Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
MedienwissenMedienkulturMedienpolitikSuche

Von Voigt bis LindemannWas darf Verdachtsberichterstattung?

17. November 2023, 15:08 Uhr

In der deutschen Berichterstattung hagelt es aktuell einen Verdacht nach dem anderen. Bundesweit machte zuletzt der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger mit der Flugblatt-Affäre von sich reden, im Lokalen sah sich der thüringische Politiker Mario Voigt mit dem Verdacht der Bestechlichkeit konfrontiert. Die Verdachtsberichterstattung ist dabei umstritten, schließlich birgt sie einige Gefahren. Warum sie trotzdem wichtig ist und wie sie gelingen kann.

von Elisabeth Ries

Mario Voigt, Mike Mohring, Gil Ofarim, Till Lindemann, Patricia Schlesinger, Hubert Aiwanger – sie alle standen wegen Verdachtsberichterstattung zeitweise im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Medien berichteten also über ein mutmaßliches Vergehen – von Machtmissbrauch bis Bestechlichkeit – welches juristisch weder bewiesen noch widerlegt war. Das Publikum fragt sich zuweilen: Warum wird berichtet, obwohl es kein Urteil gibt? Immer wieder werden deswegen auch Stimmen laut, die den Medien Vorverurteilung vorwerfen und von Kampagnen sprechen.

Aber: Journalismus hat die Aufgabe Missstände aufzudecken und das ist nicht an die Justiz gekoppelt. Machtmissbrauch im Arbeitskontext beispielsweise muss nicht strafrechtlich relevant sein, um für die Öffentlichkeit von Interesse zu sein. Und: „Wenn Medien nie im Verdachtsstadium berichten dürften, hätten viele Skandale nie das Tageslicht erblickt“, sagt Felix Zimmermann, ehemaliger ZDF-Rechtsexperte und heutiger Chefredakteur des Onlinemagazins Legal Tribune Online. Vor seinem Wechsel in den Journalismus arbeitete er als Medienrechtsanwalt unter anderem in der Kanzlei Schertz Bergmann, die aktuell Till Lindemann vertritt.

Damit ist diese Form des Journalismus eine Gratwanderung: Dem öffentlichen Interesse steht das Persönlichkeitsrecht entgegen, das genauso wie die Pressefreiheit verfassungsrechtlich geschützt ist. Im Zweifel müssen Medienhäuser die Zulässigkeit ihrer Berichterstattung auch vor Gericht verteidigen, das dann klärt: Haben Journalistinnen und Journalisten alle Regeln der Verdachtsberichterstattung beachtet?

Wann Verdachtsberichterstattung zulässig ist – und wann nicht

Diese Regeln ergeben sich zum einen aus Gesetzen, beispielsweise des Bürgerlichen Gesetzbuchs, sowie aus der (fortlaufenden) Rechtsprechung und zum anderen aus dem Pressekodex, also dem Regelwerk, das sich deutsche Medien selbst gegeben haben.

Quellen

Die Sorgfaltsplicht wird im Journalismus sowieso schon großgeschrieben, mindestens zwei Quellen für einen Aspekt zu haben ist journalistischer Standard. Noch größeres Augenmerk muss diese Sorgfalt in der Verdachtsberichterstattung erfahren. Viele #MeToo-Fälle basieren beispielsweise auf der Nacherzählung von Situationen, die nur zwei Menschen wirklich erlebt haben. Nur wenn mehrere Quellen unabhängig voneinander Annahmen bestätigen, kann sich daraus ein gerechtfertigter Verdacht ergeben.

Selbst wenn Quellen in der Berichterstattung nur anonym auftauchen, verlieren sie nicht an Wert, solange sie der Redaktion bekannt sind. Im besten Fall gibt es außerdem eidesstattliche Versicherungen der Quellen, die bei der Verteidigung der Berichterstattung vor Gericht helfen können. Einzig die Angaben von sogenannten privilegierten Quellen, also etwa Nachrichtenagenturen oder Behörden, müssen von Journalistinnen und Journalisten nicht nochmal überprüft werden.

Stellungnahme und Entlastendes

Ein wichtiger Bestandteil der Verdachtsrecherche ist die Konfrontation des Verdächtigen mit den Anschuldigungen. Dabei hat der Verdächtige jedes Recht, die Stellungnahme zu verweigern. So oder so muss die Antwort Bestandteil der Berichterstattung sein.  Auch eventuell entlastende Fakten müssen im Beitrag Platz finden, wenn es sie gibt. „Wer das nicht macht, ist auch an der Wahrheit nicht interessiert. Denn die Aufgabe eines Journalisten oder einer Journalistin ist es nicht, irgendjemand zu überführen, sondern die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß zu informieren“, sagt Zimmermann. Im Fall Rammstein schrieb die Süddeutsche Zeitung beispielsweise auch über Lindemanns Ex-Freundin Sophia Thomalla, die ihn gegenüber der BILD als „Mann, der Frauen beschützt“ beschrieb.

