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Corinna Köbele mit dem Künstler Joshua im "Alten Gericht" in Kalbe (Milde) Bildrechte: MDR Fernsehen

Geld von der EUZulasten der Künstlerstadt Kalbe: CDU-Streit zwischen zwei Vereinen um Millionenförderung

18. August 2023, 05:00 Uhr

Bürgerinnen und Bürger in der Altmark warten auf elf Millionen Euro EU-Fördermittel. Die werden derzeit durch einen Rechtsstreit blockiert. Zwei, von CDU-Politikern geführte Vereine, streiten sich darum, wer das Geld ausgeben darf. Damit droht vielen Erfolgs-Projekten das Aus.

Corinna Köbele steht in den Räumen ihres Vereins "Künstlerstadt Kalbe". Hier malen, zeichnen und musizieren Künstlerinnen und Künstler aus verschiedenen Nationen. Möglich macht das ein Stipendium, das mit Fördergeldern der Europäischen Union (EU) finanziert wird. Das denkmalgeschützte Haus in Kalbe (Milde) gehört dem Verein, es ist stark baufällig, von den Wänden bröckelt der Putz. Die Sanierung ist neben der Erhaltung bestehender Projekte eines der Vorhaben, die Köbele gerne umsetzen würde.

Viel Vereins-Arbeit der Künstlerstadt Kalbe steht still

Doch derzeit steht vieles still bei der Vereins-Arbeit: "Wir können mit unseren Projekt-Ideen derzeit nicht starten. Und das ist ziemlich fatal, denn wir sind auf diese Gelder angewiesen", erzählt Köbele, die Vorstandsvorsitzende des Vereins. Neben der Instandhaltung leer stehender Häuser organisiert der Verein regelmäßig Kulturveranstaltungen wie Konzerte und Festivals.

Bisher kam das Geld aus dem sogenannten LEADER-Topf der Europäischen Union, ganze 11 Millionen Euro sind in der jetzigen Förderperiode von 2021-2027 für das Gebiet der Mittleren Altmark vorgesehen. Zwei Vereine streiten derzeit, wer über die 11 Millionen Euro entscheiden darf, nur ein Verein kann vom Land als sogenannte Lokale Aktionsgruppe (LAG) anerkannt werden, so steht es im Wettbewerbs-Aufruf.

Die Gebiets-Kulissen der Lokalen Aktionsgruppen finden sich durch die planenden Interessens-Gruppen selbst zusammen und umfasst für die Mittlere Altmark-Region die Verbands- und Einheitsgemeinden Arneburg-Goldbeck, Seehausen, Stadt Kalbe (Milde), Hansestadt Osterburg und Stadt Bismark. Die Kommunen gehören alle zum Landkreis Stendal, bis auf die Stadt Kalbe im Altmarkkreis Salzwedel.

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Aus dem im Juni 2022 gegründeten Verein "Mittlere Altmark" traten die Vertreterinnen und Vertreter der Kommunen wieder aus. Eine Woche später gründeten sie einen zweiten Verein: "Altmark Mitte". Der bekam Ende 2022 einen positiven Bescheid vom Finanzministerium, der federführenden Behörde. Grundlage für die Entscheidung ist die eingereichte Lokale Entwicklungsstrategie (LES) für die Region, die überzeugen konnte. Dort sind unter anderem auch neun Projekt-Ideen der "Künstlerstadt Kalbe" gelistet, die mit insgesamt einer Million Euro gefördert werden sollen.

Doch offenbar will auch der Verein "Mittlere Altmark" darüber bestimmen, wohin das Fördergeld fließt. Die Verantwortlichen haben zunächst Widerspruch gegen die Entscheidung eingereicht, den Verein "Altmark Mitte" zur LAG zu machen – und schließlich gegen das Land geklagt. Das hat Auswirkungen, sagt Annegret Schwarz. Die CDU-Politikerin ist Bürgermeisterin von Bismark und zweite Vorsitzende von "Altmark Mitte" und hängt derzeit in der Luft. "Es sind Projekte für 2024 drin, und wenn wir nicht weiterkommen, bedeutet es das Aus der Projekte. Für die Sozialpartner ist das ganz furchtbar, aber auch für die Kommunen stoppt es die Entwicklung der Region."

