Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio

Geschichte

DDRNS-ZeitZeitgeschichteMitteldeutschlandWissen

Abrechnung mit StalinDie geheime Rede Chruschtschows, die Geschichte schrieb

25. Februar 2021, 10:19 Uhr

Fünf Stunden spricht der sowjetische Parteischef Nikita Chruschtschow zum Abschluss des 20. Parteitages der KPdSU am 25. Februar 1956. Als er endet, gibt es keinen Applaus. Nicht aus Ermüdung, sondern vor Entsetzen. Chruschtschows Rede trägt den Titel "Über den Personenkult und seine Folgen". Darin rechnet Chruschtschow mit seinem Vorgänger, Diktator Josef Stalin, und dessen Taten ab. Ein wichtiges Ereignis, das die Entstalinisierung und das "Tauwetter" im gesamten Ostblock einleiten wird.

von Elisabeth Enders

Chruschtschows Geheimrede gelangt schnell in den Westen

Die Rede vom 25. Februar 1956 ging als "Geheimreferat" in die Geschichte ein: Denn zunächst hörten sie nur ausgewählte Delegierte des Parteitages, Aufnahmen waren verboten. Das Manuskript wurde auch den Führern der anderen sozialistischen Staaten zugestellt. Obwohl sich die Rede inoffiziell schnell weiter verbreitete, wird sie den Bürgern der Sowjetunion, um deren Geschichte es geht, offiziell erst 1989 zugänglich. Die westliche Welt kannte Chruschtschows Geheimreferat da schon lange. In Polen wurde es tausendfach reproduziert. Ein polnischer Journalist reichte es an den israelischen Geheimdienst weiter, dieser sandte es an den US-Auslandsgeheimdienst CIA und dieser gab es wiederum an den amerikanischen Präsidenten Eisenhower, der dann für die Veröffentlichung in der "New York Times" sorgte. Das war am 4. Juni 1956.

Unter Stalin wurde auch Chruschtschow zum Täter

Nikita Chruschtschow spricht in dieser Rede Klartext über Stalins Diktatur:

Anstatt seine politische Korrektheit zu beweisen und die Massen zu mobilisieren, schlug er oft den Weg der Unterdrückung und physischer Vernichtung ein, und zwar nicht nur im Kampf gegen tatsächliche Feinde, sonders auch gegen Personen, die keine Verbrechen gegen die Partei und die Sowjetregierung begangen hatten.

Geheimrede von Nikita Chruschtschow | 20. Parteitag der KPdSU, 1956

Stalin und Chruschtschow in den 1930er Jahren. Bildrechte: imago images/StockTrek Images

Die Rede ist gründlich vorbereitet. Chruschtschow schildert detailliert die Repressionen, Verhaftungen und Säuberungen, spricht über die Unberechenbarkeit, Willkür und ständig drohende Verhaftung und Vernichtung im Stalinismus. Dabei ist er selbst als ehemaliger Stalin-Mitarbeiter nicht ganz ohne Schuld: Er hatte Karriere im System Stalin gemacht und war an Verbrechen beteiligt gewesen.

Nach Stalins Tod wagt Chruschtschow den Protest

Für den Historiker Wolfgang Leonhard, einen in der damaligen Bundesrepublik lebenden Kommunisten, ist das Geheimreferat die "bedeutsamste Rede in der Geschichte des Kommunismus". Chruschtschow hatte sich von einem glühenden Stalinisten zu einem scharfen Kritiker gewandelt. Im Vorfeld des XX. Parteitages hatte er die Opfer der Politik des Diktators beziffern lassen. Doch nicht nur das. Er legte im Detail dar, wie stark Stalins Politik vom Kommunismus Lenins abwich. Chruschtschow wollte "den Stalinschen Abschaum beseitigen, um die ursprüngliche Reinheit des Kommunismus wieder herzustellen", sagt Leonhard.

Abrechnung mit der düsteren Ära des Stalinismus

Doch das ist den Parteitagsdelegierten zu radikal. Nach drei Jahrzehnten Stalin-Herrschaft ist der Stalinismus untrennbar mit allem in der UdSSR verbunden. Nur wenige trauen sich deshalb, Chruschtschow zu unterstützen. "Die Rede hat innerhalb der Marxisten, langjährigen Kommunisten und Ex-Kommunisten total entgegengesetzte Reaktionen ausgelöst", berichtet Wolfgang Leonhard, dessen Mutter 1936 unter Stalin in Moskau deportiert worden war.

