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Osteuropa-Redakteur Cezary Bazydlo zum Machtwechsel in Polen Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Machtwechsel in PolenPolens neue Regierung: Schwieriges Aufräumen nach acht Jahren PiS

13. Dezember 2023, 12:09 Uhr

Die Tage der PiS-Regierung in Polen sind endgültig vorbei. Am Mittwoch ist Donald Tusk als neuer polnischer Ministerpräsident vereidigt worden. Seine Regierung wird vor gewaltigen Herausforderungen stehen.

Die Erwartungen an die künftige Regierungskoalition unter Donald Tusk sind riesig. Die neue Regierung, von einem Bündnis bisheriger Oppositionskräfte angestrebt, wird aber unter äußerst schwierigen Bedingungen agieren müssen, mit einem ihr kritisch bis feindlich gegenüberstehenden Präsidenten Andrzej Duda.

Harte Nuss: Vetorecht von Präsident Duda

Letzterer hat bereits in der Eröffnungssitzung des neuen Parlaments angekündigt, von seinem Vetorecht gegen die Gesetze der neuen Regierungsmehrheit regen Gebrauch zu machen. Die Zusammenarbeit mit Duda könnte sich als äußerst schwierig erweisen, da dieser sich nie wirklich vom Einfluss seiner Mutterpartei PiS befreit hat. Er werde "die wichtigsten Errungenschaften der letzten acht Jahre aufrechterhalten", kündigte das Staatsoberhaupt an.

Will von seinem Veto-Recht regen Gebrauch machen: Präsident Andrzej Duda bei der ersten Sitzung des neuen Parlaments. Bildrechte: IMAGO / Eastnews

Zu diesen "Errungenschaften" zählt Duda die umstrittene Justizreform, die nach PiS-Darstellung die Arbeit der Gerichte effizienter machen sollte, in Wahrheit aber deren Unabhängigkeit einschränkte und die Gewaltenteilung aushebelte. Die neue Regierung will diese Änderungen rückgängig machen, doch sie wird nur schwer gegen das präsidiale Veto ankommen, denn dafür benötigt man eine qualifizierte Mehrheit von 276 Stimmen. Die künftige Regierung verfügt nur über 248 Sitze im Sejm, dem Unterhaus des Parlaments, und die Amtszeit des Präsidenten endet erst in gut eineinhalb Jahren – eine verfahrene Situation, die sich bei vielen anderen Reformvorhaben wiederholen könnte.

Dies wiegt umso schwerer, als die neue Regierung unverzüglich große Probleme wird angehen müssen, die entschlossenes Handeln erfordern, etwa die steigenden Energiepreise, die sinkende, aber nach wie vor hohe Inflation oder den Kollaps vieler Bereiche der öffentlichen Dienstleistungen, vor allem des Gesundheitswesens. Zudem wird die Tusk-Regierung die wichtigen Versprechen aus dem Wahlkampf einhalten wollen, zum Beispiel starke Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst bei gleichzeitigen Steuersenkungen – und all das vor dem Hintergrund einer bisher noch unbekannten Haushaltslage, die mit vielen unangenehmen Überraschungen aufwarten kann.

Verworrene Rechtslage: Die polnische Justiz wird eine harte Nuss für die neue Regierung. Bildrechte: IMAGO / Pond5 Images

Dringlichste Aufgabe: Streit mit der EU beenden

Ganz oben auf der Prioritätenliste von Tusk steht auch die Freigabe von fast 77 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds der EU für die Belebung der polnischen Wirtschaft. Dazu müssen aber einige "Meilensteine" erreicht werden, um die polnische Justiz aus dem Würgegriff der Politik zu befreien, fordert Brüssel.

Paradox: Die Polen zählen zu den EU-Enthusiasten und befürworten mehrheitlich die Gemeinschaft – doch die PiS-Regierung legte sich andauernd mit Brüssel an. Bildrechte: IMAGO / ZUMA Wire

Die PiS hat hier nach Ansicht vieler namhafter Juristen zahlreiche Verfassungs- und Gesetzesbrüche begangen und dadurch eine völlig verworrene Rechtslage geschaffen. Viele Richter gelten beispielsweise als unrechtmäßig berufen, was die rechtliche Wirksamkeit Tausender Urteile und Gerichtsbeschlüsse in Frage stellt – und dabei geht es nicht nur um Strafsachen, sondern auch zivilrechtliche Urteile, wie Scheidungen, Unterhaltsansprüche und Erbschaften.

