Adipositas-TherapieHype um Ozempic und Wegovy: Welches Potential hat die Abnehm-Spritze?
Hollywood-Stars lieben sie, Kim Kardashian schwört darauf und auch Elon Musk hat sie schon erfolgreich benutzt: Die Spritze zum Abnehmen. Und es klingt ja auch verlockend: Einfach einmal pro Woche eine Spritze und schon schmelzen die Pfunde dahin. In den sozialen Netzwerken ist bereits ein richtiger Hype ausgebrochen, der jetzt in Deutschland zu Egpässen führt. Dabei ist das Medikament eigentlich nur zur Behandlung von Diabetes und Adipositas zugelassen.
Update 26.05.2023: Lieferengpass für Semaglutid
Weil das verschreibungspflichtige Diabetes-Medikament Semaglutid vermehrt als Abnehmhilfe genutzt wird, besteht aktuell ein Lieferengpass für das Präparat. Nach Angaben von David Francas, Professor für Daten- und Lieferkettenanalyse an der Hochschule Worms, wird Semaglutid gehypt, weil man gemerkt habe, dass man es auch zum Abnehmen nutzen könne. Deshalb habe man plötzlich "einen Off-Label-Use für das Medikament, der auch die Nachfrage treiben kann".
Bei einem "Off-Label-Use" - also einer anderen Verwendung als auf dem Etikett angezeigt - wird ein Arzneimittel gegen eine Krankheit eingesetzt, für die es gar nicht zugelassen ist.
Hype um Abnehmspritze
Semaglutid heißt einer der Wirkstoffe, der vielen Menschen mit Adipositas – also krankhaftem Übergewicht ab einem Body-Mass-Index von 30 – große Hoffnungen macht. In Deutschland ist er momentan nur in Form des Diabetes-Medikaments Ozempic zu bekommen. Dabei handelt es sich um eine Spritze, die einmal wöchentlich unter die Haut gespritzt werden muss. Zwar ist auch das Semaglutid-Medikament Wegovy bereits von der Europäischen Arzneimittelagentur Ema zur Behandlung von Adipositas zugelassen, aber aufgrund von Lieferengpässen konnte der Hersteller es noch nicht auf den deutschen Markt bringen. Man müsse zunächst die hohe Nachfrage im bestehenden Markt in den USA bedienen, heißt es vom dänischen Pharma-Hersteller Novo Nordisk.
Doch das kann das Interesse an der Abnehm-Spritze auch in Deutschland kaum dämpfen. Besonders in den sozialen Netzwerken sind sie ein großes Gesprächsthema. Allein auf TikTok verzeichnen die Hashtags #Ozempic und #Wegovy über 600 Millionen Aufrufe. Und die beiden Semaglutid-Medikamente sind erst der Anfang: Forschende erproben bereits weitere Wirkstoff-Kandidaten in Form solcher Abnehm-Spritzen in klinischen Studien und sie haben bereits den Weg in die Adipositaszentren gefunden. Die US-Zulassungsbehörde FDA prüft etwa derzeit ein dual wirkendes Medikament, das bei Personen mit Adipositas noch besser wirken soll.
Wirkstoff steigert Sättigungsgefühl
Der Wirkstoff Semaglutid ist der Ema zufolge ein sogenannter GLP-1-Rezeptoragonist. Es wirkt auf die gleiche Weise wie das Darm-Hormon GLP1: Es erhöht die Insulinmenge, die die Bauchspeicheldrüse als Reaktion auf die Nahrungsaufnahme freisetzt. Und das wiederum hilft bei der Kontrolle des Blutzuckerspiegels. Ein weiterer Effekt des Medikaments ist, dass es das Sättigungsgefühl steigert und so die zugeführten Kalorien, den Hunger und auch den Appetit auf Essen reduziert. Das passiert, weil der Wirkstoff im Gehirn bestimmte neuronale Regelkreise aktiviert, die für die Hunger-Regulation zuständig sind, sagt Dr. Timo Müller vom Institut für Diabetes und Adipositas am Helmholtz Zentrum München. Dort forscht er an der pharmakologischen Entwicklung solcher Therapien.
Pharma-Forscher Müller erläutert, dass es sich bei Ozempic und Wegovy um den identischen Wirkstoff handelt. Die Handelsnamen seien unterschiedlich, weil die Dosierung sich unterscheidet. Denn als Diabetes-Medikament enthalte Ozempic eine geringere Menge Wirkstoff, die zwar auf die Bauchspeicheldrüse wirke, um den Zuckerstoffwechsel zu verbessern, aber eben noch nicht ausreiche, um auf den Rezeptor im Gehirn zu wirken. Das ist für den Abnehm-Effekt aber notwendig, so Müller. Für diese Wirkung brauche man etwa die doppelte Dosis des Wirkstoffs im Verhältnis zu der Dosis, die für die Diabetes-Behandlung notwendig sei.
Einmal Spritze, immer Spritze?
