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Am geringsten ist die Arbeitslosigkeit in Thüringen im Landkreis Hildburghausen. Bildrechte: imago images / Jan Huebner

Deindustrialisierung?Mehr Arbeitslose trotz Fachkräftemangel: Was auf Thüringens Arbeitsmarkt passiert

28. März 2024, 20:00 Uhr

Die Arbeitslosigkeit in Thüringen ist im März 2024 leicht gesunken. Nach Daten der Bundesagentur für Arbeit waren 1.100 Menschen weniger arbeitslos gemeldet als im Februar. Der Vergleich mit dem Zeitraum vor einem oder zwei Jahren offenbart aber, dass die Arbeitslosenquote tendenziell eher steigt. Wie kann das sein, wenn doch immer wieder auf breiter Front von Fachkräftemangel die Rede ist?

von Florian Girwert, MDR THÜRINGEN

Der kurzfristige Rückgang von Februar auf März geht vor allem auf das bessere Wetter im Frühjahr zurück, heißt es von Markus Behrens, dem Chef der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit für Sachsen-Anhalt und Thüringen. Sprich: Auf dem Bau passiert wieder mehr. Tätigkeiten, die bei Temperaturen unter null ruhen müssen, werden wieder aufgenommen.

Markus Behrens Bildrechte: Arbeitsagentur Sachsen-Anhalt/Thüringen

Das führt dazu, dass die Arbeitslosenquote im März minimal zurückgegangen ist, von 6,5 auf jetzt 6,4 Prozent. Frühjahrsbelebung wird das Phänomen genannt und die Agentur erwartet, dass sie sich in den kommenden Wochen fortsetzt. Die Kurzarbeit war im Januar sogar etwas niedriger als vor einem Jahr. 2.640 Personen in 150 Betrieben waren betroffen (Januar 2023: 2.890/180).

Arbeitslosenzahlen in Thüringen steigen

Über den langfristigen Trend einer steigenden Arbeitslosenquote kann das allerdings nicht hinwegtäuschen: Vor einem Jahr im März lag sie bei 6,1 Prozent, im März 2022 waren es 5,1 Prozent.

Damals gab es noch keine sichtbaren Folgen des Ukraine-Kriegs, keine Gasmangellage. Russland hatte zwar nach Auskunft von mehreren Thüringer Energieversorgern bereits ab Mitte 2021 die Preise nach oben getrieben, indem Gasspeicher nicht befüllt und Lieferungen verzögert wurden, aber eine Krise bildete sich daraus erst ab Sommer 2022, als die Energiepreise geradezu explodierten. Was die Wirtschaft bis heute beschäftigt, wie die IHK Ostthüringen zu Gera aktuell noch einmal bestätigt. Gerade im EU-Vergleich sei Energie nach wie vor zu teuer, sagt Christoph Adler von der IHK.

Aktuelle Stimmung in Unternehmen oft schlecht

Dementsprechend ist die Lage in vielen Unternehmen angespannt. Das zeigt sich immer wieder in Umfragen wie dem Ifo-Geschäftsklimaindex, der zum Jahreswechsel mit 85,2 Punkten ein Drei-Jahres-Tief erreichte. Für die Erhebung melden etwa 9.000 Unternehmen im ganzen Land bestimmte Eckdaten und schätzen ihre Situation und die Erwartungen ein.

Besonders schlecht ist die Lage im Baugewerbe. "Hier ist die Zurückhaltung vieler Unternehmen bei Investitionen zu spüren", sagt Adler. Und auch die öffentliche Hand - Stichwort Schuldenbremse - agiert vielerorts nicht mit Investitionen gegen die Krise, so wie es in früheren Jahren passiert ist.

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Dass einzelne Verbände oder Politiker von Deindustrialisierung sprechen, ist dem IHK-Mann allerdings zu viel. Denn tatsächlich zeige die eigene IHK-Konjunkturumfrage vom Jahreswechsel, dass die Stimmung in der Industrie in einem insgesamt sehr düsteren Klima noch am ehesten positiv sei.

16 Prozent der befragten Ostthüringer Unternehmen wollten Stellen schaffen, während es in allen Branchen im Schnitt nur acht seien. Das sei zwar immer noch sehr niedrig, aber verglichen mit Bau, Handel oder Gastronomie besser.

