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Der Halle-Attentäter muss wieder auf der Anklagebank Platz nehmen. Bildrechte: MDR/dpa

Zweiter Prozess gegen Halle-AttentäterReportage: Minuten, die alles verändertenRoland Jäger, MDR SACHSEN-ANHALT

29. Januar 2024, 18:35 Uhr

Am zweiten Verhandlungstag gegen den Halle-Attentäter sprechen die beiden JVA-Beamten, die er bei seinem Fluchtversuch als Geiseln genommen hatte. Die wenigen Minuten, die sie in der Gewalt des Angeklagten waren, haben das Leben beider einschneidend verändert. Außerdem gibt es nach ihren Aussagen nun ein genaues Bild über den Verlauf der Geiselnahme in der JVA-Burg.

Es ist der zweite Verhandlungstag gegen den Geiselnehmer in der JVA-Halle, der auch der Attentäter des Halle-Anschlags ist: Das Zuschauerinteresse ist vergleichbar mit dem Prozessauftakt. Das Interesse der Medien hingegen ist schon deutlich geringer. Dabei sagen heute die beiden wohl wichtigsten Zeugen aus: Die beiden JVA-Beamten, die vom Angeklagten bei seinem Fluchtversuch in seine Gewalt gebracht wurden.

Der erste Zeuge tritt sichtlich nervös in den Zeugenstand. Er war derjenige, der den Angeklagten am Montagabend des 12. Dezembers 2022 in dessen Haftraum einschließen wollte. Der Gefangene habe hinter einer Tür gestanden und ihn dann mit einer Waffe bedroht. Zum Prozessauftakt hatte der Angeklagte in seinem Geständnis gesagt, er habe die Waffe am Wochenende aus Alltagsgegenständen gebaut.

Weitere Schilderungen aus dem Gerichtssaal sehen Sie im Interview von MDR-Reporter Roland Jäger bei SACHSEN-ANHALT HEUTE:

Angeklagter tritt mit Waffe aus der Tür

Der Angeklagte sei hinter der Tür hervorgetreten und habe den Schussapparat auf Hüfthöhe gehalten – und aufgefordert, mit ihm hinauszugehen. Ein Kollege habe Sichtkontakt gehabt. Dieser Kollege sagte später selbst als Zeuge aus: Er habe die Situation im ersten Moment nicht als Gefahrenlage erkannt und geglaubt, der Gefangene sei mit dem ersten Beamten auf dem Weg in einen Freizeitraum, dessen Eingang direkt neben der Tür zum Treppenhaus liegt.

Dass diese Annahme falsch war, stellte sich erst heraus, als die erste Geisel im Treppenhaus über seine Ausrüstung einen Alarm auslöste. Geisel und Gefangener gingen die Treppe zum Freistundenhof hinab, eine Gruppe von anderen Beamten folgte beiden, als der Alarm ausgelöst wurde. "Als ich die Tür zum Freistundenhof nicht aufbekommen habe, hat er gesagt, er würde mich umbringen", sagt der Zeuge.

Als ich die Tür zum Freistundenhof nicht aufbekommen habe, hat er gesagt, er würde mich umbringen.

Zeugenaussage eines JVA-Beamten

Anweisung der Anstaltsleitung: "Die Tore bleiben zu.”

Die Beamten in der Sicherheitszentrale, die über Funk den Wortwechsel zwischen dem Gefangenen und der Geisel mithören konnten, haben die Tür aus Angst um ihren Kollegen freigegeben, wie beide später aussagen. Weitere Türen und Tore folgten. Von der Anstaltsleitung, die zu diesem Zeitpunkt bereits informiert worden war, habe es nur eine einzige Handlungsanweisung gegeben: Der Gefangene dürfe die JVA nicht verlassen. "Die Tore bleiben zu.”