Einfach ein paar Wochen spritzen und schon ist die Adipositas geheilt, klingt allzu verlockend. Reicht das denn aus? Forscher Müller weist bei dieser Frage darauf hin, dass es sich eher um eine lebenslange Therapie handelt, wenn man sich nur auf die Spritze verlässt. Langzeit-Behandlungen an Nagetieren hätten gezeigt, dass die Tiere bei Beendigung auch relativ schnell wieder an Gewicht zugenommen hätten. "Und das Gleiche zeigt sich auch in klinischen Studien", so Müller. "Auch da nehmen die Patienten kontinuierlich über die ersten ein, anderthalb Jahre ab. Und wenn man die Therapie dann absetzt, dann nehmen sie auch sukzessive wieder zu."
Das bestätigt Professor Jens Aberle, Ärztlicher Leiter des Adipositas-Centrums und Facharzt für Diabetologie und Endokrinologe am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf sowie Präsident der Deutschen Adipositas Gesellschaft. Studien hätten gezeigt, dass die Patienten das Gewicht halten, solange sie die Substanz verwendeten. "Aber wenn man das absetzt – und die Daten sind auch publiziert –, dann sieht man im Durchschnitt wieder eine Gewichtszunahme." Aber, ergänzt Aberle, es gebe auch immer wieder Patientinnen und Patienten, die mit der Gewichtsreduktion ihr Leben so nachhaltig änderten, dass sie es auch ohne das Medikament schaffen, das reduzierte Gewicht zu halten. Und das sei natürlich auch das Ziel. Deshalb muss die Abnehm-Spritze im Behandlungsalltag von einer Verhaltenstherapie begleitet werden.
Dass es nicht ohne begleitende Therapie geht, meint auch Anja Hilbert, Professorin für Verhaltensmedizin und psychologische Leiterin der Adipositasambulanz am Universitätsklinikum Leipzig. Sie erklärt, dass die Betroffenen in der Therapie lernen, ihre Ernährung zu beobachten und zu bewerten und das Ernährungsverhalten zu ändern. "Also zum Beispiel Mahlzeiten umzugestalten, moderate Kalorienreduktion herbeizuführen oder körperliche Bewegung in den Lebensalltag einzuziehen und so weiter." Das sei auch in der Nachsorge wichtig, so Hilbert. "Das heißt, Verhaltenstherapie vorher, währenddessen und wahrscheinlich auch nachher."
Hoffnung für "hoffnungslose Fälle"
Im Klinikalltag spielt der Wirkstoff Semaglutid bereits eine große Rolle, berichtet Aberle. Entsprechend der Zulassung kommt das Medikament für Menschen mit einem BMI über 30 oder ab 27 mit gewichtsinduzierten Begleiterkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck in Frage. Allerdings müssen vorher konservative Therapiemaßnahmen gemacht worden sein: Ernährungsberatung, Bewegung und wiederum Verhaltenstherapie. Aber grundsätzlich sei die Nachfrage nach den Medikamenten groß, weil sie eben auch sehr effektiv seien und vor allem "vielen Menschen auch helfen können, die bislang gescheitert sind an Versuchen der Gewichtsreduktion", so Aberle.
In der Risiko-Nutzen-Abwägung schlägt das Pendel eindeutig zugunsten des Nutzens aus.
Prof. Dr. Jens Aberle, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Doch der Mediziner weist auch auf Nebenwirkungen hin. Diese seien allerdings bei adipösen Menschen überschaubar: "Fast alle Patienten erleben da eine gewisse Übelkeit zu Beginn." Deshalb steigere man die Dosis langsam. "Aber das ist bei den wenigsten Patienten tatsächlich ein Grund, die Medikation zu beenden", bilanziert Aberle. Es gebe außerdem ein gewisses Risiko für Gallensteine. Allerdings träten substanzielle Nebenwirkungen bisher selten auf.
Allerdings: Bisher übernimmt die Krankenkasse die Kosten für die Abnehm-Spritzen auch bei Adipositas-Patienten noch nicht. Denn Medikamente zur Gewichtsreduktion schließt der Gesetzgeber bisher von der Erstattung aus. Da Adipositas aber seit 2020 offiziell vom Deutschen Bundestag als Krankheit anerkannt ist, gibt es da einen gewissen Widerspruch, konstatiert Aberle. Er rechnet damit, dass sich das künftig ändern werde.
Spritze statt Magen-OP?
Die aktuellen Medikamente haben in den Studien gezeigt, dass sie das Gewicht über eine Anwendung von mehreren Wochen bis zu 15 Prozent reduzieren können. Die nächste Generation der dualen Abnehm-Spritzen könnten nach 70-wöchiger Behandlung sogar an die 25 Prozent Gewichtsverlust erreichen, glaubt Pharma-Forscher Müller. In den USA sind die ersten Spritzen dieser neuen Generation bereits im Zulassungsverfahren. Müller rechnet damit, dass sie auch zeitnah in Deutschland zugelassen werden.
