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GrenzkonfliktBelarus: Steckt Putin hinter der Krise an der polnischen Grenze?

23. November 2021, 16:31 Uhr

Migranten an der Grenze zwischen Belarus und Polen, die Ankündigung, die Gaspipeline Yamal eben mal abzudrehen: Für viele scheint es eine ausgemachte Sache zu sein, dass der Minsker Machthaber Alexander Lukaschenko nur eine Marionette ist, während Kremlchef Wladimir Putin an den Fäden zieht. Ein Kasperletheater mit fatalen Folgen für Polen, Deutschland und die EU. Aber ist das wirklich so? Unser Ostblogger in Sankt Petersburg, Maxim Kireev, hat da so seine Zweifel.

von Maxim Kireev, Sankt Petersburg

Die offensiv zur Schau gestellte Freundschaft zwischen Putin und Lukaschenko lässt im Westen die Frage aufkommen: Ist Russlands Präsident nicht der eigentliche Urheber der Migrationskrise an der EU-Außengrenze zwischen Belarus und Polen? Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Die Krise an der östlichen Außengrenze der Europäischen Union zu Belarus scheint ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Zwar müssen noch immer Tausende Menschen in Belarus ausharren, viele von ihnen auf blankem Betonboden in Lagerhallen oder in Zelten unter freiem Himmel. Am 18. November meldeten polnische Hilfskräfte sogar den Tod eines Säuglings in einem Waldstück an der polnisch-belarusischen Grenze. Gleichzeitig saßen jedoch bereits einige Hundert Menschen aus dem Irak in einer Sondermaschine aus Minsk Richtung Heimat. Für sie ist der Traum von einem besseren Leben in Europa geplatzt. Die meisten anderen, die tagelang in bitterer Kälte an der Grenze ausgeharrt haben, sollen vorübergehend in belarusischen Notunterkünften unterkommen. Am Sonntag erklärte die polnische Regierung überraschend, für die Rückführung der Flüchtlinge in ihre Heimatländer finanziell aufkommen zu wollen.

Isolation durchbrochen: Lukaschenko ist wieder im Spiel

Dass sich die Lage nun zu entspannen beginnt, ist vor allem den Telefonaten von Angela Merkel mit dem belarusischen Präsidenten Alexander Lukaschenko zuzurechnen. Für ihren diplomatischen Vorstoß erntete Merkel Kritik aus Polen und Litauen. Doch allein schon die Tatsache, dass jemand in Berlin zum Hörer gegriffen hat, ist für Lukaschenko ein Teilerfolg, den es zu sichern gilt.

Denn seit seiner umstrittenen Wiederwahl im August 2020, bei der es laut Opposition zu massiven Wahlfälschungen kam, gilt der belarusische Staatschef als politisch isoliert. Die Proteste nach der Wahl ließ Lukaschenko mit blanker Gewalt unterdrücken. Später verhängte die EU Sanktionen gegen hohe Beamte in Belarus und einige staatliche Unternehmen. Gleichzeitig näherte sich Minsk in den vergangenen anderthalb Jahren rhetorisch Moskau an.

Ja: Putin stärkt Lukaschenko den Rücken

Immer wieder reiste Lukaschenko zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, um Einigkeit zu demonstrieren. Putin wiederum stärkte dem innenpolitisch angeschlagenen Lukaschenko den Rücken mit neuen Krediten, billigem Gas und der Zusicherung, wenn nötig, russische Sicherheitskräfte nach Belarus zu schicken, um das Minsker Regime zu stützen.

Kein Wunder also, dass sich nun in der aktuellen Krise die fragenden Blicke der europäischen Öffentlichkeit nach Moskau richten. Nicht nur für die polnische Regierung in Warschau ist Putin eindeutig der Strippenzieher der Migrationskrise. Schließlich könne der isolierte Lukaschenko nicht mehr unabhängig agieren, lautet das Argument.

Aber: Ist Lukaschenko wirklich Putins Marionette?

Doch das scheinbar harmonische Verhältnis zwischen Minsk und Moskau ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn die vergangenen Monate haben gezeigt, dass Lukaschenko wie eh und je seine eigenen Interessen verfolgt und trotz aller Einheitsrhetorik gegenüber Russland alles andere als eine Marionette Putins geworden ist.

Bislang steht nach übereinstimmenden Berichten wohl außer Zweifel, dass Lukaschenkos Regime die Migranten ins Land lockte, nur um sie an die polnische Grenze weiterzuleiten. Dies belegen Journalistenrecherchen und zahlreiche Augenzeugenberichte. Experten führen gleich mehre mögliche Motive ins Feld.

Putin und Lukaschenko gemeinsam im Moskauer Dynamo-Stadion. Die Bilder der scheinbaren Harmonie trügen, die beiden Politiker verfolgen gegensätzliche Interessen. Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Zweck der Migranten-Krise: EU zum Dialog nötigen

"Das ist aus meiner Sicht eine Nötigung zum Dialog mit Europa", erklärt Maxim Samorukow vom Moskauer Carnegie Center, einem unabhängigen Think Tank. "Lukaschenko glaubt an Stärke, und meint, wenn er Europa einen Dialog aufzwingen kann, dann werde Europa die politischen Repressionen in Belarus vergessen und sich mit ihm an einen Tisch setzen", so Samorukow.

