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Drohende InsolvenzenEnergiekosten belasten Mittelstand: "Alle sind hochgradig nervös"

13. Oktober 2022, 17:07 Uhr

Von 9.000 auf 64.000 Euro monatlich würden die Energiekosten des Reichenbacher Wurstfabrikanten Ralf Schaller im kommenden Jahr steigen, so die Prognose vor wenigen Tagen. Der Gaspreisdeckel lässt den Unternehmer aus dem Vogtland jetzt kurz durchatmen. Doch ein banger Blick in die Zukunft bleibt.

Ralf Schaller kennt schlaflose Nächte. Als Familienunternehmer bleibt das wahrscheinlich nicht aus. Immer muss man sich anpassen, immer verändert sich viel. Groß ist der Preisdruck und klein die Marge in der Lebensmittelbranche. Und immer lastet da diese Verantwortung: für die Familie, die Kinder, die Enkel und die 35 Angestellten. Immer hat Schaller irgendwie gekämpft, doch diesmal fühlt er sich ohnmächtig.

"Der Mittelstand hat keine Möglichkeit, sich aus der Krise herauszuarbeiten. Aus anderen Krisen konnten wir uns allein befreien, doch hier sind wir machtlos", erklärt Schaller. "Die Unternehmer sind geschwächt und mutlos – und mit ihnen die Angestellten." Viele wüssten nicht, was nächstes Jahr ist.

Schaller zuckt mit den Schultern. "Ich weiß als Unternehmer nicht, was ich meinen Angestellten sagen soll", sagt er.

Energiekosten sollten auf das Siebenfache steigen

Noch vor einer Woche hat der Familienunternehmer aus dem Vogtland ganz schwarz und sein Unternehmen in Gefahr gesehen. Seine Energiekosten sollen nach eigenen Berechnungen von 9.000 auf 64.000 Euro monatlich steigen - trotz eigener Photovoltaik-Anlage.

Dazu kommt: Die Preise für Schweinefleisch haben sich mit zwei Euro pro Kilogramm gleichzeitig fast verdoppelt, ebenso die Preise für das Rapsöl, das er für die Mayonnaise der eigenen Fleischkostsalate braucht. Als sich dann noch der Glashersteller meldete – die Fleischerei verkauft viele Konserven an Großkunden – und eine Erhöhung des Glaspreises um 35 Prozent ankündigte, wusste Schaller kurz nicht, um welches Problem er sich zuerst kümmern soll.

Preissteigerungen schwer weiterzugeben

"Ich arbeite mit Handelsketten aus ganz Deutschland zusammen", erklärt Schaller. "Durch Verträge bin ich an sie gebunden und kann nicht von heute auf morgen Preise anheben." Natürlich sei es immer möglich nachzuverhandeln, doch das könne locker ein halbes Jahr dauern. "Diese Zeit muss man erst einmal überbrücken", erklärt der Unternehmer mit Nachdruck. Die Anspannung sitzt ihm förmlich im Nacken.

Unternehmen im Vogtland haben kaum Polster

Als Chef der Wirtschaftsvereinigung Nördliches Vogtland weiß er, dass er nicht allein ist. Andere Unternehmen haben ähnliche Probleme. Doch das hilft ihm nur bedingt. "Wir haben es in den vergangenen Jahren nicht geschafft, uns ein Polster anzulegen." Auch wenn eine Erhöhung um 18 Cent pro Einweckglas erst einmal nach wenig klinge, summierten sich die Beträge. Zudem würde der Handel "ja noch seine Marge draufhauen". Ob der Endverbraucher mit dem viel höheren Preis mitgehe, bleibe fraglich.

Nachfrage sinkt bereits jetzt

Abseits der eigenen Kosten fürchtet der Unternehmer einen Rückgang der Nachfrage. "Wir produzieren zwar viel für den Großhandel, doch wir haben auch eine Filiale", erklärt er. "Dort sieht man schon, dass die Kundschaft extrem aufs Geld guckt. Es wird anders eingekauft und der Umsatz ist rückläufig. Das ist ein Trend in ganz Deutschland." Sowohl in Ost und West würde weniger eingekauft.

