Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
SachsenSachsen-AnhaltThüringenDeutschlandWeltLeben
"Silbersee Brüchau sofort restlos auskoffern" – dafür kämpfen Karl-Heinz Friedrichs (l.) und Christfried Lenz. Bildrechte: MDR/Daniel George

BürgerinitiativeKampf gegen Giftmüll: Über zwei ungleiche Rentner und ihre Vision vom unabhängigen Brüchau

14. März 2022, 19:23 Uhr

Der so genannte Silbersee im altmärkischen Dorf Brüchau gilt als eine der gefährlichsten Giftmülldeponien Sachsen-Anhalts. Karl-Heinz Friedrichs und Christfried Lenz kämpfen seit Jahren für die Auskofferung der Grube. Sie haben die Politik überzeugt – und nun doch das Gefühl, dass ihr Protest nicht mehr ausreicht. Teil 2 des MDR-Themenschwerpunktes über Müll in Sachsen-Anhalt.

  • Im Juni 2020 beschloss der Landtag einstimmig, dass die Grube in Brüchau ausgebaggert und deren Inhalt auf anderen Deponien sicher gelagert werden soll. Das geschah auch auf Drängen der Bürgerinitiative "Saubere Umwelt und Energie Altmark".
  • Doch passiert ist seitdem nichts. Der Gruben-Betreiber hat nun erneut gegen die Anordnung zur Auskofferung geklagt. Karl-Heinz Friedrichs und Christfried Lenz von der ansässigen Bürgerinitiative befürchten eine Verschleppung.
  • Seit Jahren kämpfen die Rentner gegen den Giftmüll in der Altmark und für die Umwelt. Doch sie haben das Gefühl, ihr Protest reicht nicht mehr aus – und wollen die Anwohner deshalb animieren, selbst aktiv zu werden.

Damit Karl-Heinz Friedrichs trommeln kann, hält Christfried Lenz ihm den Hut. Den hätte der Wind an diesem stürmischen Montagmittag sonst nämlich vom Kopf geweht. Vielleicht sogar über den meterhohen Zaun hinweg, wohl mitten hinein in das große Übel: die Giftschlammgrube Brüchau.

2012 wurde die Grube stillgelegt. Doch Altlasten aus 40 Jahren Erdgasförderung lagern dort noch immer. In Zahlen: 1.400 Kilogramm Arsenstoffe, 9.000 Tonnen Säuren und 250 Tonnen Quecksilber. Eine knapp 80 Zentimeter dicke Mergelschicht am Boden der Grube, mehr Schutz für das Grundwasser gibt es nicht. Viele Menschen in dem altmärkischen Dorf nahe der niedersächsischen Grenze sorgen sich seit Jahren, manche seit Jahrzehnten.

Karl-Heinz Friedrichs, 71 Jahre alt, und Christfried Lenz, 78, haben ihre Lebenszeit in den vergangenen sieben Jahren zu weiten Teilen dem Kampf gegen die Giftmülldeponie gewidmet. Und ihre Bürgerinitiative "Saubere Umwelt und Energie Altmark" war erfolgreich: Im Juni 2020 beschloss der Landtag von Sachsen-Anhalt einstimmig, dass die Grube ausgebaggert und deren Inhalt auf anderen Deponien sicher gelagert werden soll. Die so genannte Auskofferung ist seitdem beschlossene Sache. Eigentlich. Denn passiert ist noch nichts.

"Wir haben das Maximale auf der politischen Ebene erreicht. Aber nun stellt sich heraus, dass das Unternehmen immer wieder Möglichkeiten findet, das Ganze zu verzögern und vielleicht doch noch zu Fall zu bringen", sagt Christfried Lenz. "Da fragen wir uns doch, was das für eine Regierung ist, dem dieses Wirtschaftsunternehmen offenbar auf der Nase herumtanzen kann."

Auskofferung in Gefahr? Anwohner fürchten Verschleppung

Ein Vorwurf, dem sich kürzlich auch Sachsen-Anhalts Umweltminister Armin Willingmann (SPD) bei einem Besuch in Brüchau stellen musste. Hintergrund der Unzufriedenheit in Brüchau: Der Betreiber der Giftschlammgrube hat erneut Klage eingereicht. Bis 31. Juli dieses Jahres sollte das Unternehmen einen Abschlussbetriebsplan zur Auskofferung der Deponie vorlegen. Dieser Termin ist durch die Klage nun wohl nicht zu halten. Anwohner fürchten eine Verschleppung der Sanierung des so genannten Silbersees.