Beim Versuch, hier "aufzuräumen", muss die neue Regierung aber in besonderem Maße mit einem Veto des Präsidenten rechnen. Aus diesem Grund gibt es Überlegungen, die Justiz nicht mit Hilfe regulärer Gesetze zu sanieren, sondern durch einfache Parlamentsbeschlüsse, die dann beispielsweise die Wahl bestimmter Verfassungsrichter für gesetzeswidrig und damit nichtig erklären. Dies wäre ein schneller Weg, den Präsident Duda nicht verhindern kann – allerdings auch ein kontroverser für eine Regierung, die im Wahlkampf die Rückkehr zu demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien versprochen hat.

Wählerwunsch: Abrechnung mit der PiS

Ein weiterer wichtiger Schritt, den viele Wähler der Noch-Opposition erwarten, ist die Abrechnung mit der PiS-Regierung und ihren zahlreichen Skandalen. Die Zahl der zu klärenden Affären ist enorm: die illegale Überwachung von Oppositionspolitikern mit Hilfe der israelischen Spionagesoftware Pegasus, die Vorbereitung einer rechtswidrigen und final verworfenen Briefwahl fürs Präsidentenamt in der Coronapandemie für 70 Millionen Złoty, der überteuerte Einkauf von Beatmungsgeräten bei einem dubiosen Waffenhändler für 160 Millionen Złoty oder die Vergabe millionenschwerer Zuschüsse durch Ministerien, Institute und Staatsunternehmen an befreundete, PiS-nahe Einrichtungen – um nur die wichtigsten zu nennen.

Unangenehme Erinnerungen an die Pandemie in Polen – nicht nur wegen des Lockdowns, sondern auch wegen Affären, die auf das Konto der PiS-Regierung gehen. Bildrechte: IMAGO / NurPhoto

Eine eigene Kategorie stellt die sogenannte "politische Korruption" dar: Da die PiS-Mehrheit in der zweiten Wahlperiode relativ dünn und brüchig wurde, "bezahlte" die Regierungspartei einige Abgeordnete für den Wechsel ins Regierungslager oder den Verbleib darin mit politischen Ämtern, lukrativen Posten und persönlichen Vorteilen.

Unter "ferner liefen" sollen die zahlreichen Vorwürfe von Amtsmissbrauch, Pflichtverletzung, Veruntreuung öffentlicher Gelder für Partei- und persönliche Zwecke und Vetternwirtschaft in Behörden und Staatsunternehmen untersucht werden. Um all diese Fälle aufzuklären, braucht man aber unabhängige Staatsanwaltschaften – deren Führungsetagen sind aber oft mit willigen Helfern und Vertrauten des Noch-Justizministers Zbigniew Ziobro besetzt.

Will nach acht Jahren PiS "aufräumen": das neugewählte polnische Parlament bei seiner ersten Sitzung Bildrechte: picture alliance/dpa/AP | Czarek Sokolowski

Untersuchungsausschüsse für PiS-Affären

Zumindest bei den größten PiS-Skandalen lässt sich die Staatsanwaltschaft aber umgehen, indem man einen Untersuchungsausschuss des Parlaments einsetzt. Der künftige Regierungschef Tusk hat die Bildung von mindestens drei Untersuchungsausschüssen bis Jahresende angekündigt: zur illegalen Briefwahl, der Pegasus-Affäre und der Visa-Affäre, bei der das polnische Außenministerium Tausende Schengen-Visa an Einwanderer aus Asien und Afrika ausgab, die damit leichter über Europa in die USA gelangen konnten – natürlich gegen entsprechende Bestechungsgelder.

Die Sitzungen der Untersuchungsausschüsse sollen live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen TVP ausgestrahlt werden, doch das ist im Moment nichts anderes als ein Propagandainstrument der Regierung – und ein weiterer Punkt auf der To-do-Liste beim großen Aufräumen nach acht Jahren PiS an der Macht.

Öffentlich-rechtliche Medien in Trümmern

Im Wahlkampf behauptete Donald Tusk, er bräuchte nur 24 Stunden, um "TVPiS" wieder zu einem wahren öffentlich-rechtlichen Sender zu machen. Aber auch das wird in Wahrheit eine schwierige Aufgabe sein, weil die PiS ihre Vertreter im Nationalen Medienrat installiert, oder – wie man in Polen sagt – "festbetoniert" hat. Das Gremium bestimmt die Führungsriege von TVP, der Polnischen Presseagentur und des Polnischen Rundfunks. Dessen Amtszeit läuft noch bis 2028.

