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Brauchen wir Stickstoff auf dem Feld? Oder nicht? Oder wie jetzt? Bildrechte: MDR/Sophie Mildner

Grünes Wunder?Stickstoff in der Landwirtschaft: Ist das jetzt gut oder schlecht?

13. Juni 2023, 17:12 Uhr

Seit Jahren kämpft Deutschland gegen die Nitratbelastung des Grundwassers. Trotz zweimaliger Verschärfung der Düngeverordnung überschreiten fast ein Drittel aller Messstellen des deutschen EU-Nitratmessnetzes den europäischen Schwellenwert. Auch andere Länder in der EU kennen das Problem. Hier setzt der European Green Deal mit dem Ziel der Düngemittelreduktion an. Doch wie gelangt das Nitrat überhaupt ins Grundwasser und warum ist Stickstoff in der Landwirtschaft unersetzlich?

von Inken Thiel

An einem unscheinbaren Punkt mitten zwischen Ackerflächen und Feldern, keine dreißig Kilometer von Magdeburg entfernt, wird in Deutschland die höchste Belastung des Grundwassers mit Nitrat gemessen. 350 Milligramm pro Liter, so lautet der Mittelwert der letzten veröffentlichten Messung im Jahr 2020. Dieser Wert ist siebenmal so hoch, wie der von der Europäischen Union festgelegte Schwellenwert von fünfzig Milligramm pro Liter. Obwohl dieser Wert als höchster heraussticht, ist er bei weitem nicht der Einzige, der den Schwellenwert übersteigt.

Doch warum besorgt uns das überhaupt? Wenn Nitrat in unseren Körper gelangt, kann es dort zu Nitrit umgewandelt werden. Das ist besonders für Babys gefährlich, da Nitrit die Aufnahme von Sauerstoff im Blut hemmt. Es besteht die Gefahr, dass das Baby erstickt. Auch bei Erwachsenen kann Nitrat Schäden verursachen. So können sich Nitrosamine bilden, die krebserregend sind.

Stickstoff als unersetzbarer Nährstoff in der Landwirtschaft

Bildrechte: MDR WISSEN

Doch gerade in der Landwirtschaft geht es nicht ohne Nitrat – beziehungsweise Stickstoff. Frank Eulenstein, Agraringenieur beim Leibniz-Institut für Agrarlandschaftsforschung ZALF erklärt das so: "Ohne Nährstoffe findet kein Pflanzenwachstum statt. Eine Pflanze braucht Stickstoff, um Eiweiß zu bilden. Daneben braucht sie Phosphor, um Energie transportieren zu können und Kalium ist für die Turgeszenz sehr wichtig." Turgeszenz beschreibt die Fähigkeit von pflanzlichen Zellen, Wasser und Nährstoffe aufzunehmen. "Auch Magnesium ist sehr bedeutsam für die Licht- und Energiesynthese." Dabei ist es nicht mit jedem der genannten Stoffe so vertrackt, wie mit dem Stickstoff. Phosphor und Kalium werden von den Böden gut gespeichert, daher können Landwirtinnen und Landwirte bei diesen Stoffen die Düngung reduzieren, ohne dass sich das unmittelbar auf den Ertrag auswirkt. Stickstoff hingegen ist flüchtig und wird von den Böden viel schlechter gespeichert.

Sylvain Pellerin, Agrarwissenschaftler beim Nationalen Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt in Paris, kennt das Problem. In Frankreich ist der Düngemitteleinsatz ähnlich hoch wie in Deutschland: "Wenn nicht genug Stickstoff im Boden vorhanden ist, wird der Ertrag sehr schnell beeinträchtigt. Daher sind Landwirte sehr viel zurückhaltender, wenn es darum geht, die Stickstoffzufuhr zu reduzieren."

Ohne Nährstoffe findet kein Pflanzenwachstum statt.