Ein anderes Motiv ist Rache für die EU-Sanktionen. "Lukaschenko hat seit langem damit gedroht, die Tore für Migranten an der polnischen Grenze zu öffnen, und hat dies nun umgesetzt", sagt Artjom Schrajbman, ein unabhängiger Politikwissenschaftler aus Belarus, der mittlerweile das Land verlassen musste. "Zweifelsohne war dies am Anfang eine Initiative Lukaschenkos gewesen." Gleichwohl habe der Kreml Lukaschenko stoppen können, tat dies aber nicht. Der Kreml könnte, so Schrajbman, auch ganz eigene Interessen verfolgen und darauf hoffen, dass Lukaschenko sich mit dieser Eskalation noch stärker von Moskau abhängig macht.

Putins Beteiligung lässt sich nicht belegen

Zumindest offiziell haben sich sowohl das russische Außenministerium als auch die staatlichen Medien in Moskau auf die Seite Lukaschenkos gestellt. Zu gut passt das rigorose Vorgehen polnischer Grenzschützer in das russische Narrativ vom heuchlerischen Westen, der einerseits Menschenrechte predigt, gleichzeitig jedoch Menschen in Not nicht aufnehmen möchte.

Doch Moskaus Beteiligung an dieser von Minsk orchestrierten Krise lässt sich kaum belegen. Bislang gibt es keine Hinweise, dass ein nennenswerter Anteil von Migranten über russisches Territorium eingereist ist. Auch russische Airlines haben, im Gegensatz zu belarusischen, bislang nicht systematisch Passagiere aus dem Irak oder Afghanistan nach Belarus geflogen. Und letzten Endes gibt es für Putin in der aktuellen Krise, anders als für Lukaschenko, kaum etwas zu gewinnen, abgesehen vom Wunsch, die EU und das Verhalten der polnischen Grenzer bloßzustellen.

Putin und Lukaschenko haben gegensätzliche Interessen

Fest steht dagegen, dass Putin und Lukaschenko trotz aller Lippenbekenntnisse zur gegenseitigen Verbundenheit durchaus unterschiedliche Interessen verfolgen. Der Wunsch des Kremls, Belarus immer stärker an sich zu binden, ist eine direkte Gefahr für Lukaschenkos Macht. Denn würden beide Länder miteinander verschmelzen, wäre die politische Karriere Lukaschenkos vorbei, schließlich kann es in Russland nach Putins Vorstellung nur einen starken Politiker geben. Mit Lukaschenko wird es eine echte Union kaum geben. Das wissen auch Putin und seine Berater. "Wenn Lukaschenko Europa zum Dialog zwingen möchte, wäre es deshalb für Putin unlogisch, ihn darin zu unterstützen", so Experte Samorukow.

Während in Minsk der Thron unter Lukaschenko gewackelt hatte, pochte Moskau monatelang auf eine Verfassungsänderung in Belarus, die die Macht des Staatschefs beschneiden würde. Aus Moskauer Sicht wäre das ein möglicher Weg, die stockende Integration beider Länder voranzutreiben. Minsk versprach Reformen im Tausch gegen Geld und politische Rückendeckung. Doch kaum hatte Lukaschenko seine Macht im Inneren stabilisiert, schien die versprochene Änderung des Grundgesetzes vergessen.

Integrationspaket Belarus-Russland ist Mogelpakung

Stattdessen musste sich Moskau mit einem Integrationspaket zufriedengeben, dass beide Länder kürzlich signiert hatten. Ein Papier, das Beobachter in Moskau eher als Luftnummer denn als Meilenstein betrachten. Statt um politische Integration geht es darin vor allem um wirtschaftliche Detailfragen.

Ob Wladimir Putin in dieser Situation ein Interesse daran hat, dass europäische Politiker nun direkt mit Lukaschenko kommunizieren müssen, um die Krise zu entschärfen, ist überaus zweifelhaft. Stattdessen nutzte Putin am Donnerstag einen Auftritt im Moskauer Außenministerium, um einen Dialog zwischen Opposition und Regierung in Belarus anzumahnen. Gewiss geht es Wladimir Putin dabei weniger um das Schicksal der Demokratiebewegung im kleinen Nachbarland – vielmehr dürfte das eine Erinnerung gewesen sein, dass die scheinbar uneingeschränkte russische Unterstützung ohne handfeste Zugeständnisse aus Minsk nicht auf ewig halten dürfte. Dass der Kremlchef solche Signale senden muss, zeigt eindrücklich: Alexander Lukaschenko ist alles andere als seine willenlose Marionette.

Quelle: MDR, Osteuroparedaktion

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 19. November 2021 | 17:45 Uhr