Die erste Geisel hat etwa zehn Minuten in der Gewalt des Gefangenen erlebt, die sie bis heute nicht vergessen kann – das spiegelt sich daran, wie der Beamte spricht: Seine Stimme zittert vor Nervosität ebenso wie seine Hände. Der Beamte sagt mehrfach, er sei in Todesangst gewesen. Unten, auf dem schneebedeckten Freistundenhof, habe er ein weiteres Tor öffnen sollen, doch vor Nervosität habe er das nicht geschafft. Der Angeklagte habe einen Countdown heruntergezählt und gedroht, ihn bei null zu erschießen. "Er hatte Publikum. Die Gefangenen standen alle am Fenster. Warum hätte er nicht schießen sollen", fragt der JVA-Beamte.

Er hatte Publikum. Die Gefangenen standen alle am Fenster. Warum hätte er nicht schießen sollen?

Zeugenaussage eines JVA-Beamten

Die Beamten, die die Lage beobachten, gehen davon aus, dass der Gefangene mit einer Maschinenpistole bewaffnet ist. So sagt der Leiter der Sicherheitszentrale aus, er habe auf den Kamerabildern eine "Uzi" erkannt. Der Gefangene selbst habe den Beamten auf dem Hof zugerufen, er habe eine Maschinenpistole, schildern andere Zeugen. Tatsächlich hatte es sich um einen improvisierten Schussapparat gehandelt, der nur einen einzigen Schuss abfeuern konnte – was die Beamten aber nicht wissen konnten.

Der AttentäterDer Angeklagte verbüßt wegen seines rassistischen und antisemitischen Anschlags in Halle eine lebenslange Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Er hatte im Oktober 2019 an Jom Kippur versucht, in eine Synagoge einzudringen, um Jüdinnen und Juden mit selbstgebauten Waffen zu töten. Als ihm das nicht gelang, hatte er außerhalb zwei Menschen ermordet und weitere verletzt.

Ein Kollege tauscht sich selbst als Geisel ein 

Ein anderer Beamter aus der Verfolgergruppe trat hinzu, um seinem nervösen Kollegen zu helfen, das Tor des Freistundenhofes zu öffnen – so schildert er es als zweiter Zeuge am heutigen Verhandlungstag. Es ist derselbe Beamte, der die Geiselnahme im Zellentrakt gesehen und im ersten Moment nicht als solche erkannt hatte. Am Tor auf dem Freistundenhof sei er sich der Gefahr hingegen völlig bewusst gewesen. Die Richterin kommentiert seinen Entschluss, dem Kollegen zu helfen, als "umso respektabler".

Er habe das Tor geöffnet, das von der Sicherheitszentrale zuvor freigegeben wurde – und wurde danach vom Angeklagten als zweite Geisel genommen, während die erste zurückblieb. Auch dieser Beamte sagt aus, er habe Kontakt über das Personen-Sicherheitssystem mit der Sicherheitszentrale der JVA gehabt. Weil die Polizei bereits auf dem Weg war, habe er die Anweisung bekommen, nicht zu schnell zu machen.

Ich hatte die Anweisung: Die Polizei ist auf dem Weg, mach nicht zu schnell.

Zeugenaussage eines JVA-Beamten


Die Sicherheitszentrale gab nach und nach weitere Tore frei – zeitverzögert, um Zeit für die bereits alarmierte Polizei zu gewinnen. Der Angeklagte umrundete mit der Geisel auf einer Feuerwehrzufahrt einmal den Innenbereich des Gefängnisses – beobachtet über Sicherheitskameras. Als die erste Polizeisirene draußen zu hören gewesen sei, sei die Nervosität des Gefangenen so groß geworden, dass sie dem JVA-Beamten in dessen Gewalt Angst eingejagt habe. 

