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Tim (Name von der Redaktion geändert) wird seit mehr als zehn Jahren von der Jugendgerichtshilfe Dresden betreut und beraten. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Hilfe für straffällige JugendlicheJugendgerichtshilfe Dresden: Der Kampf um Tim

19. November 2023, 21:42 Uhr

Die Jugendgerichtshilfe Dresden unterstützt Jugendliche dabei, einen Weg aus der Straffälligkeit heraus zu finden. Warum das so wichtig ist, erklärt Tim, der seit Jahren dort beraten und betreut wird.

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Die Jugendgerichtshilfe Dresden begleitet und berät Kinder und Jugendliche, wenn sie straffällig werden. Gemeinsame Gespräche sollen den Heranwachsenden unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen familiären Lebenssituation dabei helfen, den Weg aus der Straffälligkeit heraus- und in ein geregeltes Leben hineinzufinden. Auch Tim (Name von der Redaktion geändert) wurde so seit mehr als einem Jahrzehnt unterstützt. Er gewährt dem MDR-Magazin "Kripo live" Einblicke in die Zusammenarbeit – und warum sie auch für ihn so wichtig ist.

Regelfreie Erziehung im Elternhaus

Er habe "Leute abgezogen, verkloppt, erpresst", erzählt Tim, der anonym bleiben will, "Kripo live". Gegen ihn liefen mehrere Strafverfahren, er landete sogar in Haft. Heute führt er ein normales Leben. Bis dahin war es ein weiter Weg, bei dem die Gerichtshilfe Dresden trotz mehrerer krimineller Rückschläge ihn nie aufgab.

"Zunächst bin ich bei meinen leiblichen Eltern aufgewachsen und bin dort sehr regelfrei erzogen worden", blickt er auf seine Kindheit zurück. Er sei "der Prinz" gewesen. Egal was er gemacht habe, es habe kaum Konsequenzen gegeben. "Irgendwann fiel meiner Mutter das auf den Fuß, als ich dann zehn, elf, zwölf Jahre alt wurde", erinnert er sich.

Pflegefamilie: Rebellion gegen neue Regeln

Tim kam schließlich in eine Pflegefamilie, weil das Elternhaus mit ihm nicht mehr zurechtkam. In der neuen Familie musste er Regeln befolgen. Der Junge fühlte sich verlassen, ungerecht behandelt, rebellierte und wurde kriminell. Zu seinen ersten Vergehen zählten Urkundenfälschungen und Diebstähle. Er wurde zwar angezeigt, aber zu dem Zeitpunkt war er nicht strafmündig. Das Verfahren wurde eingestellt.

Jens Nitsche ist Gruppenleiter der "Jugendhilfe im Strafverfahren Dresden". Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Seither kümmern sich Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe Dresden um ihn und klären auf, was die Konsequenzen sind, wenn Tim gegen Gesetze verstößt. Die Mitarbeiter führten auf freiwilliger Basis Gespräche mit Tim und seinen Pflegeeltern. "Beim ersten Kontakt wurde offensichtlich, dass der Junge schon biografisch hochbelastet war, vor allem durch Beziehungsabbrüche und sich auflösende Bindungen – beides sind Risikofaktoren für straffälliges Verhalten", erklärt Jens Nitsche, Gruppenleiter der "Jugendhilfe im Strafverfahren Dresden".

Beziehungsabbrüche und sich auflösende Bindungen – beides sind Risikofaktoren für straffälliges Verhalten.

Jens Nitsche, Gruppenleiter der "Jugendhilfe im Strafverfahren Dresden"

Station Wohngruppe – mit unerprobten Freiheiten

Die Gespräche mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendgerichtshilfe Dresden zeigten Wirkung. Zwei Jahre lang lief alles recht problemlos, bis sich die Konflikte mit den Pflegeeltern erneut zuspitzten. Tim wurde wieder straffällig. Das Jugendamt löste das Pflegeverhältnis auf, der 14-Jährige wurde in einer Wohngruppe untergebracht.

Mit der neuen Freiheit konnte er nur schwer umgehen. "Ich habe gewusst, wie das funktioniert, wenn ich etwas nicht will, dass man das ein bisschen umgehen kann", gibt er zu. Tim schwänzte die Schule, war mit falschen Freunden unterwegs. Er wurde wieder kriminell, beging alleine oder zusammen mit anderen Straftaten.

