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Im Reallabor Leipzig ist eine offene Runde unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen entstanden. Hier ist auch Raum für Sorgen und Nöte. Bildrechte: Rechte: MDR/Philipp Brendel

Schule reformierenSchüler über Ängste und Stress: "Ich kam nicht mehr aus dem Bett."

21. Oktober 2023, 18:30 Uhr

Es war ein Aufschrei, als im vergangenen Jahr Schüler und Schülerinnen eines Leipziger Gymnasiums in Briefen Klartext über ihre Sorgen und Nöte redeten. Aus dieser Aktion entstanden Proteste und ein Projekt, das Schule neu denken will. Das Ziel ist nichts Geringeres, als eine Bildungsrevolution.

Knapp ein Dutzend Jugendliche und junge Erwachsene sitzen im Kreis auf dem Boden in einem ehemaligen Laden in der Leipziger Innenstadt. Vor dem großen Schaufenster laufen Passanten vorbei. Nacheinander erzählen die jungen Leute von ihren Erfahrungen, die sie in der Schule gemacht haben. Manche sprechen aufgeregt über Stress und Leistungsdruck, andere brechen mitten im Erzählen ab und werden leise.

Einmal in der Woche trifft sich die Gruppe des Projekts "Friedliche Bildungsrevolution" im Reallabor Leipzig. Bildrechte: Rechte: MDR/Philipp Brendel

Matthias, der anonym bleiben will, ist zum ersten Mal im Reallabor Leipzig, wo über eine neue Form der Schule diskutiert wird. Er erzählt, dass er mit seiner Lese- und Rechtschreibschwäche sowie seiner Aufmerksamkeitsstörung wenig Hilfe in seiner alten Schule bekommen habe. Als seine Noten in der neunten Klasse abstürzen, fällt er in ein schweres Tief, berichtet er. "Ich konnte dem Notendruck nicht mehr standhalten. Ich bin irgendwann nicht mehr aus dem Bett gekommen." Vor zwei Jahren bricht Matthias die Schule ab. Ihm ist anzumerken, dass es ihm jetzt guttut, im Reallabor darüber zu sprechen. Aktuell bespreche er mit der Berufsschulberatung, wie er sich ab kommendem Jahr auf die Berufsschule vorbereiten kann.

Briefaktion von Schülern löst Proteste aus

Ute Puder hört Matthias genau und verständnisvoll zu. Von anderen Kindern und Jugendlichen habe sie Vergleichbares gehört. Vergangenes Jahr erfährt sie von der Leipziger Bildungsreformerin Margret Rasfeld, dass einige Schülerinnen und Schüler des Reclam-Gymnasiums Leipzig sich teilweise sehr verzweifelt in Briefen über ihre Situation äußerten. "Angst ist das Schlüsselwort der Jugendlichen gewesen. Das hat uns den Tränen nahe gebracht", erinnert sich Puder.

Zu den Treffen im Reallabor Leipzig gehören auch gemeinsame Filmabende. Bildrechte: Rechte: MDR/Philipp Brendel

Zusammen mit einigen Schülern hatte Puder danach das Projekt der "Friedlichen Bildungsrevolution" Leipzig ins Leben gerufen. Mehrere Bildungsproteste folgten sowie regelmäßige Treffen im Reallabor. Das sei auch ein Ort, um über Schmerzen und Ängste zu sprechen, betont Puder. Hier vernetzten sich aber auch Schüler, Eltern und Bildungsreformer. Sie wollen nichts weniger, als dass eine Bildungsrevolution für Sachsen von Leipzig ausgeht. Denn mit dem jetzigen Schulsystem gehe es nicht weiter, sagt Puder: "Es ist ein System aus dem 19. Jahrhundert, das auf Kontrolle und Bewertung basiert."

Es ist ein System aus dem 19. Jahrhundert, das auf Kontrolle und Bewertung basiert.

Ute Puder | Mitbegründerin des Projekts "Friedliche Bildungsrevolution"

Die Gruppe orientiere sich am Konzept der Bildungsreformerin Margret Rasfeld, erklärt Puder. Das Konzept beinhalte einen offenen Unterricht, in denen Schüler ihre individuelle Zeit für den Lernstoff bekämen und selbst entschieden, wann sie diesen lernen. Die Kinder und Jugendlichen schreiben erst Leistungskontrollen, wenn sie sich bereit dafür fühlten. Das sei das Wichtigste, sagt Puder: "Wenn man Begeisterung fühlt, lernt man."