Bildrechte: Finanzministerium Sachsen-Anhalt

Was ist LEADER?LEADER steht kurz für "Liaison entre actions de développement de l'économie rurale", zu dt.: Verbindung zwischen Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft. LEADER ist eine Gemeinschaftsinitiative der Europäischen Union, die Vorhaben und Projekte lokaler Akteurinnen und Akteure im ländlichen Raum fördert. Sogenannte Lokale Aktionsgruppen (LAGs) erarbeiten vor Ort regionale Entwicklungsstrategien (LES) und entscheiden nach einem "bottom up"-Prinzip (zu dt.: von unten) möglichst eigenständig, welche Vorhaben mit den vorhandenen Fördermitteln unterstützt und umgesetzt werden sollen. Seit der jetzigen Förderperiode von 2021-2027 müssen diese LAGs als Verein eingetragen sein.

LEADER umfasst drei Fonds:
- ELER: Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes
- EFRE: Europäischer Fonds für regionale Entwicklung
- ESF+: Europäischer Sozialfonds

Insgesamt stehen dem Land Sachsen-Anhalt 315,8 Millionen Euro für LEADER/CLLD zur Verfügung. Davon sind 156,8 Millionen Euro im ELER-Topf, knapp 19 Millionen im EFS+ und im EFRE-Topf sind 140 Millionen Euro, davon 25 Millionen Euro für die LEADER-Managements der 24 LAGs.
In Sachsen-Anhalt gibt es 24 LAG-Regionen, die flächendeckend das ganze Land abdecken. Das Gebiet 2 ist das Gebiet der Mittleren Altmark, dort streiten zwei Vereine um die Anerkennung als Lokale Aktionsgruppe.

Klage verzögert LEADER-Verfahren in der Region

Gleichzeitig klagt der Verein "Mittlere Altmark” gegen seinen eigenen Ablehnungsbescheid, beide Klagen richten sich damit gegen das Land. Darüber hatte zuletzt auch die Volksstimme berichtet. Zum laufenden Verfahren darf sich das Verwaltungsgericht Magdeburg nicht äußern. Die anderen 23 Lokalen Aktionsgruppen des Landes können nun damit beginnen, die LEADER-Managements auszuschreiben, die den LEADER-Prozess in den Regionen unterstützen. Dafür sind bereits insgesamt 25 Millionen Euro vorgesehen. Nur die Arbeit von "Altmark Mitte" pausiert, der Verein ist bis zum Ausgang des Klage-Verfahrens handlungsunfähig. Damit verkürzt sich automatisch der Zeitraum, in dem Projekt-Anträge gestellt werden können. Der Verein "Mittlere Altmark" selbst will sich aufgrund des laufenden Verfahrens nicht äußern.

Auch der Landrat des Landkreises Stendal Patrick Puhlmann (SPD) ist verärgert über das Vorgehen in der Altmark: "Was sich hier abspielt […] kann man als Posse bezeichnen", so der Landrat. Und weiter: "Mit dem Ergebnis am Ende, dass die erste Jahres-Scheibe dieser 11 Millionen wahrscheinlich nicht in die Region fließen wird. Und da frage ich mich natürlich, mit welcher Zielstellung macht man das? […] Aus meiner Sicht, wenn ich sehe, welche Verluste, und was für eine Katastrophe das bedeutet, wenn diese vielen Millionen nicht in die Region fließen, dann stelle ich jetzt mal infrage, ob das Ziel sein kann, die Region voranzubringen."

Was sich hier abspielt, […] kann man als Posse bezeichnen.

Patrick Puhlmann, SPD | Landrat des Landkreises Stendal

Doch nicht nur die Region, auch der Verein "Altmark Mitte" selbst hat wegen des Streits finanzielle Einbußen: 120.000 Euro fehlen bis 2027 allein für die Öffentlichkeitsarbeit – so sagt es Annegret Schwarz, die Co-Vorsitzende. Darunter würden auch die über 180 Projektideen leiden, die von den Bürgerinnen und Bürger der Kommunen umgesetzt werden wollen. Deshalb will der Verein "Altmark Mitte" über einen Eilantrag bewirken, dass sich das Verwaltungsgericht schnell mit der Klage befasst. Ab jetzt könne ganz konkret von einem finanziellen Schaden nicht nur für den Verein, aber auch für die ganze Region gesprochen werden, so Annegret Schwarz.