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1945 war Leonhard wichtiger Funktionär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Lehrer an einer Parteihochschule. 1949 setzte er sich in den Westen ab, weil er den Kommunismus demokratischer und humaner wollte, als er im Ostblock praktiziert wurde. Nun beobachtete und analysierte er die Entwicklungen in der Sowjetunion von Westdeutschland aus. Die Rede Chruschtschows hatte er kommen sehen und trotz Geheimhaltung zeitnah gelesen:

Wir haben uns unbändig gefreut. ... Ich kenne aber auch andere, die waren entsetzt und hielten Chruschtschow für einen Verräter.

Historiker Wolfgang Leonhard

Die Bedeutung der Rede sei unterschätzt worden, sie sei "so weitgehend wie keine andere Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit - weder vor noch nach dieser Rede", sagt Leonhard.

Nach dem Tod von Stalin wurden seine Porträts aus den Museen der Sowjetunion entfernt. Eine Offensive, die von seinem Nachfolger Chruschtschow angeführt wurde. Illustration aus der italienischen Zeitschrift "La Domenica del Corriere" vom 1. April 1956. Bildrechte: imago images/KHARBINE-TAPABOR

Entstalinisierung, Reformen und "Tauwetter"

Drei Jahre vor Chruschtschows Rede ist Stalin gestorben. Doch erst nach Chruschtschows Geheimrede beginnt die als "Tauwetter" bezeichnete Zeit der Entstalinisierung. Die meisten Straflager werden aufgelöst, Millionen Häftlinge kommen frei. Eine Kommission zur Rehabilitierung der Opfer wird eingerichtet. Chruschtschow stößt viele Reformen an, die die Wirtschaft der Sowjetunion ankurbeln und der durch die Repressionen traumatisierten Bevölkerung Vertrauen zurückgeben sollen. Manches gelingt, aber das Tempo der Reformen überfordert auch viele.

Rede ging an kommunistische Parteien im Ostblock 

Das Jahr 1956 sorgt in den sozialistischen "Bruderländern" Europas für Erschütterungen. Die Staatsführungen hatten immer in Abstimmung mit Moskau handeln müssen, auch dort bestimmt der Stalinismus das öffentliche Leben. In Polen, wo die Rede besonders rege innerhalb und außerhalb der regierenden Einheitspartei verbreitet wurde, erwächst in der Bevölkerung eine öffentlich artikulierte Feindseligkeit gegenüber der Sowjetunion. In Ungarn kommt es zu einem gewaltsamen Aufstand von Arbeitern und Studenten, der die Staatsführung so weit in Bedrängnis bringt, dass nur das gewaltsame Eingreifen der sowjetische Armee die alten Verhältnisse stabilisieren kann.

Kaum Kurswechsel und Entstalinisierung in der DDR

In der DDR führt das "Tauwetter" vor allem zur Freilassung von 21.000 politischen Gefangenen. Im Land bleibt es aber ruhig. Das hat verschiedene Gründe, ein wesentlicher ist, dass erst 1952/53 eine tiefgreifende Systemkrise mit dem finalen Aufstand vom 17. Juni 1953 die SED-Führung erschüttert hat. In der Folge wurden soziale Zugeständnisse gemacht. Die materiellen Lebensumstände der Arbeiter sind besser geworden.

Doch innerhalb der SED gibt es nach der Chruschtschow-Rede Diskussionen. Der Personenkult um Staatschef Walter Ulbricht wird insbesondere von Karl Schirdewan, einem der Sekretäre des SED-Zentralkomitees, infrage gestellt. Auch andere SED-Funktionäre, Intellektuelle und Studenten setzen sich nun für einen "menschlichen Sozialismus" ein. Im Zentrum steht vor allem das Recht auf freie Meinungsäußerung. Denn dieses kann unter den herrschenden Bedingungen nicht ausgeübt werden. Vor dem Hintergrund des 17. Juni 1953 erstickt die SED-Führung diese Diskussionen zügig. Die Studenten werden mit dem Aufmarsch von Militär eingeschüchtert. Im Herbst 1956 greift zudem die Anti-"Revisionismus"-Kampagne. SED-Mitglieder, Intellektuelle und Publizisten, unter anderem der Leiter des Aufbau-Verlags Walter Janka, werden verhaftet und wegen "Staatsverrat" zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Damit ist die Entstalinisierung in der DDR beendet.

Bei diesem Inhalt von Youtube werden möglicherweise personenbezogene Daten übertragen. Weitere Informationen und Einstellungen dazu finden Sie in der Datenschutzerklärung.

Mehr zum Kalten Krieg

Dieses Thema im Programm:MDR aktuell | 19. Juni 2020 | 17:45 Uhr