Christfried Lenz sagt: "Die werden sich immer wieder dagegen sträuben und somit ja zumindest einen Aufschub erreichen. Der Wille ist einfach nicht da."

Doch: "Das ist nun einmal das, was in einem Rechtsstaat möglich ist und das sollten wir auch nicht tadeln", sagte Umweltminister Willingmann zur Klage. "Es gibt selbstverständlich gegen alle Entscheidungen von Behörden die Möglichkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes und solche Entscheidungen von Behörden dürfen auch überprüft werden. Dagegen ist nichts zu sagen und deswegen muss man an dieser Stelle die Verzögerung hinnehmen."

Eine Sprecherin des Gruben-Betreibers Neptune Energy erklärte auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT zur aktuellen Situation: "Neptune Energy respektiert den Beschluss des Oberverwaltungsgerichtes für das Land Sachsen-Anhalt und hat unmittelbar nach der Zustellung des Beschlusses begonnen, den gewünschten Abschlussbetriebsplan zu erstellen."

Und weiter: "Neptune Energy setzt sich folglich in der dieser erneuten Klage beim VG Magdeburg – anders als bei der ersten Klage – nicht gegen den Wunsch eines Abschlussbetriebsplanes mit dem Inhalt der vollständigen Auskofferung der Obertagedeponie Brüchau zur Wehr. Vielmehr wehrt sich Neptune Energy mit dieser Klage gegen die behördlich gesetzte Zeitvorgabe, die schlechterdings unrealistisch ist, damit ein Abschlussbetriebsplan, welcher den gesetzlichen Anforderungen genügt, erstellt werden kann."

Zusammengefasst bedeutet das: Dem Betreiber geht es nach eigenem Bekunden gar nicht darum, die Grube nicht auskoffern zu wollen. Es sei nur der Zeitplan, der so nicht funktioniere. Der Abschlussbetriebsplan werde jedenfalls derzeit erstellt, so die Sprecherin.

"Eine Hand voll Leute" gegen "die Weltkonzerne"

Nur: Karl-Heinz Friedrichs und Christfried Lenz nehmen Unrecht – und das geschieht in ihren Augen gerade in Brüchau – nicht einfach hin. Haben sie noch nie getan. Beide waren Gewerkschafter. Lenz als Kraftfahrer bei der Stadtreinigung in Mannheim, Friedrichs bei einem großen Telekommunikations-Unternehmen in der Altmark.

So kamen die Männer ins Gespräch, als Friedrichs, von allen nur "Mojo" genannt, das Telefon von Lenz anschloss. Anfang der 2000er war das. Für 4.000 Euro hatte Lenz damals einen baufälligen Hof in Apenburg-Winterfeld, zehn Autominuten von Brüchau entfernt, gekauft. Dort lebt der 78-Jährige als Selbstversorger mit 890 Euro Rente im Monat. Das bedeutet: Er versorgt sich selbst mit Strom, Wärme und Essen, lebt so nachhaltig wie möglich.

Auch Friedrichs könnte sein Rentnerdasein inzwischen genießen. Macht er aber nicht. Genau so wenig wie Lenz. Beide sind unterwegs. Andauernd. Seit 2010 nun schon. Damals wurde die Bürgerinitiative "Kein CO2-Endlager Altmark" gegründet. Die hatte mit dem "Silbersee" von Brüchau erst einmal gar nichts zu tun.

In Salzwedel-Maxdorf sollte damals eine Pumpanlage zur CO2-Verpressung in ausgebeutete Erdgaskavernen tief unter der Erde in Betrieb gehen. Die Region wehrte sich gegen das Endlager, angeführt von der Bürgerinitiative. Die Anlage wurde schließlich abgebaut.

Die Energieunternehmen Gaz de France und Vattenfall zogen sich von den Plänen zurück. "Dass wir zwei Weltkonzerne mit einer Hand voll Leute daran gehindert haben, ihr Projekt zu verwirklichen, war schon sehr beachtlich", sagt Christfried Lenz heute. Später benannte sich die Initiative in "Saubere Umwelt und Energie Altmark" um.

Mit Trommel und Hut gegen die "Schlipsträger"

Auch, wenn die Giftschlammgrube in Brüchau in den vergangenen Jahren das dominierenden Thema war: Für Christfried Lenz und Karl-Heinz Friedrichs geht es um mehr als diese eine Angelegenheit. Es geht um die Umwelt im Ganzen. Und es geht darum, was jeder Einzelne tun kann.

