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UnabhängigkeitstagPolen: Nationalisten demonstrieren trotz Corona

12. November 2020, 19:16 Uhr

Polen hat am 11. November seinen 102. Unabhängigkeitstag begangen. Seit Jahren nutzen Nationalisten und Rechtsradikale den Tag für einen Marsch durch die polnische Hauptstadt, an dem Hundertausende teilnehmen. Auch heute demonstrieren Tausende gegen eine "linke Kulturrevolution" in Europa. Und das, obwohl die Demo verboten wurde und die Coronazahlen in Polen explodieren. Doch die Regierung drückt ein Auge zu. Bei der Warschauer Polizei sorgt das für großen Unmut.

von Monika Sieradzka, Warschau

Jedes Jahr ziehen am polnischen Unabhängigkeitstag zehntausende Patrioten, Nationalisten und Rechtsradikale durch das Stadtzentrum der Hauptstadt Warschau. Bildrechte: imago images/Eastnews

"Unsere Zivilisation, unsere Regeln", so das diesjährige Motto des Marsches zum 102. Jubiläum der polnischen Unabhängigkeit am 11. November 1918. Seit zehn Jahren zelebrieren polnische Patrioten, Nationalisten und Rechtsradikale den Tag mit einem Marsch durch die Hauptstadt Warschau. Die Fahnen und Transparente für dieses Jahr waren schon fertig, als der Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski die Demo wegen der bestehenden Corona-Restriktionen in Polen kurzfristig verbot.

So beschlossen die Veranstalter, stattdessen einen patriotischen Motorrad- und Autokorso durch Warschaus Straßen zu organisieren. Weil die Straßen jedoch gesperrt wurden, versammelten sich die Demonstranten im Zentrum von Warschau und starteten von dort aus ihren Marsch. Dabei kam es zu Auseiandersetzungen mit der Polizei. Doch für ihren "Kampf der Zivilisationen" nehmen die polnischen Patrioten dies in Kauf. Gerade während der derzeitigen massiven Proteste in Polen gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts sei die "Verteidigung der christlichen Werte" akut notwendig, erklärt Mateusz Marzoch, Pressesprecher der Allpolnischen Jugend. Die rechtsradikale Organisation ist einer der drei Veranstalter.

Mateusz Marzoch von der rechtsradikalen Allpolnischen Jugend wähnt das Land in einem Kulturkampf gegen den Folgen des Liberalismus. Schuld daran sind für ihn Altkommunisten, LGTB-Aktivisten und die Europäische Union. Bildrechte: Monika Sieradzka/MDR

Nationalisten im Aufwind

"Was wir derzeit in Polen und in Europa sehen, ist eine linke Kulturrevolution. Wir wollen ihr entgegenwirken", sagt Marzoch. damit meint er vor allem die sogenannten Frauenproteste im Land. Im Oktober sprach Polens oberster Gerichtshofs ein Urteil, dass Abtreibungen in Polen quasi verbietet. Seitdem demonstrieren zehntausende Polinnen, regelmäßig gegen das Urteil, die nationalkonservative Regierung und die Kirche.

Das ist für Marzoch ein Ausdruck des moralischen Verfalls. Die liberalen Proteste hätten die rechte Szene aber mobilisiert, freut er sich: "Zurzeit bewerben sich viele Polen um die Aufnahme in unsere Organsiation. Junge Patrioten wollen die Grundwerte verteidigen."

Auf dem diesjährigen Veranstaltungslogo des Unabhängigkeitsmarsches sieht man einen Husaren, der mit seinem Schwert einen Stern zerschmettert. Der Stern ist zur Hälfte rot und zur Hälfte in Regenbogenfarben. Rot symbolisiert den Kampf gegen den Kommunismus, und die Zerstörung des Regenbogens ist eine Kampfansage an LGBT-Gruppen. Polnische Rechtsradikale haben sich in den vergangenen Jahren stark für die Einführung der sogenannten "LGBT- freien Zonen" in polnischen Städten und Dörfern stark gemacht, durch die nicht-heterosexuelle Menschen stigmatisiert werden.

Offizielles Plakat zum Unabhängigkeitsmarsch in Warschau 2020 Bildrechte: www.facebook.com/MarszNiepodleglosci

Duldung der PiS-Regierung

Die nationalkonservative PiS-Regierung zeigt durchaus Sympathien für die Rechtsradikalen, auch wenn sie dies bislang nicht offiziell äußerte. Doch nun bekamen die Veranstalter des Unabhängigkeitsmarsches sogar Lob von der Regierung. Dass es nun einen patriotischen Motorrad- und Autokorso gebe, zeuge "von einem gewissen Verantwortungsgefühl der Organisatoren", sagte Michal Dworczyk, Chef der Kanzlei des Premierministers Mateusz Morawiecki.

Die Frauenproteste hingegen verurteilte der Regierungschef zuletzt, da sie die Pandemie weiter anfachen würden. Anfangs hatte Morawiecki auch von einem Unabhängigkeitsmarsch abgeraten. Dass sich sein Kanzleichef nun anders äußert, wird im Land als stumme Zustimmung des Premierministers gewertet.

Unmut bei der Polizei

Die einseitige Toleranz der Regierung hatte vor allem bei der polnischen Polizei für Unmut gesorgt. Dort war man sich bis zuletzt unklar draüber, ob man die illegale Demo auflösen oder ein Auge zudrücken soll. "Das ist keine Frage der Sicherheit, das ist schon Politik", sagte ein anonym interviewter Polizist im Gespräch mit der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza.

Die Verbitterung bei der Polizei war gewachsen, nachdem unlängst auf Betreiben der Regierung Polizisten hart bestraft wurden, die das Wohnhaus des PiS-Chefs Jarosław Kaczyński bewacht hatten. Sie griffen nicht ein, als Demonstranten der Frauenproteste ein Transparent mit der Aufschrift "Verpiss dich" an dessen Zaun gehängt hatten. Am 11. November hatten sich etliche Warschauer Polizisten aus Protest krankschreiben lassen.

Die andere Revolution

Auch die protestierenden Frauen bleiben ausnahmsweise zu Hause. "Wir wollen nicht mit den Nationalisten kollidieren. An diesem Tag bleiben wir in der Quarantäne, weit weg vom Nationalismus", sagt Marta Lempart, die die Proteste organisiert. Gruppen von Jugendlichen planen für den Unabhängigkeitstag eine Online-Blockade der Behörden. Sie wollen massenweise E-Mails verschicken, in denen sie die Missstände im Land aufzählen.

Der 11. November steht symbolisch für den polnischen Unabhängigkeitskampf, weil das Land am 11. November 1918 nach 123 Jahren Fremdherrschaft wieder zu einem freien Staat wurde. Wie viele liberal gesinnte Polen ärgert sich auch Marta Lempart darüber, dass dieser Jahrestag seit Jahren "von den Rechtsradikalen und Nationalisten besetzt" werde.

Auch sie wähnt das Land durch die Frauenproteste der vergangenen Wochen in einer Art Revolution. Einer, die aus Polen genau das machen soll, was die Veranstalter des Unabhängigkeitsmarsches ablehnen: ein liberales weltoffenes Land.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 23. Oktober 2020 | 01:13 Uhr

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