InterviewAutor Patrick Bahners über die AfD und den neuen deutschen Nationalismus
Im 19. Jahrhundert vergötterten Nationalisten das eigene Land und errichteten Denkmäler zu Ehren von Kaisern und Kanzlern. Der neue Nationalismus sei das genaue Gegenteil, meint AfD-Experte Patrick Bahners. Am Montagabend stellte er sein Buch "Die Wiederkehr - Die AfD und der neue deutsche Nationalismus" im Erfurter Augustinerkloster vor. Im Interview mit MDR THÜRINGEN spricht er über die AfD, ihren destruktiven Nationalismus und die Folgen für die Demokratie.
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Herr Bahners, die Correctiv-Recherche hat offengelegt, dass sich AfD-Mitglieder mit menschen- und verfassungsfeindlichen Deportationsfantasien beschäftigen. Seitdem protestieren Millionen Menschen in Deutschland und Thüringen gegen die AfD. Sie beschäftigen sich schon sehr lange mit der Partei. Haben Sie die Ergebnisse der Recherche überrascht?
Wirklich interessant ist, dass die Recherche einen Schock ausgelöst hat, der durch das ganze Land ging. Wir stehen am Anfang eines Jahres mit Landtagswahlen, wo die AfD laut Umfragen stärkste Partei ist. Sie ist sozusagen eine Regierungspartei im Wartestand. Sich in einem gepflegten Ambiente in der Nähe von Potsdam zu treffen und Themen zu erörtern, die dazu führen, dass die Menschen bei winterlichen Temperaturen in großer Zahl dagegen auf die Straße gehen: Das fand ich schon sehr beeindruckend.
Allerdings ist es auch so, dass die Teilnehmer dieses Treffens gesagt haben: Wo ist denn eigentlich der Grund für die Aufregung? Das war kein Geheimtreffen, auch keine Parteiveranstaltung, da waren nur zwei, drei Leute von uns, die sich das angehört haben. Und im Parteiprogramm steht doch, dass Leute in größerem Umfang Deutschland verlassen würden. Das ist doch nichts Neues.
Der sachliche Kern ist doch, dass die AfD hier eine Migrationspolitik fortsetzt, die auch andere Parteien fordern: dass Ausländer ohne Bleiberecht Deutschland verlassen sollen und auch das Asylsystem so umgebaut werden soll, dass solche Leute eigentlich gar nicht mehr nach Deutschland kommen können. Das ist ja schon mehr oder weniger Konsens in den Parteien. Die AfD schließt daran an und geht aber so viel weiter, dass es die Bevölkerung unangenehm überrascht und sie moralisch reagiert hat.
Zur PersonPatrick Bahners ist Journalist und Buchautor. Er wurde 1967 in Paderborn geboren und wuchs in Bonn auf. In Bonn und Oxford studierte er Geschichte und Philosophie. Nach dem Studium wechselte er zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er seit 1989 als Journalist tätig ist. Er arbeitete als Feuilletonist und Auslandskorrespondent und leitet seit 2016 das Ressort Geisteswissenschaften. Seit 1998 ist er auch als Buchautor tätig. Sein Buch "Die Wiederkehr - Die AfD und der neue deutsche Nationalismus" erschien 2023 im Klett-Buchverlag.
Haben Sie das Gefühl, dass diese Proteste eine Momentaufnahme sind? Oder glauben Sie, dass sie vielleicht doch eine Initialzündung sein können, für sowas wie eine Gegenbewegung, die den Erfolg der AfD - der in Umfragen noch nie so groß war wie jetzt - gefährlich werden könnte?
Das ist ganz offen. Es liegt in der Natur der Demokratie, dass die tatsächliche Wahl erst am Wahltag stattfindet. Umfragezahlen können vorab jedoch immer zwei Wirkungen haben: Wenn man hört, dass eine Partei im Aufwind ist, kann das Anziehungskraft ausüben, die Partei zu wählen. Es kann aber auch Leute zur Wahl mobilisieren, die anderer Meinung sind als die aufstrebende Partei.
Ich glaube trotzdem, dass bei diesen Gegen-Demonstrationen was Besonderes passiert ist. Viele Menschen haben offenbar festgestellt, dass sie nicht eines Morgens unter einer AfD-Regierung aufwachen wollen. Bei den Protesten bestärken sich die Leute gegenseitig darin.
Die Anhänger der AfD sind ja im permanenten Modus, sich von morgens bis abends über die herrschende Politik zu beschweren und tragen diesen Unmut in die Gesellschaft hinein. Das wird nun beantwortet. Zwar nicht mit den gleichen Mitteln, aber auf der gleichen Ebene. Die Demonstranten konfrontieren diese Leute.
Sprechen wir über Ihr Buch. Der Titel "Die Wiederkehr - die AfD und der neue deutsche Nationalismus" impliziert, dass der Nationalismus irgendwann mal weg war. Ist das tatsächlich so? Und wie verhält sich der neue Nationalismus zur alten Nationalismus-Tradition, die in bestimmten Zirkeln immer gehegt und gepflegt wurde? Denn das beschreiben Sie ja auch in Ihrem Buch.