Was sind die Ziele der "Friedlichen Bildungsrevolution" Leipzig?

Die Ziele der "Friedlichen Bildungsrevolution Leipzig orientieren sich am Konzept der Bildungsreformerin Margret Rasfeld, die in Berlin eine eigene Schule gegründet hat. Dort lernen Schüler selbstständig in sogenannten Lernbüros. Bei Fragen können sie die Lehrkräfte fragen, die die Rolle eines "Coachs" übernehmen. Leistungskontrollen werden dann geschrieben, wenn sich die Schüler bereit dafür fühlen. Ältere Schüler werden zu "Lehrern" für die unteren Klassen und lesen dort etwa vor.

Schülern mit Ängsten eine Plattform geben

Josie hat im vergangenen Jahr eine Briefaktion gestartet, bei der Schüler ihre Gedanken über Schule mitteilen konnten. Bildrechte: Rechte: MDR/Philipp Brendel

"Und Schüler sollten gestärkt aus der Schule kommen und nicht geschwächt", fügt Josie hinzu. Sie gehört zu den Schülerinnen und Schülern, die im vergangenen Jahr im Reclam-Gymnasium Leipzig ihren Frust über das System Schule freien Lauf ließen. "Meine Schulzeit war sehr anstrengend, hart und krankmachend", sagt die 19-Jährige. Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Haarausfall hätten ihre Schulzeit begleitet. Sie habe überlegt, die Schule abzubrechen, zieht aber schließlich das Abitur durch.

Schüler sollten gestärkt aus der Schule kommen und nicht geschwächt.

Josie | hatte in ihrer Schulzeit häufig Schlafstörungen und Kopfschmerzen

Als Vorsitzende des Schülerrates erkennt sie, dass viele andere Schüler an ihrer Schule auch mit Stress und Leistungsdruck kämpfen. Anfang 2022 hat sie eine Briefaktion gestartet, in der viele Schüler wenig Gutes über ihre Erfahrungen im System Schule geschrieben hätten. Mittlerweile seien 70 Briefe zusammengekommen. Josie selbst fühle sich nicht wohl in der Schule und habe keine Zeit für sich, hatte sie in ihrem Brief geschrieben. "Ich wünsche mir, dass Schule für alle besser wird und niemanden krank macht", sagt sie.

Vom Lehramtsstudium desillusioniert

Es sollte mehr Zeit für die Ideen und Fragen der Schüler sein, meint Janne. Bildrechte: Rechte: MDR/Philipp Brendel

Janne ist hochmotiviert, als sie mit ihrem Studium für das Grundschullehramt startet: "Ich wollte Kindern eine bessere Bildung bieten, als ich das selbst erlebt habe." Doch ähnlich wie sie es als Schülerin erlebte, soll sie als angehende Lehrerin die Kinder behandeln. "Alle Kinder sollen sich zur gleichen Zeit gleich konzentrieren und alles können. Dass wir unterschiedlich sind, dem wird in der Schule nicht Rechnung getragen", sagt die 25-Jährige.

Das wir unterschiedlich sind, dem wird in der Schule nicht Rechnung getragen.

Janne | hat ihr Lehramtsstudium abgebrochen

Die 25-Jährige sieht, wie Schulanfänger motiviert ins erste Schuljahr starten, die Begeisterung sich aber schnell in Luft auflöst. Für spannende Fragen der Grundschüler sei keine Zeit, weil der Lehrplan drängt. "Das hat mich an meine Grenzen gebracht, weil ich in diesem System arbeiten sollte." Völlig desillusioniert bricht Janne das Studium ab. "Ich musste da raus, weil ich permanent gegen meine Werte arbeitete." Sie sei froh über diesen Schritt.

In Schule unterfordert

Die aktuelle Form von Schule reagiere wenig auf Talente, meint Tobi. Bildrechte: Rechte: MDR/Philipp Brendel

Eine entspannte Schulzeit sei es für ihn gewesen, sagt Tobi. "Leistungstechnisch ist mir viel in den Schoß gefallen." Der heute 28-Jährige sei sehr gut in Mathe, Chemie und Physik gewesen. Aber: "In diesen Fächern war ich massiv unterfordert. Ich hätte da wesentlich mehr leisten können." Das habe sich gerächt: "Ich habe nie das Lernen gelernt. Weil ich nie gefordert wurde, habe ich mich im Studium schwergetan."