Ifo-Institut: Keine Deindustrialisierung

Auch die Dresdner Niederlassung des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo sagt, von Deindustrialisierung könne man nicht sprechen. Die meisten zusätzlichen Arbeitslosen der vergangenen Monate kämen aus dem Dienstleistungsbereich, zum Beispiel dem Verkehrsgewerbe.

"Das deutet eher auf konjunkturelle Effekte hin und hat nichts mit Deindustrialisierung zu tun", schreibt Ifo-Forscher Professor Joachim Ragnitz. Heißt, die Wirtschaft kann sich erholen. Was sich deckt mit dem Ifo-Geschäftsklimaindex. Denn der ist zweimal in Folge gestiegen, wenn auch auf niedrigem Niveau. "Das könnte für eine Bodenbildung sprechen", sagt Christoph Adler. Die Thüringer Kammern befragen hiesige Unternehmen aktuell selbst. Ergebnisse gibt es in einigen Wochen. Vom Verband der Wirtschaft Thüringens (VWT) ist zu hören, die generelle Stimmung sei nicht gut. Die Rahmenbedingungen in Deutschland seien unattraktiv, sagt VWT-Sprecherin Ute Zacharias. Neue Investitionen fänden öfter im EU-Ausland oder anderswo statt. Gerade Energie sei in Deutschland noch immer deutlich zu teuer. Von daher stimmt der VWT eher der These "Deindustrialisierung" zu - auch wenn die Lage hier in Thüringen etwas besser sei als in Deutschland ingesamt.

Wirtschaftswissenschaftler Joachim Ragnitz Bildrechte: ifo Institut

Adler sagt aber auch, dass die aktuelle Arbeitslosigkeit nur in Teilen auf die jüngsten Krisen zurückgeht. Manche Unternehmen hätten anhaltend Probleme, offene Stellen zu besetzen. Das ist auch in Branchenerhebungen wie bei Automotive Thüringen in den vergangenen Jahren immer wieder zu hören.

Fachkräftemangel, der längst nicht mehr eine Handvoll Berufe betrifft, sondern sich zu einem Arbeitskräftemangel entwickelt. "In unserer Herbstumfrage geben 41 Prozent der Unternehmen an, dass sie offene Stellen nur mit mehr als zwei Monaten Wartezeit und manchmal auch gar nicht besetzen können", so Adler. Passendes Personal sei schlicht nicht vorhanden. Das bestätigt auch der VWT. Fachkräftemangel sei ein Dauerthema. 130 Tage dauere die Besetzung einer Fachkräftestelle in Thüringen im Schnitt.

Arbeitslose passen oft nicht auf vorhandene Jobs

Das differenzierte Bild bestätigt der Blick in die Statistik der Arbeitsagentur. Ein Teil der aktuell etwa 70.000 Thüringer Arbeitslosen ist nur kurzfristig ohne Job - 5.000 haben im März wieder eine Arbeit aufgenommen. Doch mehr als 23.500 sind Langzeitarbeitslose, die erfahrungsgemäß schwieriger zu vermitteln sind. Auch das Bürgergeld gilt wohl vereinzelt als Hinderungsgrund, weswegen Unternehmer und manche Politiker immer wieder fordern, bei Arbeitsverweigerung Leistungen zu streichen.

Was die Bundesregierung auch umsetzen will. Zwei Monate soll die Leistung gestrichen werden können, wenn zumutbare Arbeit abgelehnt wird. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung weist allerdings die Annahme zurück, dass Menschen ihren Job zugunsten von Bürgergeld aufgeben. Dass sich auf dem Arbeitsmarkt weniger tue, sei der Rezession geschuldet.

Thüringer Autozulieferer melden Insolvenz

Zuletzt hatte es auch mehrere Insolvenzmeldungen aus Thüringen gegeben, etwa im dem Bereich der Autozulieferer. Vom Branchenverband Automotive Thüringen ist zu hören, dass viele Beschäftigte von insolventen Unternehmen gute Chancen hätten, ohne große Verzögerungen neue Jobs zu finden.

So hätten beispielsweise im Zuge der Schließung des Scheinwerfer-Werks von Automotive Lighting in Brotterode viele Menschen am Erfurter Kreuz einen neuen Job gefunden, sagte Verbandsgeschäftsführer Rico Chmelik. Denn die Branche ist gespalten - manche haben Aufträge ohne Ende, andere sind in Not. Da gibt es Gewinner und Verlierer.