Vereinsvorsitzenden beider Vereine sind bei der CDU

Im Vorstand beider LEADER-Vereine sitzen lokale und kommunale CDU-Mitglieder. Der klagende Verein "Mittlere Altmark" wird zudem von der Kanzlei des Staats- und Europaministers Rainer Robra, ebenfalls CDU, vertreten. Dessen Rechtsanwalts-Tätigkeit ruht allerdings während der Zeit seiner Amts-Ausübung. Auf der Facebook-Seite des Vereins "Mittlere Altmark" wird zudem aktiv Wahlkampf-Werbung für den CDU-Bürgermeister-Kandidaten Lutz Rosenkranz für die Gemeinde Arneburg-Goldbeck gemacht, der ebenfalls im Vorstand des Vereins sitzt. Ende August soll es zudem eine LEADER-Informationsveranstaltung von "Mittlere Altmark" geben, auf der Rosenkranz in seiner Rolle als CDU-Bürgermeister-Kandidat vorgestellt werden soll.   

Die Anwaltskanzlei des Europaministers „Robra – Remmers – Meyer“ in der Magdeburger Altstadt. Sie vertritt den Verein "Mittlere Altmark" im Klageverfahren. Bildrechte: MDR Fernsehen

In der Kreis- und Landes-CDU will sich niemand dazu äußern, dass sich in der Altmark zwei, von CDU-Politikern geführte Vereine, gerichtlich um 11 Millionen Euro streiten. CDU-Kreisverbandsvorsitzender Chris Schulenburg (CDU), der als Landtagsabgeordneter unter anderem im Europaausschuss sitzt, will sich zum Vorgehen der CDU-Vereinsvorsitzenden, die in seinem Kreisverband aktiv sind, nicht äußern. Auf Anfrage teilt er MDR SACHSEN-ANHALT schriftlich mit: "Ich bin kein Mitglied in einem LEADER-Verein, und als Kreisvorsitzender einer politischen Partei steht es mir nicht zu, die Arbeit von selbstständigen Vereinen zu kommentieren."

Ebenso verweisen Rainer Robra (CDU) und CDU-Landeschef Sven Schulze auf das zuständige Finanzministerium. Die Pressestelle des Finanzministers Michael Richter (CDU) verweist auf das laufende Verfahren.

Junge Menschen brauchen Perspektive

Bei Corinna Köbele trifft das auf Unverständnis. Die Folgen des Streits spürt sie bereits jetzt. Von fünf, aus EU-Mitteln geförderten Stellen des Vereins "Künstlerstadt Kalbe", konnte derzeit nur eine erhalten werden. "Wenn wir Personal einstellen können, das über mehrere Jahre hier lebt und arbeitet, haben wir eine Wirkungskraft, die für die ganze Region eine Bereicherung darstellt", sagt Köbele. Der Verein hatte bereits fest mit dem LEADER-Geld geplant. Der Streit schade aber auch der ganzen Region. "Das macht auch viel Wut. Ich kann es nicht verstehen, diese Konkurrenz-Idee in so einem Gebiet mit 200.000 Menschen. Das finde ich fürchterlich."

Die Kultur-Managerin will mit ihrer Arbeit vor allem junge Menschen in die Region holen und dort halten, um dem Leerstand in Kalbe langfristig etwas entgegenzusetzen. "Junge Menschen zieht es nicht unbedingt in den ländlichen Raum, wenn sie nur eine Perspektive von einem oder zwei Jahre bekommen. Das ist ein großes Risiko", meint Köbele. Doch ohne die EU-Gelder müssten spannende Projekte möglicherweise sterben. Auch vom Land komme keine finanzielle Unterstützung und die Haushalte der Kommunen seien beschränkt.

Ausgang noch unklar

Wann im Klage-Verfahren entschieden wird, kann niemand sagen. Für gewöhnlich können sich solche Gerichtsverfahren aber über mehrere Monate bis Jahre hinziehen. Der Verein "Altmark Mitte" lässt sich anwaltlich beraten und will einen Eilantrag bewirken, um finanziellen Schaden vom Verein, aber auch von der Region abzuwenden. So lange tut sich in der Region nichts. Bis 2027 hofft Corinna Köbele, zumindest noch einige Projekte umsetzen zu können.

Hinter der MDR-RechercheDieser Artikel ist im Rahmen eines neuen Investigativ-Teams des Mitteldeutschen Rundfunks entstanden, in dem Journalistinnen und Journalisten aller drei Funkhäuser (MDR SACHSEN-ANHALT, MDR THÜRINGEN, MDR SACHSEN) zusammenarbeiten. Ziel ist, regionale Kompetenzen zu stärken. Recherche-Schwerpunkte sollen unter anderem Rechtsextremismus, organisierte Kriminalität und Korruption auf kommunaler Ebene sein. Bei Anregungen zu investigativen Themen erreichen Sie das neue Investigativnetzwerk MDR Recherche unter recherche@mdr.de

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MDR (Katharina Gebauer, Mario Köhne)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 18. August 2023 | 19:00 Uhr

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