Kfz-Schleuse: Tor nicht zu überwinden

Ein letztes Tor wird geöffnet; als letzte Hürde bleibt die Kfz-Schleuse der JVA. Doch dieses Haupttor kann von der Geisel nicht geöffnet werden – das ist nach den Aussagen der Beamten aus der Sicherheitszentrale technisch nicht möglich. Der Angeklagte feuerte einen Schuss in Richtung des Zaunes ab, um den Druck auf Geisel und die Beamten in der Sicherheitszentrale weiter zu erhöhen: "Es kam eine Rauchspur oder Schmauchspur aus dem Lauf und ein lauter Knall", sagt der Zeuge und ergänzt: "Man wusste: Die Waffe funktioniert. Er hatte die Waffen für seine erste Tat auch selbst gebaut. Von Todesangst möchte ich da schon reden. Nicht auf den ersten Metern, da noch nicht. Aber vor der Schleuse, als er die Kontrolle verloren hatte, immer mehr."

Man wusste: Die Waffe funktioniert. Er hatte die Waffen für seine erste Tat auch selbst gebaut. Von Todesangst möchte ich da schon reden. Nicht auf den ersten Metern, da noch nicht. Aber vor der Schleuse, als er die Kontrolle verloren hatte, immer mehr.

Zeugenaussage eines JVA-Beamten

In dem Moment, als der Schuss fiel, entschloss sich der Beamte zur Flucht. Kurz zuvor habe der Gefangene gesagt, er wolle in Freiheit sterben. "Wer seinen Tod in Kauf nimmt, würde auch meinen Tod in Kauf nehmen", sagt der Zeuge weiter. Der Gefangene sei auf- und abgelaufen, habe sich immer wieder von ihm ein wenig entfernt. Als er sich kurz umgesehen habe, sei er von dem Gefangenen fortgerannt. Sofort griffen die anderen Beamten aus der Verfolgergruppe ein und überwältigten den Gefangenen. 

Insgesamt hatte die zweite Geisel etwa eine halbe Stunde in der Gewalt des Gefangenen verbracht: "Laut der Uhr war’s nicht lange. Gefühlt war es eine halbe Ewigkeit."

Trauma als Spätfolge

Der zweite Zeuge sagt aus, er habe noch in der Nacht ein Gespräch mit der Psychologin der JVA angeboten bekommen. Das zu führen sei dann aber zeitlich nicht möglich gewesen, "weil die Dame nicht konnte oder wollte." Er habe noch in der Nacht auf dem Polizeirevier Burg ausgesagt und völlig erschöpft "zum letzten Mal in meinem Leben durchgeschlafen." Seitdem leide er unter Schlafproblemen und Panikattacken.

Der erste Zeuge, der zuerst als Geisel genommen wurde, hatte am Folgetag direkt wieder Dienst. Nach einem Anruf vom Opferschutz habe er Ende Januar 2023 einen Psychologen aufgesucht und sei krankgeschrieben worden. Die Gespräche seien gut gelaufen, er habe seinen Dienst wieder angetreten. Der Dezember 2023 sei ein Wendepunkt gewesen: Als Schnee auf dem Freistundenhof gelegen habe, er zufällig wieder in der Spätschicht im selben Trakt eingeteilt gewesen sei, habe das einen Flashback ausgelöst – seitdem leide er unter anderem unter Albträumen.

Der weitere Verlauf des Prozesses

Die wichtigsten Zeugen haben nun ausgesagt – die Betroffenen der Geiselnahme ebenso wie die JVA-Beamten, die das Geschehen in der Sicherheitszentrale beobachtet und Türen freigegeben haben und die Mitarbeiter, die den Gefangenen und dessen Geiseln auf dem Weg durch die Anstalt folgten – und ihn schließlich auch überwältigten. 

Am Mittwoch, 31. Januar 2024, soll ein Sachverständiger das psychologische Gutachten über den Angeklagten vorstellen – der gleiche Experte, der auch im Prozess nach dem Anschlag in Halle ausgesagt hatte. Das Verfahren soll am 29. Februar 2024 enden – spätestens. Denn die Vorsitzende Richter ließ nach Medienangaben durchblicken, dass das Urteil schon früher fallen könnte. 

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MDR (Roland Jäger)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 29. Januar 2024 | 19:00 Uhr

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