Meine Perspektive ist sicherlich auch durch meine westdeutsche Lebenserfahrung geprägt. Und sogar verschärft dadurch, dass ich in der alten Hauptstadt Bonn aufgewachsen bin. Für mich war die alte Bundesrepublik ein postnationaler Staat. Nationalgedanken waren für mich eine fremde Welt, über die man in der Schule oder in Büchern etwas erfahren hat.
Was mein Buch angeht, so setze ich beim politischen System an. Weder in der Zeit vor noch nach der Wiedervereinigung gab es eine Partei, die gesagt hat: "Die Nation ist das Wichtigste." Es ist erstaunlich, dass diese Art des Nationalismus nach der Wiedervereinigung nicht zurückkam. Denn die alten Parteien hatten ja eigentlich ihre Geschäftsgrundlage verloren. Nun gab es ein gesamtdeutsches Parlament, neue Parteien und Fusionen zwischen Ost- und Westparteien. Eigentlich hätte es nahegelegt zu denken: Jetzt sind wir wieder ein Nationalstaat, dann machen wir mal eine National-Partei. So etwas gibt es mit der AfD jedoch erst seit zehn Jahren, die genau das zum Programm gemacht hat.
Dabei gab es ja immer wieder Gründungen rechter und rechtsextremer Parteien, die diesen nationalistischen Gedanken sehr offensiv vertreten haben. Die haben nur nie diese kritische Masse an Wählern gefunden. Die AfD wurde 2013 gegründet, hat sich zunehmend radikalisiert und ist jetzt an dem Punkt angekommen, wo man das Gefühl hat, dass sie der demokratischen Verfassung gefährlich werden könnte. Was hat die AfD anders gemacht als zum Beispiel die NPD, die DVU oder die Republikaner?
Es gibt hier eine personelle Kontinuität und auch eine Kontinuität von Gedanken. Einen Nationalismus mit einer bedenklichen Färbung gab es in der Nachkriegszeit immer und nicht nur bei denen, die selbst alte Nazis waren. Dieser Nationalismus basierte auf dem Gefühl, dass der deutschen Nation dadurch ein Unrecht geschehen sei, dass sie im Zweiten Weltkrieg besiegt worden ist und dass Deutschland unfairer behandelt worden sei als andere Staaten, die Kriege verloren haben.
Die NPD würde ich als ein eigenes Phänomen sehen. Zurzeit werden in der Partei-Verbotsdebatte oft NPD und AfD verglichen. Bei der NPD konnte das Bundesverfassungsgericht jedoch ohne Schwierigkeit deren Verfassungsfeindlichkeit feststellen. Das NPD-Parteiprogramm setzt voraus, dass unser demokratische System durch eins ersetzt werden soll, das dem des Nationalsozialismus ähnelt. Und das kann man der AfD nicht vorhalten. Wie verfassungs- oder demokratiefeindlich die AfD ist, muss erst nachgewiesen werden.
Trotzdem ist dieser ältere Nationalismus, der meint, es muss da noch was ausgeglichen werden, und die Deutschen sollen nicht mehr so leisetreterisch auftreten, der ist schon längst bei der AfD eingegangen.
Aber was ist anders geworden?
Ich glaube, der hauptsächliche Unterschied ist, dass es heute eine große Bereitschaft in der Bevölkerung für radikale Skepsis und Zweifel am politischen System gibt. Das ist, meiner Meinung nach, die Hauptbotschaft der AfD, die sich gegen die sogenannten politischen Eliten richtet. Heute ist der Respekt vor Staat, Autorität, Institutionen so stark zurückgegangen und ruiniert worden, dass wir jetzt wirklich einen neuen Nationalismus haben. Einen, der gar nicht mehr das Bestehende vergöttert und dem Kanzler Denkmäler setzen würde, wie es nach dem Rücktritt von Bismarck geschehen ist.
Heute haben wir das genaue Gegenteil: Wir haben eine nationalistische Bewegung, die aber den Kanzler und seine Vorgänger schlechtredet. Diese allgemeine Bereitschaft zum Nörgeln ist nicht nur was Schlechtes. Es ist auch eine Form von Demokratisierung. Ich sehe darin jedenfalls die wesentliche Bedingung dafür, dass die AfD zu einer Volks- oder vielleicht sogar Massenpartei geworden ist.
Wir wollen noch mal auf Thüringen schauen, denn das tun Sie in Ihrem Buch auch. In dem Kapitel "Testfall Thüringen" setzen Sie sich intensiv mit der Wahl von Thomas Kemmerich auseinander, der mit Stimmen der AfD kurzzeitiger Ministerpräsident im Freistaat wurde. Wer hat da Ihrer Meinung nach was ausgetestet?
Ich würde sagen, hier haben tatsächlich alle, die damals für Kemmerich gestimmt haben, getestet, ob es funktionieren würde, einen Ministerpräsidenten zu etablieren, der sich wechselnde Mehrheiten im Landtag suchen muss. Indirekt hätte dann die AfD durch ihre Stimmabgabe mitregieren können. Damit wäre die Möglichkeit eröffnet worden, statt auf linke Stimmen auf die der AfD zurückzugreifen.