"Der Mensch kommt gegen die Natur nicht an. Das vergessen die ganzen Schlipsträger oft. Die denken alle nur an ihren breiten Schlips", sagt Karl-Heinz Friedrichs. Solche Sätze lassen ahnen: Sein Kampf für die Umwelt ist für ihn auch so ein bisschen der Kampf gegen die da oben. Besser gesagt: Er ist durch die Erfahrungen der vergangenen Jahre dazu geworden.

Deutschlandweit demonstrierte der gebürtige Altmärker bereits. In Profen zum Beispiel. Oder auch bei den "Fridays-for-Future"-Demonstrationen, zum Beispiel in Magdeburg. Und "Mojo" fällt durch seinen mit Stickern verzierten Spitzhut und seine Trommel auf.

"Ich komme bei jeder Demo zu ordentlichen Gesprächen mit den Leuten, auch, wenn ich Trommel und Hut ablege", sagt Friedrichs. Aber: "Wenn Eltern mit Kindern dabei sind, biete ich ihnen auch immer an, die Kinder mal trommeln zu lassen – um ihnen zu zeigen, dass du mit ein bisschen Trommeln ordentlich was bewegen kannst."

Alles anzeigen

Überhaupt: das Miteinander der Generation, ein wichtiger Punkt für den Umwelt-Aktivisten. "Am besten ist es, wenn bei der Demo 50 Prozent jüngere Leute sind, die etwas für ihre Zukunft tun und 50 Prozent ältere, die auch etwas für die Zukunft der jüngeren tun", sagt der Rentner. "Nur so, nämlich gemeinsam, können wir die Welt so erhalten, wie wir sie vorgefunden haben – und wie unsere Kinder und Enkel sie auch noch haben sollen."

Kurze Pause. Dann noch ein kleiner "Tritt" nach oben: "Das müssen die Schlipsträger auch endlich mal begreifen." Friedrichs trägt an diesem Tag übrigens Jeans und Pullover. Ohne Schlips, versteht sich.

Die Vision vom unabhängigen Brüchau

Auf der einen Seite: Karl-Heinz Friedrichs – der Mann des Volkes, einer, der selbst hochrangigen Politikern seine Meinung so direkt wie möglich sagt und Provokationen mag. Und auf der anderen Seite: Christfried Lenz – eher der Philosoph, der jedes seiner Worte mit Bedacht wählt, mit ruhiger Stimme spricht. "Unterschiedlicher", sagt Lenz, "könnten wir eigentlich kaum sein. Dass wir so ein super Team sind, sorgt immer wieder für Erstaunen."

Ratlos könnten sie sein angesichts der aktuellen Situation rund um den "Silbersee" in Brüchau. Denn: "Wir denken, dass das Unternehmen keine Gelegenheit versäumen wird, die Auskofferung weiter hinauszuzögern", sagt Christfried Lenz. Doch anstatt zu resignieren, denken die Köpfe der Bürgerinitiative weiter: "Wenn wir einfach so weitermachen, wäre das eine reine Beschäftigungstherapie", sagt Lenz. "Und das bloße Protestieren ist am Ende lediglich eine Bestätigung, dass die anderen oben sind und wir unten."

Also "müssen wir unsere eigene Kraft anwenden", so der 78-Jährige. Seine Vision für Brüchau: Das Dorf soll perspektivisch seine eigene Energie erzeugen. Das Giftmüllproblem wäre so zwar nicht gelöst. Doch Lenz sagt: "Dadurch wäre Brüchau sowohl von diesem Staat, der anscheinend nur Worte produziert, aber nicht handelt, unabhängig und eben auch von der Wirtschaft, den Stromkonzernen." Und Karl-Heinz Friedrichs nennt das: "Ein Stück weit Emanzipation gegenüber der Obrigkeit."

Christfried Lenz nickt: "Genau, Mojo, sehr gut formuliert." Und dann sagt er noch: "Ich hoffe, dass die Menschen sich nicht nur auf den Staat verlassen. Denn wir sehen ja am Beispiel Brüchau, dass dem offenbar Grenzen gesetzt sind. Und vor den Auswirkungen des Klimawandels wird der Staat mehr und mehr kapitulieren. Die Menschen müssen sehen, dass wir selber aktiv werden müssen, wenn wir unsere Lebensbedingungen auf dieser Welt erhalten wollen. Wir können nicht mehr nur gegen Schlechtes protestieren und darauf hoffen, dass andere es besser machen, sondern wir müssen die Dinge mit positivem Handeln selbst in die Hand nehmen."

Über den AutorDaniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.

Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt. Bei MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet er seitdem als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.

Mehr zum Thema

MDR (Daniel George)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 13. März 2022 | 19:00 Uhr

Kommentare

Laden ...
Alles anzeigen
Alles anzeigen