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Georgien: Hirten im Grenzkonflikt

29. Dezember 2021, 05:00 Uhr

In der Weihnachtsgeschichte waren es die Hirten, die als Erste von Christi Geburt erfuhren. Auch im Norden Georgiens sind es die Hirten, die Veränderungen mit als erste zu spüren bekommen. Allerdings geht es hier um einen umstrittenen Grenzverlauf, der sich seit 2008 immer wieder mal ändert und ihre Weiden langsam auffrisst. Und es sind auch keine Engel, die die Nachricht überbringen, sondern bewaffnete russische Soldaten.

Ist schon drei Mal verhaftet worden: Der Hirte Gogi Papitashvili. Bildrechte: Ralph Hälbig

Der Georgier Gogi Papitashvili steht auf der Weide seines Dorfes und blickt den Kühen nach, die auf der Suche nach Futter herumstreifen. "Lass sie nicht in die Schlucht hinunter!", ruft der Hirte seinem Hirtenjungen Illia zu. Der muss rennen, um das Vieh zurückzutreiben. Denn irgendwo da unten verläuft eine Grenze. Eine Grenze, die es eigentlich nicht geben dürfte.  

Gogi lebt in Kirbali, einem kleinen Dorf im Norden Georgiens, direkt an der Demarkationsline zu Südossetien. Seit dem russisch-georgischen Krieg 2008 wird die Dorfweide immer kleiner. Damals haben sich die Regionen Südossetien und Abchasien mit militärischer Hilfe aus Russland von Georgien abgetrennt. Zwar hat Russland Südossetien nach dem Krieg als souveränen Staat anerkannt. Doch die wirtschaftliche Abhängigkeit von Moskau ist immens, der Kreml hat großen Einfluss auf die südossetische Regierung. So kontrolliert Russland faktisch die Region und verschiebt die Grenzlinie immer tiefer in georgisches Gebiet.

Diese Linie zu überschreiten ist verboten. Sie wird meist von russischen Soldaten bewacht. Im Schnitt wird alle zwei, drei Tage jemand in der Region verhaftet. Die Begründung: illegaler Grenzübertritt. Gogi ist bereits drei Mal verhaftet worden. Zweimal kam er nach einigen Stunden wieder frei, einmal musste der Hirte zwei Monate lang in einem südossetischen Gefängnis sitzen.

Das Vieh schert sich nicht um die Grenze

Das Problem ist nur: Da die Grenze in Gogis Dorf noch nicht befestigt ist, bleibt sie für die Hirten unsichtbar. Sie verläuft irgendwo in der Nähe des kleinen Flusses, der durch das Tal fließt. Und das Vieh schert sich ohnehin nicht um die Grenzstreitigkeiten der Menschen. Es geht dahin, wo es Futter und Wasser findet. Regelmäßig läuft ein Tier in die Sperrzone und bringt die Hirten in eine Zwickmühle: "Wenn die Kühe weiterlaufen, was sollen wir dann tun?", sagt Gogi verzweifelt. "Wir müssen sie doch zurückbringen. Wir haben Angst. Das Vieh braucht aber Wasser! Im Dorf gibt es nicht genug. Das macht uns fertig." Deshalb riskieren es die Hirten immer wieder, die Grenzlinie zu verletzen und verhaftet zu werden: Sie können es sich nicht leisten, auch nur ein Tier zu verlieren. Trotzdem passiert es immer wieder: "Letztes Jahr waren es vier Kühe, im Jahr davor acht", klagt Gogi.

Die Kühe, die Gogi hütet, scheren sich nicht um die Grenzkonfikte der Menschen. Bildrechte: Ralph Hälbig

Und: Die Grenze bewegt sich. Seit dem Ende des Krieges verschieben russische Soldaten die Grenzbefestigungen immer wieder mal etwas weiter auf georgisches Territorium. Nicht viel: Nur etwa 50 oder 100 Meter auf einmal. Doch mit der Zeit kommt eben einiges zusammen. Die Georgier sprechen von einer "schleichenden Okkupation" ihres Staatsgebietes.

Ein beweglicher Grenzverlauf

Tamta Goguadze arbeitet für den georgischen Staatssicherheitsdienst, der die georgische Seite entlang der Demarkationslinie kontrolliert. Völkerrechtlich gehört Südossetien immer noch zu Georgien, deshalb sind die russischen Militärs auf der anderen Seite in ihren Augen Besatzer. Goguadze und ihre Kollegen werden fast täglich Zeugen, wie die russisch-südossetischen Grenzanlagen immer weiter ausgebaut werden – und wie die Grenztruppen agieren: "Illegalerweise verhaften sie jeden, der sich der Besatzungslinie nähert", so Goguadze. Die Sicherheitsbeamtin zieht einen politischen Vergleich: "Die Annexion der Krim durch Russland fiel auf, weil sie in kürzester Zeit verwirklicht wurde. Entsprechend war die Reaktion der internationalen Gemeinschaft. Der Kreml musste dafür einen hohen politischen Preis zahlen. Im Fall von Georgien passiert die Annexion schrittweise und langsamer und wird von der internationalen Gemeinschaft kaum bemerkt."