Verdachtsnennung

Sowohl der Paragraph zur journalistischen Sorgfalt als auch der Paragraph zur „Unschuldsvermutung/ Vorverurteilung“ im Pressekodex beinhalten den Satz: „Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.“

Die Süddeutsche Zeitung schrieb beispielsweise in ihrem ersten Artikel zur Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger: „Der bayerische Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident Hubert Aiwanger steht im Verdacht, … .“ Hilfreich, um sprachlich sauber zu bleiben, sind auch der Konjunktiv oder Worte wie „mutmaßlich“ und „Tatverdächtiger“. So wird die Unschuldsvermutung sprachlich transportiert, um einer Vorverurteilung vorzubeugen.

Persönlichkeitsschutz

Ob eine Person namentlich genannt werden kann, hängt von der Schwere des Vorwurfs und der Stellung der Person in der Öffentlichkeit ab. Auch wichtig: Wenn eine Person sich öffentlich zum Beispiel für Kinderrechte stark macht und dann verdächtigt wird, Kinderpornografie weitergegeben zu haben, kann das öffentliche Interesse an diesem vermeintlichen Vorbild den Persönlichkeitsschutz übertreffen – genau das musste 2019 die BILD bei Recherchen zu einem Anfangsverdacht gegen den ehemaligen Fußballprofi Christoph Metzelder abwägen und sich später vor Gericht wegen der öffentlichen Nennung seines Namens zu diesem Zeitpunkt verantworten. Medien müssen auch dann noch Veröffentlichungen abwägen, wenn ein Verdacht und ein dazugehöriger Name schon durch andere Medien oder auch durch Behörden in Umlauf sind.

Wenn sich die Verdachtsberichterstattung an die Spielregeln halte, sei sie aber durchaus zulässig, sagte der damalige Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbands Frank Überall im Sommer 2023. Er bekräftigte damit die breit diskutierte Berichterstattung über mutmaßlichen Machtmissbrauch bei Rammstein-Konzerten.

Folgen der Verdachtsberichterstattung

Die Staatsanwaltschaft Berlin, die zu den Vorwürfen ermittelt hatte, hat das Verfahren gegen Till Lindemann zwischenzeitlich eingestellt, das Image des Musikers und der Band ist nun trotzdem mit den erhobenen Vorwürfen verknüpft. Das zeigt: Eine öffentliche Verdächtigung kann ein lebenslanges Stigma bedeuten, deswegen sind die Hürden für Verdachtsberichterstattung auch so hoch. Der wohl bekannteste Fall in Deutschland ist die Berichterstattung über Jörg Kachelmann. Sein Gerichtsprozess endete zwar mit einem Freispruch, sein Name und seine Karriere werden aber immer mit dem Prozess an sich und der zum Teil vorverurteilenden Verdachtsberichterstattung abseits der Gerichtsberichterstattung verknüpft bleiben.

Deswegen sieht die Rechtsprechung auch verschiedene Möglichkeiten gegen vermeintlich ungerechtfertigte Verdachtsberichterstattung vor:

  • Im Zivilrecht ist der Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch verankert, der eine bevorstehende oder schon veröffentlichte Berichterstattung erstmal eindämmen kann. „Wenn ein Beitrag zum Beispiel nicht sehr neutral und nüchtern gehalten ist, kann er wegen nicht ausgewogener Verdachtsberichterstattung untersagt werden“, sagt Zimmermann.
  • Eine gerichtlich verordnete Gegendarstellung, festgeschrieben in den Landespressegesetzen der Bundesländer, muss in ähnlichem Umfang und an vergleichbarer Stelle wie die ursprüngliche Veröffentlichung abgebildet werden.
  • Bei fehlerhafter Verdachtsberichterstattung können Betroffene außerdem auf Schadensersatz, Entschädigung oder Schmerzensgeld klagen. Es gibt aber auch immer wieder Debatten darüber, ob diese nachträglichen Strafzahlungen, gerade im Boulevardbereich, nicht unverhältnismäßig sind und Medien diese billigend in Kauf nehmen.

Für Zimmermann sind auch diese rechtlichen Möglichkeiten, gegen Verdachtsberichterstattung vorzugehen, eine Frage der Abwägung. Schließlich würde es am Ende die Pressefreiheit gefährden, wenn zu hohe Geldstrafen Medien in den Ruin trieben.

Außer Frage steht trotzdem, dass eine Gegendarstellung oder Berichte über Schadensersatz nicht so beim Publikum hängen bleiben wie ein zuvor berichteter Verdacht. Deswegen nicht zu berichten, wenn der Verdacht begründet ist, wäre aber auch keine Lösung.