tische liebevoll gedeckt, überall standen Blumen und gut gekühlter Wein, und an der Wand war der auf rotes Tuch gemalte Spruch zu lesen:
Wir Kollegen grüßen und beglückwünschen unsere hochverehrten Frauen zum internationalen Frauentag. Vorwärts zu noch größeren Taten zum Wohle unserer sozialistischen Heimat
Plakat an der Wand
Dann hielt der Alte eine Rede, in welcher er mit Tränen in den Augen die Arbeit der Frauen des VEB "Buchkunst und Sockenhalterdesign" würdigte, sich für die überdurchschnittlichen Leistungen bedankte und nicht vergaß, zu noch höheren Leistungen zum Wohle ... usw. aufzurufen. Nach ca. anderthalb Stunden hatte er es geschafft und ging unter stehendem Beifall und zutiefst gerührt auf seinen Platz. In dieser Zeit hatte der Meister, man erinnere sich, er bediente, zum dritten Mal die leeren Weinflaschen gegen volle ausgetauscht.
Während die SED-Kreisleitung spricht, leeren sich die Flaschen
Nun sprach noch ein Genosse von der SED-Kreisleitung. Es war für den Betrieb immer eine Ehre, einen solchen Gast zu haben, da man dadurch sicher sein konnte, dass die vom Direktor in seiner Rede gewürdigten Leistungen bis in die höchsten Etagen dieser Institution vordrangen. Der Genosse hielt sich kurz, sagte eigentlich alles, was der Alte schon gesagt hatte und war bereits nach einer Stunde fertig.
In dieser Stunde wurden die Flaschen auf den Tischen noch dreimal ersetzt und der Hausmeister hatte alle Hände voll zu tun, um das Leergut zu entsorgen. Nach dem frenetischen Beifall, der dem Genossen von der Kreisleitung galt, den er nach diesen lobenden Worten auch verdient hatte, wurden erstmal Häppchen gereicht und man begann, einige Likörchen zu trinken. Dass die leeren Weinflaschen immer wieder und ungefragt gegen wohl gefüllte ausgetauscht wurden, muss nicht nochmal eine separate Erwähnung finden.
Höhepunkt: Auszeichung "Aktivisten der sozialistischen Arbeit"
Es war so gegen siebzehn Uhr, als sich die Feier dem Höhepunkt näherte. Der Direktor begab sich an das Rednerpult, verschaffte sich Gehör, was inzwischen doch schon ziemlich schwer war, und kündigte an, nun mit den Auszeichnungen zu beginnen.
Frieda, Ludmilla und Beate wurden zu "Aktivisten der sozialistischen Arbeit" gekürt, die Kleber und einige der anderen Damen erhielten einen höheren Geldbetrag, also eine Prämie, und die Buchdeckelgestalter wurden mit dem Titel "Sozialistische Brigade" dekoriert. Leer gingen diesmal die Sockenhalterdesigner aus, was verschnupfte Blicke und Getuschel innerhalb dieser Gruppe bewirkte.
Alle Ausgezeichneten wurden mit tosendem Beifall bedacht. Ob die Auszeichnungen zu Recht oder zu Unrecht verliehen wurden, wurde erst am nächsten Tag in "Unter-Vier-Augen-Gesprächen" erörtert. Gegen Mitternacht meldete sich wiederum der Direktor zu Worte. Leicht schwankend, mit etwas seltsamen Augen verkündete er, dass es ihm leid tue, diese Feier so offiziell, förmlich und ohne den gebührenden Spaß durchgeführt zu haben. Er sei deshalb in der Gaststätte "Bauernlümmel" gewesen, habe interveniert und Termine für Nachfeiern vereinbart, die er noch rechtzeitig bekannt geben werde.
Man trank noch einige Flaschen Wein, war mit sich, der Welt und dem Alten zufrieden und gegen drei Uhr morgens konnte der Hausmeister mit den Worten "Bis gleich" die Tore verschließen.
Die Geschichte ist im Buch "Kellner Kalle" von Karl Heinz Winkler im Schleierweltenverlag erschienen und wurde 2012 erstmals auf MDR.DE veröffentlicht.