Genau dieses Szenario war vorab nicht nur als bloßes Gedankenspiel in den Raum gestellt worden. Da hatte ja auch der MDR eine so gute Arbeit geleistet, dass eigentlich niemand nach der Wahl sagen konnte: Wir fallen aus allen Wolken. Eigentlich musste man damit rechnen, dass es so laufen würde. Auf jeden Fall ein großer taktischer Erfolg für Björn Höcke und die AfD.
Es war ein Testlauf der CDU und der FDP. Sonst hätten die ja auf Nummer sicher gehen können und entweder einen Ministerpräsidenten Kemmerich gar nicht gewählt oder er hätte sich nicht aufstellen lassen müssen. Spätestens als er gefragt wurde, ob er die Wahl annimmt, hätte er auch noch "Nein" sagen können.
Wobei Herr Kemmerich ja immer wieder betont hat, er wäre nur angetreten, damit es eine Wahlalternative aus der Mitte der Gesellschaft gab. Also aus einem demokratischen Grundverständnis, was auch schon ins Moralische hineingeht.
Also so zu tun, als wäre die Mitte der Gesellschaft außen vor geblieben, ist ganz ominös. Da wird die Gesellschaft gegen das Parlament ausgespielt. Der Landtag war doch gerade erst vom Volk gewählt worden. Es ist auf jeden Fall auch ein Integrieren der AfD in diese Legitimationsbasis von Politik. Denn nur durch die große AfD-Fraktion im Landtag war es überhaupt möglich, dass die fast nicht in den Landtag gekommenen FDP einen Ministerpräsidenten-Kandidat aufstellen konnte, der sogar Chancen auf Erfolg hatte.
Herr Kemmerich bestreitet bis heute, dass es ein Fehler gewesen sei, die Wahl anzunehmen. Haben Politiker in Deutschland aus diesem "Testfall Thüringen" etwas gelernt? Und hat sich dadurch auch der Umgang und die Einschätzung der AfD aus Ihrer Sicht geändert?
Die entscheidende Lektion ist, dass jede Partei, die im Landtag vertreten ist, auch Macht und demokratische Legitimität besitzt. Und ich fürchte leider, dass das nicht gelernt worden ist. Unser ganzes parlamentarisches System, auch die Verfassung, ist darauf ausgelegt, dass eine Regierung zustande kommt, die eine Mehrheit hinter sich weiß.
Insofern konnten Björn Höcke und die AfD damals sagen: Wir sind eine sehr starke Partei, an uns führt eigentlich kein Weg vorbei. Denn die AfD hat durch die Stimmenanteile im Landtag eine faktische Macht und auch eine Art von Legitimität.
Bei dieser ganzen Brandmauerdebatte wird meiner Meinung nach unterschätzt, dass durch Wahlergebnisse Tatsachen geschaffen werden, die Handlungsmöglichkeiten schaffen, aber auch Handlungsmöglichkeiten einschränken. Wenn man die AfD von der Regierung fernhalten will, muss man sich das wirklich vornehmen. Man muss Allianzen bilden, Vorkehrungen treffen und vielleicht auch bei seinen Bündnispartnern über den Schatten springen. Nur am politischen Wettbewerb teilzunehmen und auf die Thüringer Wähler zu vertrauen, kommt mir ziemlich fahrlässig vor.
In der medialen Berichterstattung rund um die AfD kristallisieren sich seit Jahren immer wieder die gleichen zwei Fragen heraus. "Wie rechtsextrem ist die AfD tatsächlich?" Und: "Wie gefährlich ist das für unsere Demokratie?" Was würden Sie darauf antworten?
Björn Höcke gibt in der AfD den Ton an - strategisch und in der Personalpolitik. Er ist tatsächlich rechtsextrem. Und: Er hat großen Erfolg. Niemand fordert den sogenannten Flügel in der Partei noch heraus. Die AfD-Politiker auf der Bundesebene haben eine andere Rhetorik. Ob und wie weit sie Höckes inhaltliche Ziele teilen, ist sekundär. Für den Aufschwung der AfD sorgt jedoch seine Rhetorik. Insofern ist die AfD tatsächlich rechtsextrem.
Ob das dann rechtsextrem in dem Sinne ist, wie es das Bundesverfassungsgericht für ein Verbot verlangen würde, das ist noch mal eine andere Frage. Das liegt daran, dass die Demokratie darauf angewiesen ist, so weit wie möglich Offenheit, Interpretation und Freiheit des politischen Wettbewerbs zuzulassen. Es wäre also wirklich eine äußerste Notmaßnahme, eine solche Partei zu verbieten. Vielleicht hätte ein solcher Verbots-Prozess in Karlsruhe mit Rede und Gegenrede der Befürworter eines Verbots und der Verteidiger der AfD auch sein Gutes und einen klärenden Effekt.
Dass die politische Energie der Partei von jemandem wie Höcke ausgeht, heißt jedoch nicht, dass in den Parteiprogrammen eine rechtsextreme, antidemokratische Programmatik vertreten wird. Und das macht es schwierig.
Vielen Dank für das Interview!
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MDR (ask,ost)
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