Sollte das der Fall sein, könnte die Magen-OP, die bisher in extremen Fällen das Mittel der Wahl war, für viele Patientinnen und Patienten überflüssig werden. Denn mit einer Abnahme von einem Viertel des Körpergewichts komme man schon sehr nah an die Effektivität von Operationen, erklärt Kliniker Aberle. "Das wird eine ganze Reihe von Patienten zunächst mal von den Operationen abhalten, sofern die Medikamente dann irgendwann erstattungsfähig werden", meint er. Trotzdem gebe es individuelle Unterschiede. "Die Operationen sind eine in Anführungsstrichen gewünschte dauerhafte Lösung, die ohne tägliche oder wöchentliche Medikationseinnahme zur Gewichtsreduktion führt", so Aberle. Aber ein Teil der Betroffenen werde sicherlich nicht mehr operiert werden müssen.
Bei wenig Übergewicht: Möglich, aber möglicherweise sinnlos
Doch angesichts zahlreicher Videos auf den sozialen Netzwerken, in denen Menschen, die definitiv nicht an Adipositas leiden, von ihren Abnehm-Erfolgen erzählen, drängt sich natürlich die Frage auf, ob die Abnehm-Spritze auch bei nicht-adipösen funktioniert. Also wirken wird sie auch bei nicht-adipösen Personen, sagt UKE-Mediziner Aberle. "Die Frage ist nur, ob das sinnvoll ist." Auch bei Menschen mit BMI unter 27 sei eine Abnahme zu verzeichnen, aber die sei bei weitem nicht mehr so groß. Prinzipiell funktioniere das aber.
Doch womöglich funktioniert es auch nur bis zu einem gewissen Punkt, meint Pharma-Forscher Timo Müller. Denn in Maus-Studien lasse sich sehr gut nachweisen, dass der Gewichtsverlust umso größer ist, je mehr Fettmasse die Nagetiere hätten. Andersherum sei es so, dass der Gewichtsverlust stark nachlasse, je weniger Körperfett das Tier habe. Bei Tieren mit Normalgewicht passiere fast gar nichts. "Der Effekt auf den Blutzucker funktioniert eigentlich nur unter Bedingungen, wo der Blutzucker erhöht ist", so Müller.
Im Gegensatz zu vielen anderen Medikamenten in der Adipositashistorie ist das ein relativ sicheres Medikament, weil es einfach aufhört zu wirken, wenn man es nicht mehr braucht.
PD Dr. Timo Müller, Helmholtz-Zentrum München
Die Leipziger Professorin Hilbert rechnet trotzdem damit, dass die Abnehm-Spritze zum Lifestyle-Medikament werden könnte. "Weil viele Menschen natürlich sehen: Ja, da gibt es diese Medikamente und da muss ich mich auch nicht mehr groß anstrengen." Der Preis könnte sie womöglich abschrecken und dass es von einem Arzt verschrieben werden muss. Aber es werde dennoch Menschen geben, die es sich besorgen werden. "Ich sehe das immer so ein bisschen ähnlich wie die Trends zu Fettabsaugung oder plastischer Chirurgie", sagt Hilbert. "Das wird sich, denke ich, auf Dauer nicht wirklich verhindern lassen."
Es gibt allerdings ein Gruppe, für die diese Spritzen noch medizinisch relevant sein könnten: Menschen mit Prädiabetes könnte sie nämlich dabei helfen, dass sie gar nicht erst an Diabetes Typ-2 erkranken. "Jede Form der Gewichtsreduktion verbessert oder reduziert das Risiko der Transmission vom Prädiabetes zum Diabetes", sagt Mediziner Aberle. Liege die Abnahme dann bei rund 20 Prozent und mehr, dann habe das einen extrem positiven Effekt. Das bestätigt auch Timo Müller: Dadurch dass die Medikamente auch anti-inflammatorisch in der Bauchspeicheldrüse wirkten, könnten sie auch präventiv gegen Diabetes eingesetzt werden.
Gamechanger für die Adipositas-Therapie
Die Fachleute sind sich einig: Für die Adipositas-Therapie sind die Abnehm-Spritzen mit Semaglutid ein echter Gamechanger. Die Leipziger Professorin Hilbert ist sich sicher, dass sie sehr viel weiter helfen werden. "Die Menschen werden gesünder werden, werden schlanker werden", glaubt. sie. Der Hamburger Mediziner Aberle glaubt ebenfalls, dass die Mittel eine immer größere Rolle spielen werden. "Auch zu Recht", meint er. "Wir hatten noch nie Medikamente, die auch nur in der Nähe einer Effektivität waren, wie wir es jetzt erleben." Außerdem zeigten die Studien auch eine positive Wirkung auf das Herz-Kreislauf-System. Und dabei ist die Entwicklung bei dieser Wirkstoff-Klasse gerade einmal am Beginn, meint der Münchner Helmholtz-Forscher Müller. Die Pharma-Industrie arbeite bereits intensiv an weiteren Mitteln "Es wird da immer noch eine weitere Verbesserung geben."
(kie/dpa)
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Expertenrat: Was tun gegen Übergewicht? | 24. Januar 2023 | 12:00 Uhr