Die Jugendgerichtshilfe Dresden kümmerte sich die ganze Zeit um ihn. Arbeitsstunden habe er absolvieren müssen, Täter-Opfer-Ausgleiche machen, Entschuldigungsbriefe schreiben. "Ich habe Mahnungen bekommen vom Gericht. So lief das zwei, drei Jahre, würde ich sagen", erinnert sich Tim. Trotz Auflagen wurde er immer wieder straffällig, oft im Alkohol- oder Drogenrausch.

Staatsanwaltschaft Dresden erhebt Anklage

Wegen der hohen Zahl und der Schwere seiner Straftaten erhob die Staatsanwaltschaft Dresden schließlich Anklage. Seit diesem Zeitpunkt ist eine weitere Abteilung der Jugendgerichtshilfe für Tims Fall zuständig. Sozialpädagogin Manuela Weise wurde seine Betreuerin. Sie habe ihn kennengelernt, als einen jungen Menschen, der "in Rebellion war".

"Wir können begleiten, wir können helfen, aber mancher Weg, dauert einfach länger", sagt Sozialpädagogin Manuela Weise. Bildrechte: Kripo live/MDR

Durch Traurigkeit und Orientierungslosigkeit sei sein Verhalten gekennzeichnet gewesen. "Was für ihn wichtig war, ist, dass jemand da ist, egal wie schlecht es läuft und der nicht weggeht", sagt die Sozialpädagogin. Bisher sei er es gewohnt gewesen, dass Menschen ihn immer wieder verlassen hätten. Manuela Weise begleitete ihn durch Maßnahmen und Verfahren. Der Pubertierende musste sich mehrfach vor dem Jugendgericht verantworten und erhielt Urteile mit Auflagen und Weisungen – aber: Er blieb in Freiheit.

Schwerer Raub mit 17

Mit 17 Jahren beging Tim seine bisher schwerste Straftat. Gemeinsam mit einem Komplizen überfiel Tim einen Pizzalieferanten. Er kam wegen schweren Raubes einen Monat in Untersuchungshaft. "Da ist meine Welt auf einmal zusammengebrochen", gesteht er. Manuela Weise habe ihn besucht, mit ihm weiter Gespräche geführt. "Diese Zeit würde ich als Knackpunkt sehen ", erklärt er. Hier sei für ihn schließlich eine Bindung zur Jugendgerichtshilfe entstanden. "Da kommt jemand und versucht sich Mühe zu geben, dass da irgendwie was wird und nimmt seinen Job irgendwie ernst", sagt er dankbar.

Für den Überfall auf den Pizzalieferanten wurde Tim zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Da er gegen die Bewährungsauflagen verstieß, musste er in Haft. Ein Lichtblick: In der Jugendhaftanstalt Regis-Breitingen holte er seinen Hauptschulabschluss nach. Manuela Weise unterstützte ihn auch in dieser Lebensphase. Doch nach seiner Haftentlassung dauerte es nur ein halbes Jahr, bis Tim erneut kriminell wurde. Auch hier begleitete ihn die Sozialpädagogin durch sein Gerichtsverfahren. "Ich glaube, das darf man nicht persönlich nehmen. Wir können begleiten, wir können helfen, aber mancher Weg, dauert einfach länger. Und dann ist es da dran, das auszuhalten und weiter zu begleiten", erklärt Manuela Weise. "Unser Auftrag ist es, ihnen Orientierung zu geben, Regeln aufzustellen, Regeln zeigen und erklären und sie dann aber auch durchsetzen", führt sie aus.

Unser Auftrag ist es, ihnen Orientierung zu geben, Regeln aufzustellen, Regeln zeigen und erklären und sie dann aber auch durchsetzen".

Manuela Weise, Sozialpädagogin, Jugendgerichtshilfe

Realschulabschluss in JVA nachgeholt

Es folgte noch eine zweite Haftstrafe, in der JVA Dresden, während der Tim seinen Realschulabschluss machte. Seit einem Jahr lebt der heute Mittzwanziger wieder in Freiheit. Er hat inzwischen eine eigene Wohnung und geht jeden Tag arbeiten. Die Jugendgerichtshilfe Dresden ist weiter für ihn da, wenn er Gesprächsbedarf hat.

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MDR (cbr)

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Kripo live | 19. November 2023 | 19:50 Uhr