Gilt als Propagandatube der Regierung: Die Wahldebatte von TVP war von Suggestivfragen geprägt, die die PiS begünstigen sollten. Bildrechte: IMAGO / newspix

Seit der Wahl wird in den polnischen Medien darüber spekuliert, ob die neue Regierung sich für eine "weiche" oder für eine "atomare" Lösung entscheiden wird, und wie diese überhaupt aussehen könnte. Ein möglicher "harter" Ansatz wäre beispielsweise, die Wahl der drei PiS-nahen Ratsmitglieder per Parlamentsbeschluss zu annullieren und neue zu wählen. Da es "nur" ein einfacher Beschluss und kein Gesetz wäre, könnte Präsident Duda kein Veto dagegen einlegen. Auch formaljuristische Tricks sind im Gespräch, etwa die Auflösung von TVP zu beschließen, womit der neue Kulturminister das Recht hätte, dort eine kommissarische Leitung am Nationalen Medienrat vorbei einzusetzen. Letzterer zählt im Übrigen zu den zahlreichen PiS-Erfindungen, die nach Meinung vieler Juristen verfassungswidrig sind.

Staatskonzerne auf dem Prüfstand

Auch die vielen Staatsunternehmen werden aller Voraussicht nach neue Aufsichtsräte und Spitzenmanager bekommen. Diese seien in den vergangenen acht Jahren nicht nach Fähigkeiten und Kompetenzen, sondern vor allem nach dem Parteibuch an PiS-Mitglieder und Anhänger vergeben worden, so ein weit verbreiteter Vorwurf. Es werde dort einen "Tsunami von Experten" geben, die die PiS-nahen Führungskräfte ersetzen werden, kündigte der Fraktionschef der Bürgerplattform und Tusk-Vertraute Borys Budka noch im Wahlkampf an. "Diejenigen, die unrechtmäßig Gelder ausgegeben haben, müssen wissen, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden", so Budka weiter.

Gescheiterter Nachfolger: Der Chef des größten Staatskonzerns Orlen, Daniel Obajtek (rechts), wurde einige Zeit lang als potentieller Nachfolger von Noch-Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (links) gehandelt. Bildrechte: IMAGO / ZUMA Wire

Einer der spektakulärsten Rücktritte wird sicherlich der von Daniel Obajtek, dem Chef des Ölkonzerns Orlen, sein, der an seinen Tankstellen vor der Wahl monatelang Sprit unter Preis verkaufte, um das Wahlvolk gnädig zu stimmen und die Inflation zu drücken. Für Obajteks Abberufung aus dem Vorstand wird – dank einer noch von der PiS-Regierung vorgenommenen Satzungsänderung – ausnahmsweise eine einzige Ministerunterschrift genügen.

Der einst so mächtige, vorübergehend sogar als Nachfolger von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki gehandelte Obajtek, muss in der neuen politischen Realität ein Ermittlungsverfahren wegen Untreue befürchten. Allein der politisch motivierte Spritrabatt, im Volksmund spöttisch als "Wunder an der Tanke" bezeichnet, hat sein Unternehmen nach verschiedenen Schätzungen zwischen eineinhalb und sogar mehreren Milliarden Złoty gekostet. Weitere umstrittene Geschäfte Obajteks stehen ebenfalls auf dem Prüfstand.

Das "Wunder an der Tanke": Monate vor der Wahl verkaufte der Staatskonzern Orlen Sprit und Diesel unter Herstellungskosten. Bildrechte: IMAGO / CTK Photo

Besonders süffisant in diesem Zusammenhang: Obwohl Obajtek vor der Wahl ankündigte, im Falle einer PiS-Niederlage "ehrenvoll" zurückzutreten, bleibt er nach wie vor im Amt, und der Orlen-Vorstand gab laut Medienberichten vor drei Wochen eine Schulung in Auftrag, bei der Führungskräften beigebracht werden sollte, "wie man bei einer Festnahme sicher zu Boden fällt" und was man neben Medikamenten und einer Zahnbürste in eine Notfalltüte für die Untersuchungshaft packen sollte. Wie viele solcher Notfallsets tatsächlich benötigt werden, wird die polnische Öffentlichkeit in nicht allzu ferner Zukunft erfahren.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 11. Dezember 2023 | 19:30 Uhr