Ich habe nie das Lernen gelernt. Weil ich nie gefordert wurde, habe ich mich im Studium schwergetan.

Tobi | hat sich in der Schule unterfordert gefühlt

Im Studium fallen Tobis Leistungen abrupt, weil dort komplexeres Denken und nicht nur Auswendiglernen gefragt ist. Er bricht das Studium ab und arbeitet jetzt im IT-Bereich. Es werde in der Schule zu sehr auf die Schwächen geschaut, anstatt auf die Stärken, sagt Tobi. "Schule muss sich ändern, weil dort so viel Potential verschenkt wird."

Bildungswissenschaftlerin: Keiner kann unter Angst lernen

Keiner könne - ob Kind oder Erwachsener - gut unter Angst lernen, sagt Bildungswissenschaftlerin Katrin Liebers. "Wenn Schüler sagen, sie haben Angst vor Leistungsdruck, dann zeigt das, dass sie nicht erfolgreich lernen können", erklärt die Forscherin an der Uni Leipzig. Schüler sollten nicht über- noch unterfordert werden. Zudem sollte es nicht nur darum gehen, einen Lehrplan abzuarbeiten, sondern den Schülern beizubringen, wie sie sich selbst Wissen aneignen.

Katrin Liebers ist Bildungswissenschaftlerin an der Uni Leipzig mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik. Bildrechte: Katrin Liebers

Wenn Schüler sagen, sie haben Angst vor Leistungsdruck, dann zeigt das, dass sie nicht erfolgreich lernen können.

Katrin Liebers | Bildungswissenschaftlerin an der Uni Leipzig

Beim Thema Schule gebe es nicht nur Stillstand, betont Liebers. So seien bei der jüngsten Schulreform in Sachsen wissenschaftliche Erkenntnisse verstärkt aufgenommen worden. Ein konkretes Beispiel sei die Reduzierung von Leistungsdruck beim Übergang von der Grundschule zum Gymnasium: "Die früher starre Notenregelung und das sehr eingeschränkte Wahlrecht der Eltern wurde aufgelöst." Liebers verweist auch auf das Projekt "Bildungsland 2030", durch das die Schule in Sachsen weiterentwickelt werden soll.

Was ist das Projekt "Bildungsland 2030"?

Das Projekt wurde 2019 ins Leben gerufen. Das Kultusministerium Sachsen und das Landesamt für Schule und Bildung tauschen sich mit Bildungsexperten, Lehrkräften, Eltern und Schülern aus, um schulische Bildung in Sachsen weiterzuentwickeln. So sollen in vier Handlungsfeldern (Lernen, Steuerung, Professionalisierung, Infrastruktur) Konzepte und Strategien für eine künftige Schule entwickelt werden.

Uneinigkeit verhindert Reformen

Dennoch bleiben Liebers zufolge große Baustellen. Die Größte sei der grassierende Lehrkräftemangel, der nicht nur guten Unterricht gefährde, sondern auch Schulreformen ins Stocken bringe. Entscheidend für Reformen: Land, Kommunen und Schulen, Eltern und Schüler müssten sich einig sein, denn auch durch Uneinigkeit scheiterten Veränderungen, sagt Liebers. Sie nennt das Beispiel von Hamburg. Dort sei im Jahr 2010 die damalige Regierung aus CDU und Grünen abgewählt worden, weil sie die Grundschule mit sechs Jahren einführen wollte.

Masterplan für eine Schule der Zukunft fehlt

Ein weiteres Problem sei das Fehlen einer gemeinsamen Idee von Schule, meint Liebers. "Uns fehlt ein Masterplan und eine Einigung, welche Schritte wirklich wichtig sind." Das Thema Schule sei in Medien und Gesellschaft nach wie vor unterrepräsentiert. "Bildung müsste unser Dauerthema sein, weil das unsere nachwachsende Generation ist." Man könne es nicht zulassen, dass junge Erwachsene die Schule verlassen, ohne dass sie die Voraussetzungen haben, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden: "Ich sehe das als eine Gefahr für die Demokratie."

Diese Meinung der Bildungswissenschaftlerin bringt den Mitgliedern der "Friedlichen Bildungsrevolution" neuen Schwung, um weiter zu machen.

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