Die Regierung in der Hauptstadt Tbilisi scheint machtlos. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und Tbilisi sind zwar eingefroren. Doch wirtschaftlich ist Georgien abhängig von Russland – vor allem in Bereichen wie Energie, Infrastruktur und Tourismus. Deshalb setzt man im georgischen Außenministerium auf Deeskalation.

"Eine existenzielle Bedrohung für Georgien"

Der stellvertretende Außenminister Georgiens, Lasha Darsalia, beschreibt die Strategie hinter den permanenten kleinen Grenzverschiebungen durch russische Militärs: "Sie agieren entlang der ursprünglichen Verwaltungslinie, dort sind Felder und sie machen es Stück für Stück, um ein Instrument zu haben, Spannung auf der georgischen Seite zu erzeugen – um die Krise stetig aufrechtzuerhalten."

Georgiens stellvertretender Außenminister Lasha Darsalia. Bildrechte: Ralph Hälbig

Der zweite Mann im Außenministerium macht sich keine Illusionen darüber, welche Gründe der Kreml für sein Agieren hat: "Georgien hat zwei oberste Prinzipien: Das ist die territoriale Einheit und das ist die europäische und euroatlantische Integration. Die Russische Föderation versucht zu erreichen, dass wir entweder auf das eine oder das andere verzichten. Das ist eine existentielle Gefahr für Georgien." Moskau versucht – ähnlich wie bei der Ukraine - Georgiens Weg gen Westen zu verhindern. Ohne die Hilfe internationaler Partner hat Georgien der Expansionspolitik Russlands kaum etwas entgegenzusetzen.

Eine EU-Mission mit einem wesentlichen Manko

Um den 2008 ausgehandelten Waffenstillstand zwischen Russland, Südossetien und Georgien zu überwachen, wurde eine EU-Mission in die Krisenregion gesandt. Sie patrouilliert täglich entlang der Demarkationslinie. Ihre wichtigsten Aufgaben: Stabilisierung der Region und Vertrauensbildung zwischen den Konfliktparteien.

Die EU-Mission versucht, alle Vorgänge an der völkerrechtswidrigen Grenze zu observieren und meldet ihre Befunde nach Brüssel. Doch das ist nicht alles, sagt Natia, die aus Belgien kommt und Teil der Mission ist. Ihren Nachname will sie aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht lassen: "Unsere Überwachung hat auch humanitäre Aspekte. Wir beobachten, wie die Sicherheitslage das Leben der Menschen in diesen Gebieten beeinflusst und wir überwachen die Lage der Menschenrechte".

Rund 300 Personen aus fast allen EU-Ländern und teils auch aus Georgien arbeiten für die Mission. Das Budget der laufenden zwei Jahre beträgt rund 45 Millionen Euro. Doch die Mission hat ein wesentliches Manko: Ihr Mandat gilt nur für die georgische Seite, der Zugang zu Abchasien und Südossetien wird ihr verwehrt. Wie die Situation der Menschen in den abtrünnigen Regionen aussieht, ist der EU-Mission weitgehend unbekannt.

Eine Hotline für Konfliktfälle

Gleichzeitig sorgt die Mission für etwas mehr Kommunikation zwischen den Konfliktparteien. Denn mit Tskhinvali, dem Regierungssitz der sogenannten "Republik Südossetien", bestehen keine offiziellen Kontakte mehr. 2011 wurde eine Telefon-Hotline eingerichtet, über die beide Seiten Vorfälle melden und in akuten Konfliktfällen auch miteinander verhandeln können. "Besonders intensiv wird die Hotline bei Festnahmen benutzt oder auch bei Sicherheitszwischenfällen", sagt die Pressesprecherin der Mission, Sophie Guesne. "Aber es geht inzwischen auch zunehmend um ganz andere Dinge. Zum Beispiel, wenn jemand zusätzliches Wasser zum Bewässern braucht. Dann versuchen wir das von der anderen Seite zu besorgen". 

Angstzonen und ein verlorener Friedhof

Derweil werden die Dörfer an der Demarkationslinie im Volksmund "Shishis Zona" genannt – übersetzt: "Angstzonen". Die Abwanderung ist hoch. Die Menschen haben das Gefühl, dass die Regierung ihre Dörfer bereits aufgegeben hat. Hirte Gogi erzählt von den Konsequenzen, den der stetige Landverlust für das Dorf hat, in dem er lebt. Weil das Weideland immer knapper werde, habe die Herde des Dorfes von ursprünglich 100 auf 16 Kühe schrumpfen müssen: "Wenn wir jetzt 100 Tiere zur Weide bringen würden, wo sollen die noch grasen? An einem Tag wäre alles aufgefressen. Deswegen haben die Leute ihre Kühe verkauft". Und nicht nur Weideland geht verloren. Selbst der Friedhof hat inzwischen die Seite gewechselt, beklagt Gogi: "Wir dürfen nicht mehr dorthin, wo unsere Vorfahren begraben liegen."

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL RADIO | 23. August 2018 | 13:15 Uhr