Frank Eulenstein | Argraringenieur

Wann der beste Zeitpunkt zum Düngen gekommen ist, hängt auch von der Art des Düngemittels ab. Düngemittel teilen sich auf in organische und chemische Dünger. Während chemischer Dünger industriell hergestellt wird, besteht organischer Dünger aus natürlichen Stoffen oder Wirtschaftsdüngern – Abfallprodukte, die in landwirtschaftlichen Betrieben anfallen, wie Jauche, Mist oder Gärreste aus Biogasanlagen. "Mit chemischen Düngemitteln kann man, wie man so schön sagt, der Pflanze ins Maul düngen", erklärt Frank Eulenstein. "Man macht mehrere Gaben und setzt dann sofort die Nährstoffe ein, wenn Niederschläge da sind und das Wasser als Transportmedium für die Nährstoffe genutzt werden kann. Organische Dünger muss man schon mit einem Vorlauf einsetzen, die sollte man vor der Vegetationsperiode einsetzen." So werden organische Dünger zuerst von Mikroorganismen in ihre einzelnen Stoffe aufgespalten, wozu Sonne, Energie und Wasser nötig sind, bevor sie für die Pflanze verfügbar sind.

Steigende Preise für Stickstoffdünger lassen auf sinkenden Nitratgehalt im Grundwasser hoffen

Landwirtinnen und Landwirte sind daran interessiert, dass die Düngemittel an der Pflanze wirksam werden, denn Düngen ist auch eine wirtschaftliche Frage. Eine Auswaschung von Nitrat ins Grundwasser liegt nicht in ihrem Interesse: "Die Landwirte schauen schon sehr genau, wie sie düngen, denn Düngemittel kosten auch etwas. Die Ackerflächen werden gedüngt, damit man entsprechende Erträge und Qualitäten erzielt. Diese Qualitäten werden nicht von der Landwirtschaft gesteuert, sondern vom Handel", sagt Bernhard Osterburg, Agrarökonom am Thünen-Institut mit Forschungsschwerpunkt landwirtschaftliche Düngung und Wasserschutz. Seit dem Russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich die Situation noch einmal verschärft: "In den letzten eineinhalb Jahren sind die Kosten für Energie enorm angestiegen und damit auch der Preis für den Stickstoff. Das merken wir, denn dadurch ist sowohl die Produktion als auch die Nachfrage ganz stark gesunken", erklärt Frank Eulenstein.

Noch ist nicht bekannt, ob sich das veränderte Kaufverhalten der Landwirtinnen und Landwirte auch auf die Nitratbelastung im Grundwasser auswirkt – der nächste Nitratbericht erscheint erst im kommenden Jahr. In den letzten zehn Jahren hat sich dieser Wert allerdings nur geringfügig verändert, wie die Nitratberichte aus den Jahren 2016 und 2020 belegen. So wurde im Zeitraum von 2012 bis 2014 an 28 Prozent aller Grundwassermessstellen im deutschen EU-Nitratmessnetz der Schwellenwert von fünfzig Milligramm pro Liter überschritten, im Zeitraum 2016 bis 2018 an 26,7 Prozent der Messstellen. Eine sehr geringe Verbesserung also.

Niederschlag und Bodenbeschaffenheit spielen eine tragende Rolle

Doch warum scheint es so schwierig zu sein, die Nitratwerte im Grundwasser auf den Schwellenwert von fünfzig Milligramm pro Liter zu drücken? Das habe auch viel mit der Beschaffenheit der Böden und der klimatischen Situation zu tun, erklärt Frank Eulenstein. So gebe es Gebiete wie in Bad Düben, die wenig Niederschlag abbekämen, etwa 600 Liter pro Quadratmeter und pro Jahr. "Und in etwa 500 Liter verdunsten in Mitteleuropa konstant. So gelangen von diesen 600 Litern Niederschlag vielleicht hundert Liter als Sickerwasser in die Böden."

Bildrechte: Umweltbundesamt (M), MDR WISSEN

Der Boden rund um Bad Düben besteht überwiegend aus Sand. Das bedeutet, dass das Wasser schnell versickert, da Sand eine geringe Wasserspeicherkapazität hat. Anders sieht die Situation aus, wenn der Boden überwiegend aus Löss besteht, wie in Eisleben: Dieser kann Wasser wesentlich besser speichern als Sand. In Gebieten mit sandigen Böden wäscht sich also der Stickstoff in Form von Nitrat über das Sickerwasser rasch ins Grundwasser aus, während er in Gebieten mit Löss- oder Schwarzerdeböden länger für die Pflanze verfügbar ist, da es den durchwurzelten Bereich noch nicht verlassen hat.

