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Asyl und AufenthaltDrohende Abschiebung: Warum es in Leipzig eskaliert ist

07. Oktober 2022, 12:15 Uhr

Ein Mann mit jordanischem Pass sollte aus Leipzig abgeschoben werden, weil er bereits seit Jahren ausreisepflichtig ist. Der 27-Jährige ist gut integriert, hat eine Ausbildung in Aussicht und eine Wohnung. Doch Sachsen setzt als eines von vier Bundesländern noch eine Regel um, die eigentlich bald abgeschafft werden soll. Die meisten anderen Länder setzen Abschiebungen gut integrierter Migranten derzeit aus.

Den Innenhof des Mehrfamilienhauses in Leipzig hat die Polizei geräumt. Niemand soll den Einsatz am 13. September im Stadtteil Südvorstadt stören. Das Spezialeinsatzkommando hat sich auf der Feuertreppe in Stellung gebracht. Mohammad K. steht an einem Fenster im zweiten Stock und schaut zu den Beamten. Der junge Mann wird seit sieben Jahren in Deutschland nur geduldet. Er soll an diesem Tag abgeschoben werden – dann eskaliert die Situation.

Mohammad K. verletzt sich aus Verzweiflung mit einem Messer. Das Blut läuft von seinem Arm bis auf den Fensterrahmen. Der 27-Jährige droht damit zu springen. "Sie müssen sich nicht verletzten. Wir werden ihnen nicht wehtun", ruft ein Polizist. "Wir versprechen, wir bringen sie zu einem Arzt." Mohammad K. stimmt zu und verlässt unbewaffnet die Wohnung. Später erklärt er im Interview mit MDR exakt: "Ich habe gesagt: Ich komme mit. Ich bin kein Krimineller." Die Polizei überwältigt ihn und eskortiert ihn ins Krankenhaus. Nach mehreren Tagen kommt er vorerst in Abschiebehaft nach Dresden

Abschiebung, Duldung und ein neues Gesetz

So wie Mohammad K. leben in Deutschland über 240.000 Menschen – davon knapp 12.000 in Sachsen – mit einer Duldung. Sie haben kein Asyl erhalten, doch ihre Abschiebung ist vorübergehend ausgesetzt.

Seitdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Mohammad K.s Asylantrag im Jahr 2017 abgelehnt hatte, soll er Deutschland verlassen. Ein Gericht hat seine Klage dagegen 2019 abgewiesen. Er ist ein in Jordanien geborener, staatenloser Palästinenser. Die Ausländerbehörde Leipzig hat seine Duldung seitdem mehrfach verlängert, eine so genannte Kettenduldung. Dabei hatte sich gerade Mohammad K. in den letzten sieben Jahren in Deutschland gut integriert, spricht deutsch und hatte Arbeit.

Da Fach- und Arbeitskräfte in der Bundesrepublik dringend gebraucht werden, plant die Bundesregierung für Menschen wie Mohammad K. das Chancen-Aufenthaltsrecht. "Zu den Voraussetzungen gehören vor allen Dingen die Sicherung des Lebensunterhaltes, die Sprachkenntnisse und auch der Identitätsnachweis", hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dazu erklärt.

Das Bundesinnenministerium gab bekannt, die neue Regelung beträfe rund 136.000 bereits gut integrierte Menschen, die seit mindestens fünf Jahren geduldet, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen. Der Bundesrat hat über den Entwurf beraten, als nächstes steht die Verabschiedung im Bundestag an. Das Gesetz könnte noch in diesem Jahr in Kraft treten.

Viele Länder setzen bestimmte Abschiebungen vorerst aus

Die meisten Bundesländer handeln bereits jetzt im Sinne des Gesetzentwurfs – dies nennt sich Vorgriffsregelung. Das bedeute nicht, dass das Gesetz vorweggenommen werde, sagt die rechtspolitische Sprecherin bei Pro Asyl, Wiebke Judith. "Sondern was sie machen ist letztlich, dass bei den Menschen, die seit fünf Jahren hier sind und nicht straffällig geworden sind, die stellen wir hinten an."

MDR exakt hat alle 16 Bundesländer angefragt, ob sie die Vorgriffsregelung in Bezug auf das Chancen-Aufenthaltsrecht anwenden. Elf Bundesländer tun dies. Baden-Württemberg geht einen Sonderweg. In Bayern, Hamburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt wird die Vorgriffsregelung nicht angewendet.

