Besuch vor OrtWarum es in einem Dorf in Litauen viel Kritik an Deutschland gibt
Kintai ist ein Dorf in Litauen am Kurischen Haff. Die russische Enklave Kaliningrad liegt nur 20 Kilometer entfernt. Doch vor den Russen hat in Kintai kaum noch jemand Angst. Den Menschen geht es vielmehr darum, ihre wirtschaftliche Zukunft zu gestalten. Warum sie von Deutschlands Russland-Politik wenig halten: ein Besuch vor Ort.
Inhalt des Artikels:
- Litauen – keine Angst mehr vor den Russen
- Nord Stream, Schröder und die Warnung vor Russland
- Wirtschaftliche Hoffnung am Haff, Investitionen und echte Partnerschaft
Mindaugas Zilinskis ist der Pfarrer in Kintai. Seine Stimme ist laut und eindringlich. Sein Händedruck zur Begrüßung ist fest und entschlossen. Zilinskis ist ein zupackender Pfarrer, der seit 20 Jahren die kleine lutherisch-evangelische Gemeinde in Kintai führt. Ich bin mit ihm verabredet, damit er mir sein Dorf zeigt.
Kintai ist ein kleiner Ort am Kurischen Haff bei Klaipeda. Als ich hier eingetroffen bin, fiel mir die Schönheit der Natur auf, die Wiesen mit den vielen Störchen – und die Ruhe. Nur Möwen hört man ab und zu.
In Kintai leben etwa 600 Menschen. Es gibt vier Kneipen und eine Bäckerei, die aber alle nur im Sommer aufhaben. Die Leute leben von der Landwirtschaft, der Fischerei und vom Tourismus. Seit Jahren sinkt die Einwohnerzahl des ohnehin kleinen Ortes, weil viele junge Menschen nach der Schule in die Städte gehen und nicht zurückkommen.
Angst vor einem Einmarsch der Russen in Litauen
Bei unserem Gang durch den Ort kommen wir schnell auf das Thema Russland zu sprechen. Die russische Enklave Kaliningrad liegt nur 20 Kilometer von Kintai entfernt. Mindaugas Zilinskis sagt mir, mit den Russen, die er in Litauen kenne, könne man nicht mehr reden, weil sie für sachliche Argumente nicht mehr erreichbar seien. Die Russen würden den Litauern vorwerfen, "dumm wie Schafe" zu sein, weil sie nur auf die Propaganda des Westens hörten.
Früher, vor dem Krieg, habe er Angst vor den Russen gehabt, sagt Zilinskis, auch vor einem Einmarsch der russischen Armee in Litauen. Die Menschen hätten viele Jahre gesagt, die Russen könnten Litauen in 30 Minuten überrennen, Kämpfen mache keinen Sinn. So denke jetzt niemand mehr. In der Ukraine habe sich gezeigt, dass die Russen kaum noch in der Lage seien, militärisch erfolgreich zu sein. Und wenn die Russen tatsächlich kämen, dann würden alle Litauer kämpfen. Er selbst auch.
Kaum noch jemand hat hier Angst vor denen.
Mindaugas Zilinskis
"Was euer Schröder angerichtet hat, ist richtig scheiße!"
Als wir bei der Bäckerei vorbeilaufen, wird der Pfarrer plötzlich richtig wütend, weil wir auf die deutsche Politik der vergangenen Jahre zu sprechen kommen. "Was euer Schröder angerichtet hat, ist richtig scheiße!" Der Pfarrer brüllt mich fast an, als ob ich Schröders Abgesandter bin.
Aber Zilinskis beruhigt sich schnell wieder und fügt hinzu: "Im Baltikum haben alle Politiker davor gewarnt, Nord Stream 1 zu bauen." Deutschland habe nicht darauf gehört. Schon vor 20 Jahren sei klar gewesen, dass Russland ein Aggressor sei und seine Rohstoffvorkommen als Waffe nutze.
Unabhängig vom russischen Gas
Während Litauen im Hafen von Klaipeda schon vor Jahren sein erstes Terminal für Flüssig-Gas aus den USA in Betrieb genommen habe, habe Deutschland sogar noch Nord Stream 2 zugelassen und damit seine Abhängigkeit von Russland noch vergrößert.
Litauen versorge mit dem Terminal das gesamte Baltikum mit Gas. "Wir können doch von hier eine Pipeline nach Deutschland bauen und euch das Gas aus den USA schicken." Mindaugas Zilinskis lächelt bei dem Gedanken. Der deutsche Kurswechsel beim LNG und die jetzt die Planungen für neue Terminals – das sind in Litauen Themen in den Nachrichten.
Das ist KintaiKintai liegt im sogenannten Memelgebiet und war viele Jahre Teil von Deutschland. 1944 wurden 90 Prozent der deutschstämmigen Bevölkerung von der deutschen Wehrmacht gezwungen, den Ort zu verlassen, viele gingen gegen ihren Willen. In die Häuser zogen Litauer ein, die seitdem die Mehrheit in dem Dorf stellen.
Tourismus am Haff als Chance
Wir sind am Haff angekommen, das nur einen Kilometer entfernt von Kintai liegt. Hier liegen die großen wirtschaftlichen Chancen des Ortes und der gesamten Region, denn das Haff ist einzigartig schön. Eine Kitesurfschule gibt es hier bereits, einen kleinen Campingplatz und Ferienlager für Kinder.
Hier will der Ort weiter investieren und hofft auf mehr Gäste, auch aus dem Ausland. Dafür braucht es Infrastruktur wie Pensionen oder Hotels. Wenn man von Kintai über das Haff in Richtung Kurische Nehrung schaut, dann liegt da Nidden, der berühmte Ostseeort, wo schon jetzt viele Touristen auch aus Deutschland kommen.
Als wir uns wenig später verabschieden, frage ich den Pfarrer, was er sich denn wünsche von den Deutschen. Ohne zu zögern meint er: "Echte Partnerschaft!" Und das bedeute für ihn, dass "der große Partner offen sein müsse für die Argumente des viel Kleineren".
In Kintai wurde 1939 der Vater des Verfassers des Artikels geboren.
Mehr aus Litauen
MDR (Frank Rugullis, Luca Deutschländer)
Kommentare
{{text}}