Mit dem Nitratmessnetz, so Frank Eulenstein, würde im Grunde nicht die Düngepraxis des einzelnen landwirtschaftlichen Betriebs gemessen, sondern die Gegebenheiten des entsprechenden Standorts untersucht und bewertet. So würden Landwirtinnen und Landwirte in Trockengebieten benachteiligt, da die Nitratkonzentration dort hoch sei, unabhängig von ihrem Nährstoffmanagement.

Wie sinnvoll die Bewirtschaftung von Flächen mit schlechter Bodenqualität und wenig Niederschlag ist, darüber lässt sich streiten. Was die Nitratbelastung im Grundwasser betrifft, ist ein "Weiter so" an diesen Standorten keine Lösung. Diesem Problem widmet sich auch der European Green Deal, der in Europa zu einem nachhaltigen Wandel führen soll.

Eine weitere Schwierigkeit bei der Messmethode mit dem Nitratmessnetz sieht Frank Eulenstein in der Auswahl der Standorte: "Es gibt Messstellen, die sitzen direkt unter Düngelagerstätten von Reiterhöfen. Also obendrüber ist der Pferdemisthaufen, unten drunter ist die Lagermessstelle. Und wenn man dann einige Flächen hat, wo erhöhte Nährstoffgehalte im Sickerwasser sind, die zum Beispiel daher rühren, dass man vor der Wende dort eine Düngerlagerstätte hatte und da das Nitrat versickert, dann sind das punktuelle Eintragungen. Aber entscheidend ist, wie der Landwirt heute flächenhaft wirtschaftet und nicht, was in der Vergangenheit mal punktuell war."

Deutschland scheitert wiederholt an der Nitratrichtlinie

Er wünscht sich ein anderes Instrument zum Messen des Düngemitteleinsatzes. So führen Landwirtinnen und Landwirte ihren Flächen Nährstoffe in Form von Düngemitteln zu und entnehmen einen Teil der Nährstoffe wieder, wenn sie die Felder ernten. Es entsteht eine Nährstoffbilanz. Diese sei weitaus besser dazu geeignet, die landwirtschaftlichen Betriebe hinsichtlich ihres ökologischen Fußabdrucks zu beurteilen.

Entscheidend ist, wie man heute wirtschaftet und nicht, was in der Vergangenheit durch eine Düngerlagerstätte mal war.

Frank Eulenstein | Agraringenieur

Das Nitratmessnetz ist die Basis aller gesetzlichen Regelungen, wie der Düngeverordnung oder der Farm to Fork Strategy im European Green Deal. In dieser geht es unter anderem darum, eine umweltfreundlichere Landwirtschaft zu etablieren. Bis zum Jahr 2030 sollen zwanzig Prozent Düngemittel reduziert werden. Schon vor dem European Green Deal überwachte die Europäische Kommission den Düngemitteleinsatz in den Mitgliedsländern. Da Deutschland die Nitratrichtlinie mutmaßlich unzureichend umgesetzt hat, reichte die Europäische Kommission im Jahr 2016 Klage gegen Deutschland beim Europäischen Gerichtshof ein. In der Folge änderte Deutschland die Düngeverordnung, konnte sich allerdings einer Verurteilung im Jahr 2018 und der Einleitung eines Zweitverfahrens im Jahr 2019 nicht entziehen. Letzteres wurde allerdings nach der zweiten Überarbeitung der Düngeverordnung im Jahr 2020 eingestellt. 

Nachbarländer arbeiten ebenfalls an der Nitratreduktion im Grundwasser

Nicht nur Deutschland kämpft für eine Nitratreduktion im Grundwasser. In Frankreich liegt der durchschnittliche Stickstoffüberschuss bei dreißig Kilogramm pro Hektar. Hier wird über eine Stickstoffsteuer nachgedacht. Vorteil an dieser wäre, dass Preissteigerungen zu einem Rückgang des Düngemitteleinsatzes führen und Landwirte diesen sparsamer einsetzen würden, so Sylvain Pellerin vom Nationalen Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt in Paris. Doch die französischen Agrargewerkschaften halten dagegen. Durch eine Stickstoffsteuer würden die französischen Landwirtinnen und Landwirte benachteiligt werden, da die Wettbewerbsfähigkeit in der EU beeinträchtigt wäre. Wünschenswert wäre eine europäische Steuer, um Wettbewerbsverzerrung zu vermeiden. Doch nach einer solchen sieht es nicht aus: Die Besteuerung fällt in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten, daher ist eine Stickstoffsteuer auf europäischer Ebene nur schwer vorstellbar.