Im Gegensatz zu etwa Thüringen: "Thüringen wendet die Vorgriffsregelung an, weil wir in Thüringen dringend Arbeitskräfte und Fachkräfte brauchen", sagt der Minister für Migration, Justiz und Verbraucherschutz im Freistaat, Dirk Adams (Grüne). Es würden die Menschen vom Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren, die häufig schon arbeiten und länger in Deutschland leben. "Und wir wollen nicht, dass sie kurz vor Gültigkeit dieses Gesetzes noch ausgewiesen, also zur Ausreise aufgefordert werden, weil wir eben diese Menschen dringend brauchen."

Thüringen wendet die Vorgriffsregelung an, weil wir in Thüringen dringend Arbeitskräfte und Fachkräfte brauchen.

Dirk Adams | Minister für Migration, Justiz und Verbraucherschutz in Thüringen

Mohammad K. hatte bei Bäcker in Leipzig gearbeitet

Auch Mohammad K. wird dringend gebraucht, sagt sein Arbeitgeber. Doch die Filiale der Bäckerei liegt in Sachsen. 2020 hat die Ausländerbehörde in Leipzig Mohammad Ks. Arbeitserlaubnis gestrichen. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits vier Jahre als Verkäufer tätig. "Es gab einen gültigen Arbeitsvertrag, unbefristet", sagt Lukas Grieser, Geschäftsführer des LUKAS Bäckers am Augustusplatz. Dennoch durfte er ihn ab dann nicht mehr weiterbeschäftigen. "Es gab das Angebot eines Ausbildungsverhältnisses und dann noch obendrauf haben wir sowieso Fachkräftemangel. Also da ist wirklich bei mir Unverständnis gewesen."

Die Leipziger Ausländerbehörde möchte aus Datenschutzgründen nichts zum Fall sagen. Bei der Recherche erfährt MDR exakt: Der Reisepass von Mohammad K. sei zwischenzeitlich abgelaufen, er habe sich nicht ausreichend um eine Verlängerung gekümmert.

 Sachsen setzt Abschiebungen nicht aus

Warum setzt Sachsen bei Fällen wie den von Mohammad K. die Abschiebungen nicht aus? Über das Landesverwaltungsamt liegt die Fach- und Dienstaufsicht über die Ausländerbehörden beim Sächsischen Innenministerium – dort hat MDR exakt nachgefragt und es wurde mitgeteilt: "Somit ist es aus unserer Sicht nicht möglich, die Ausländerbehörden – im Vorgriff auf eine noch nicht geltende bundesrechtliche Regelung – anzuweisen, geltendes Recht nicht anzuwenden bzw. hier konkret von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bei vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern abzusehen.”

Doch durch das Vorgehen der Bundesregierung zeichne sich ein Wandel ab, sagt der Rechtsanwalt Robin Michalke aus Leipzig, der sich auf Asyl- und Migrationsrecht spezialisiert hat. Weg "von diesem ordnungspolitischen Gedanken auf Sicherheit, hin zu Migration eher als soziale Frage".

Chancen-Aufenthaltsrecht, Spurwechsel oder Abschiebung für Mohammad K.?

Robin Michalke vertritt auch Mohammad K.. Der war nur einen Tag in der Dresdner Abschiebehaft. Dann hat der Sächsische Ausländerbeauftragte die Härtefallkommission angerufen, um den Fall gesondert prüfen zu lassen. Das wird wohl einige Wochen dauern. Aber auch wenn Mohammad inzwischen wieder auf freiem Fuß ist, solange will sein Rechtsanwalt nicht warten. Denn das Chancen-Aufenthaltsrecht könnte für seinen Mandanten zu spät kommen.

Stattdessen hofft Robin Michalke auf eine Ausbildungs-Duldung, damit Mohammad K. noch in diesem Monat eine Lehre beim Leipziger Bäcker beginnen kann: "Mit der Ausbildungs-Duldung gibt es halt die Möglichkeit diese Ausbildung zu vollenden und im Anschluss dann diesen Spurwechsel zu machen", sagt der Rechtsanwalt. Mit dem Spurwechsel könnte Mohammad K. einen wirklichen Aufenthaltstitel und so die Möglichkeit erhalten in ein unbefristetes Aufenthaltsrecht zu kommen. Darauf hofft auch Mohammad K.: "Sachsen ist gut. Die Leute hier sind gut. Die Regeln sind ein bisschen schwierig, aber das kommt."

Anmerkung der RedaktionIn Ausnahmefällen von besonderer Tragweite berichtet der Mitteldeutsche Rundfunk über Vorfälle mit Selbsttötungs-Absichten.

Sollten Sie selbst Suizid-Gedanken haben oder Hilfe benötigen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Beratung erhalten Sie unter den kostenlosen Rufnummern 0800-1110111 und 0800-1110222. Auch hier gibt es hilfreiche Informationen:

Quelle: MDR exakt/ mpö

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