Rico Chmelik Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Und Chmelik sagt auch, dass die schwierige Erreichbarkeit von Brotterode durchaus immer wieder als Problem benannt worden sei - für Lieferungen wie für Mitarbeiter.

Am strukturellen Arbeitskräftemangel haben bisher auch die nach Beginn des Krieges geflüchteten Ukrainerinnen - in der Mehrzahl sind es Frauen mit Kindern - nichts ändern können. Da hapere es oft an der Betreuung, weswegen viele dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung stehen. Und laut IHK hapere es weiterhin an Sprachkenntnissen. "Es fehlen immer noch Sprachkurse." Ute Zacharias vom VWT bestätigt, dass die Sprache wichtig ist. "Oft ist sie auch sicherheitsrelevant. Dann müssen alle Mitarbeiter Anweisungen in der Firma verstehen können."

Die Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen braucht nach Einschätzung der IHK ebenfalls zu viel Zeit - und in aller Regel hätten Zuwanderer keine Erfahrungen mit den zuständigen Verwaltungen, was die Prozesse in die Länge ziehe. Ob der von der Bundesregierung sogenannte Jobturbo zündet, ist derzeit noch nicht abzusehen. Er soll vor allem mehr Ukrainer in Arbeit bringen. Der VWT begrüßt den Jobturbo klar. Parallel zum Sprachkurs bereits arbeiten zu können, das sei eine gute Sache. Genaue Zahlen seien zwar noch nicht verfügbar. Aber es sei absehbar, dass die Integrationsquote auf dem Arbeitsmarkt steige.

Anteil ausländischer Arbeitnehmer auf knapp zehn Prozent gestiegen

Das altersbedingt rückläufige Thüringer Arbeitskräftepotenzial wird zwar aktuell teilweise aus dem Ausland ersetzt. Das wird in den Zahlen zur sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung deutlich: Im September 2023 waren es insgesamt 806.780 sozialversicherungspflichtige Jobs in Thüringen. 734.470 waren von Deutschen besetzt, 72.309 von Ausländern.

Aktuellere Daten als die vom September gibt es nicht. Im September 2022 waren es noch 65.800 ausländische Arbeitnehmer, ein Jahr zuvor 56.000. Aber in vielen Fällen passt gerade bei Geflüchteten die Qualifikation noch immer nicht, obwohl mehr als die Hälfte der Betriebe in der IHK-Erhebung auch Nicht-EU-Ausländer einstellen würden, also Ukrainer oder Vietnamesen.

Auch wegen der fehlenden Qualifikation ist neben der Zahl der Beschäftigten auch die Zahl der arbeitslosen Ausländer nach dem Ukraine-Krieg gestiegen. 17.333 waren zuletzt arbeitslos gemeldet, eine Quote von 23,3 Prozent - wenn auch um 1,4 Prozentpunkte niedriger als im Vorjahr.

Höchste Arbeitslosenquote in Gera

Am geringsten ist die Arbeitslosigkeit in Thüringen im Landkreis Hildburghausen mit 4,6 Prozent, am höchsten in Gera mit 10,2 Prozent. Mehr Beschäftigte gab es zuletzt in der Verwaltung, im Gesundheitswesen sowie in der Metallbranche. In der Baubranche, im Verkehrsgewerbe und bei Autohändlern gibt es weniger Beschäftigte.

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Im Bestand der Thüringer Arbeitsagenturen finden sich derweil mehr als 15.000 offene Stellen in Thüringen. Das Internet-Job-Portal Indeed vermeldet gar mehr als 21.000. Viele Unternehmen wüssten, dass in den kommenden Jahren viele Mitarbeiter in Rente gehen, heißt es von der Ostthüringer IHK.

Das bringe viele Unternehmen dazu, vorzusorgen und auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Mitarbeiter zu halten oder neu einzustellen. Der VWT differenziert hier noch stärker: Unternehmen würden im schwierigen Umfeld zwar oft ihre Mitarbeiter halten. Sie würden sich allerdings im Moment seltener bereit finden, neue Mitarbeiter einzustellen. Die Agentur für Arbeit sagt zudem: Die Wirtschaft ist im Umbruch, Anforderungen änderten sich. Weiterbildung für die Menschen sei ein Schlüssel, um das zu meistern.

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MDR (jn)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 28. März 2024 | 19:00 Uhr

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