In den Niederlanden hat der Beschluss, den Stickstoffdüngemitteleinsatz zu reduzieren, im vergangenen Jahr große Proteste unter den Landwirtinnen und Landwirten hervorgerufen. Bis zum Jahr 2030 sollen die Stickstoffemissionen im Durchschnitt um die Hälfte reduziert werden, in Naturgebieten sogar um siebzig Prozent. Diese Bedingungen würden Schätzungen zufolge das Aus für fast ein Drittel der Viehbetriebe bedeuten.

Wären die Kosten für die Stickstoffverschmutzung des Wassers in den Lebensmittelpreis mit eingerechnet, wäre die konventionelle Landwirtschaft nicht mehr rentabel.

Jacques Caplat | Agrarwissenschaftler

Neben den Niederlanden hat Dänemark den höchsten Stickstoffausstoß pro Fläche. Dabei macht die Landwirtschaft in Dänemark nur ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, so Stiig Markager, Professor an der Universität Aarhus. Von diesem verhältnismäßig kleinen Wirtschaftszweig dienen achtzig Prozent der Felder der Erzeugung von Futtermitteln für Tiere. Nur der kleine Rest gelangt als Lebensmittel auf den Markt. Bis zum Jahr 2027 muss Dänemark seinen Stickstoffausstoß um dreißig Prozent verringern, um die Leitlinien zu erfüllen. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse man Felder aus der Produktion nehmen und sie wieder in unbewirtschaftetes Land umwandeln, so Stiig Markager. Für ihn liegt das Problem auch in den EU-Agrarsubventionen: Diese führten dazu, dass selbst die ärmsten Böden bewirtschaftet würden, da man dann Anspruch auf EU-Förderung hätte.

Ökologische Landwirtschaft als Alternative

Einen Weg, Stickstoffdünger auf natürlichem Wege zu erhalten und gleichzeitig den externen Einsatz zu reduzieren, sieht Sylvain Pellerin im Anbau von Leguminosen: "Wir können Leguminosen anbauen, aber wir brauchen auch einen Absatzmarkt dafür. Daher müssen wir den Fleischkonsum durch diese pflanzlichen Proteine, wie Bohnen und Linsen ersetzen." Leguminosen finden ihre Anwendung oft im ökologischen Landbau in der Fruchtfolge. Mit ihnen wird der Stickstoff aus der Luft gebunden und dem Boden wieder zugeführt. Im ökologischen Landbau verzichtet man auf chemische Düngemittel, wie Nitrat-, Ammonium- und Harnstoffdünger und nutzt lediglich organischen Dünger. Eine Folge davon: Ökologisch arbeitenden Betriebe erzielen weniger Ertrag. Doch gleichzeitig können sie auch Stickstoff einsparen, was die Einkommensverluste ausgleicht, so Jacques Caplat, französischer Agrarwissenschaftler und Leiter des Nationalen Verbands für biologische Landwirtschaft in Frankreich: "Wenn wir die Kosten für die Stickstoffverschmutzung des Wassers in den Lebensmittelpreis einrechnen würden, wäre die konventionelle Landwirtschaft nicht mehr rentabel. Aber da dies nicht berücksichtigt wird, ist die ökologische Landwirtschaft am Ende teurer."

Das unterstreicht auch der französische Rechnungshof. In seinem im Vorjahr veröffentlichten Bericht zum ökologischen Landbau wird festgehalten, dass der ökologische Landbau enorme Vorteile böte, die bisher nicht ausreichend gefördert würden. Durch die Förderung des ökologischen Landbaus könnten mehr Einsparungen erzielt werden, als durch die bloße Kompensation der durch die konventionelle Landwirtschaft verursachten Probleme, einschließlich der Wasserverschmutzung.

Crossborder Journalism CampusDieser Beitrag entstand im Rahmen von "Crossborder Journalism Campus", einem Erasmus+-Projekt der Universität Leipzig, der Universität Göteborg und des Centre de Formation des Journalistes in Paris. Unter Mitarbeit von: Apolline Le Romanser, Emilie Andrieux, Tobias Alexander, Suzanna de Vries, Karlijn Frederique Stenvers.

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 11. Juni 2023 | 09:17 Uhr