Doppel-Wumms lässt Wurstfabrikanten aufatmen

Eine Woche nach dem ersten Gespräch klingt Ralf Schaller am Telefon hörbar erleichtert. Er hat nicht lange Zeit, in einer Stunde beginnen die Verhandlungen mit einem großen Lebensmittelkonzern. Der "Doppel-Wumms" aus Berlin lässt ihn aufatmen. Am Montag hatte eine Experten-Kommission Empfehlungen für Details zum Gaspreisdeckel abgegeben. "Das ist eine Richtung, mit der wir leben können", erklärt Schaller. Zwar seien die Preise trotzdem nicht mit dem zu vergleichen, wie es einmal war. Doch der Gaspreisdeckel sei eine gute Grundlage. "Wir wissen jetzt, worauf wir uns einstellen können."

Gaspreisdeckel verschafft Verschnaufpause

Noch vor einer Woche appellierte Schaller für bezahlbare Energie in der MDR-Sendung "Dienstags direkt". Das Problem sei nicht die Verfügbarkeit, sondern die hohen Preise. Über die Nutzung von Atomkraft und Braunkohle müsse weiterhin gesprochen werden. "Wir müssen jeden Grashalm nehmen, der sich uns jetzt bietet und uns nicht ideologisch verrennen", erklärte er live im Radio.

Wir müssen jeden Grashalm nehmen, der sich uns jetzt bietet und uns nicht ideologisch verrennen.

Ralf Schaller | Unternehmer aus Reichenbach

Jetzt gibt ihm der Gaspreisdeckel Zeit zum Verschnaufen im Energiebeschaffungsmarathon. Dabei gehört Wurstfabrikant Schaller bei Weiten nicht zu denen, die sich noch niemals Gedanken um erneuerbare Energien gemacht haben.

Investition in Erneuerbare Energien

Im Gegenteil. Der gesamte Familienbetrieb habe sich schon seit Jahren für Photovoltaik (PV) entschieden. Auf allen Produktionshallen seien Solarpanels installiert – mit einer Gesamtleistung von 98.000 Kilowatt-Peak. Der Plan ist - oder sollte man besser sagen war – die Leistung auf 160.000 Kilowatt-Peak zu erhöhen. Denn Schaller hat jetzt ein Finanzierungsproblem. "Eigentlich wollte ich die Energieeinsparungen nutzen, um meine Kredite zu tilgen, das wird jetzt nicht ganz klappen." Auch weitere Investitionen in neue Panels seien mit einem Fragezeichen versehen. "Dabei haben sich die Erneuerbaren Energien wirklich gelohnt", sagt Schaller.

Verbrauch drastisch gesenkt

Laut dem Wurstfabrikanten konnte der Gasverbrauch durch neue Technologie halbiert werden, gleichzeitig produziert die PV-Anlage 25 Prozent des benötigten Stroms selbst. Ein neues Kühlhaus mit Wärmepumpe nutze die Abwärme für Heizung und warmes Wasser, die neue Druckluftanlage spare täglich weiter Energie. "Wir führen das Unternehmen in fünfter Generation und wollen es als Familienbetrieb erhalten", sagt Schaller. Man habe sich mit den Investitionen auch für die Zukunft der Familie entschieden.

Viele Fragezeichen Richtung Zukunft

Jetzt auf einmal, seit gut einem dreiviertel Jahr, stehen für die Wurstfabrik Schaller viele Fragezeichen in Richtung Zukunft. "Noch haben wir gut zu tun, doch das kann sich Woche für Woche ändern", erklärt er. "Wenn die ersten Nachzahlungen kommen, geht das große Erwachen los. In der gesamten Lebensmittelbranche wird es nicht einen Unternehmer geben, der momentan keine Probleme für die Zukunft sieht."

In der gesamten Lebensmittelbranche wird es nicht einen Unternehmer geben, der momentan keine Probleme für die Zukunft sieht.

Ralf Schaller | Wurstfabrikant aus Reichenbach im Vogtland

Unternehmen flächendeckend von Insolvenz bedroht

Schaller weiß, dass auch viele andere Unternehmen kämpfen - doch kaum jemand redet über seine Zukunftsängste. "Alle sind hochgradig nervös", erklärt der Chef der Wirtschaftsvereinigung Nördliches Vogtland. "Aussprechen wollen es wenige." Immerhin möchte man "keine schlafenden Hunde wecken und auch noch Auftraggeber verlieren". Schaller wagt eine pessimistische Prognose: "Potenziell sind alle 35 Unternehmen in unserer Wirtschaftsvereinigung von Insolvenz betroffen, wenn sich nichts grundlegend ändert." Der Mittelstand wirtschafte solide, doch die Polster seien nicht riesig.

Potenziell sind alle 35 Unternehmen in unserer Wirtschaftsvereinigung von Insolvenz betroffen, wenn sich nichts grundlegend ändert.

Ralf Schaller | Chef der Wirtschaftsvereinigung Nördliches Vogtland

Keine Antwort auf den offenen Brief

Weil er die Umstände alarmierend fand, hat Schaller als Teil des Reichenbacher "Krisenstabs Energie" Anfang August einen offenen Brief an Wirtschaftsminister Robert Habeck mitverfasst. Darin warnen die Unterzeichner – unter anderem der Reichenbacher Bürgermeister Raphael Kürzinger – vor einer Welle von Insolvenzen und fordern die aktuelle politische Strategie zu überdenken. Die Gaspreisbremse kommt jetzt.

Doch eine Antwort blieb aus. Sicher, der Wirtschaftsminister habe wenig Zeit. Enttäuscht ist Schaller trotzdem. "Wir haben leider keine Antwort erhalten. Die politische Kommunikation zu den Regierungsparteien ist gestört", erklärt Schaller. Lediglich der Chemnitzer SPD-Bundestagsabgeordnete Detlef Müller habe sich um einen Dialog bemüht.

Wirtschaftliche Verhandlungen mit Russland wiederaufnehmen

Einen Ansatz, um "Druck aus dem Kessel zu nehmen", vielleicht sogar eine Basis für weitere mögliche Energielieferungen zu legen, sieht Schaller in der Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Verhandlungen mit Russland. "Man kann nur schlichten, wenn man miteinander redet. Das habe ich zu Hause gelernt und daran glaube ich", erklärt der Wurstfabrikant. Er selbst habe nie Geschäftsbeziehungen nach Russland gehabt, verstehe jedoch nicht, wie Wirtschaft und Existenzen riskiert würden, "weil man sich in einen Krieg hineinziehen lassen würde".

Man kann nur schlichten, wenn man miteinander redet. Das habe ich zu Hause gelernt und daran glaube ich.

Ralf Schaller | Wurstfabrikant aus dem Vogtland

Krieg nicht ausblenden

"Ich will den Krieg nicht ausblenden, ich will ihn auch nicht schönreden. Doch wir müssen aufpassen, dass wir unser Land nicht auch noch kaputt machen", erklärt Schaller. "Wenn wir keine bezahlbare Energie haben, werden viele Wirtschaftszweige nicht mehr existieren." Natürlich sei es klar, dass Energie nicht mehr zum Dumping-Preis geliefert würde. Natürlich sei es selbstverständlich, dass die Menschen jetzt Abstriche machen. "Für Abstriche ist, glaube ich, jeder in Deutschland bereit", erklärt Schaller. "Doch es sind wenige Menschen bereit, ihre Existenz zu verlieren."

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Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 04. Oktober 2022 | 20:00 Uhr