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Der Berg-Haarstrang gehört in Deutschland zu den bedrohten Wildpflanzen. Sein Verbreitungsgebiet erstreckt sich von Portugal bis nach Russland, er fehlt aber in Südosteuropa. In Deutschland ist sein Vorkommen vornehmlich auf Ostdeutschland und Bayern beschränkt. Bildrechte: imago/blickwinkel

Projekt "Urbanität und Vielfalt"Wie gefährdete Wildpflanzen in der Stadt gerettet werden

13. Dezember 2022, 14:36 Uhr

Der Großer Wiesenknopf, das aufrechte Fingerkraut oder der Berg-Haarstrang - das sind alles Wildpflanzen, die mehr und mehr aus der Natur verschwinden. Damit dies nicht passiert, hat das Projekt "Urbanität und Vielfalt" Wildpflanzen im großen Stil vermehrt und mit Hilfe von Paten großgezogen.

Das Rezept klingt bestechend einfach: Einfach Samen auftreiben, Jungpflanzen hochziehen und an Paten zum Pflegen übergeben. Im Herbst die Samen der vermehrten Pflanzen wieder einsammeln, im Frühjahr noch mehr Wildpflanzen ziehen und an weitere Paten übergeben. Diese Idee hatten in Deutschland gleich mehrere Initiativen. Das Ergebnis: Das Projekt "Urbanität und Vielfalt", das in Dresden, Berlin, Potsdam und Marburg gefährdete Wildpflanzen vermehrt und sie somit vor dem Aussterben bewahren will.

"Unser Ziel des Projektes ist es, seltene oder bedrohte regionale Wildpflanzen im Bestand zu stärken", erklärt Annett Römer, Projektleiterin in Dresden. "Engagierte Bürger können bei Pflege und Aufzucht der Wildpflanzen mit eingebunden werden und sich somit aktiv an der Förderung von Biodiversität beteiligen." Seltene heimische Wildpflanzen könnten somit im eigenen Garten oder sogar auf dem eigenen Balkon hochgezogen oder auf den Anbauflächen des Projektes gepflegt werden.

Unser Ziel des Projektes ist es, seltene oder bedrohte regionale Wildpflanzen im Bestand zu stärken.

Annett Römer | Projektleiterin von "Urbanität und Vielfalt" in Dresden

Wildpflanzen als wichtiger Baustein im Ökosystem

Doch warum sind eigentlich solche regionalen Wildpflanzen wie der Große Wiesenknopf wichtig? Welche Funktion hat diese Wildpflanze in heimischen Wiesen und Gärten? "Wir kennen längst nicht alle Pflanzen- und Tierarten in unseren Ökosystemen und wissen deswegen auch nicht genau, wie lange sich die Ökosysteme mit welchen Arten halten können - oder wann sie kippen können", erklärt Römer.  "Oft hängen Tier- und Pflanzenarten eng miteinander zusammen."

Ein gutes Beispiel der der große Wiesenknopf, eine gefährdete Wildpflanze und winterharte Staude, die zu den Rosengewächsen gehört. "Der Große Wiesenknopf ist Futterpflanze der Jungraupen für den europaweit besonders geschützten Dunklen Wiesenknopf-Ameisenbläuling, den man nur noch sehr selten findet", erklärt Römer. Gleichzeitig lege der streng geschützte Falter seine Eier einzig und allein auf den Wiesenknopf. Doch damit nicht genug. Involviert seien auch die Wiesenknotenameisen. Diese nähmen die geschlüpften Raupen, die sich auf den Boden haben fallen lassen, mit in ihren Bau und füttern sie fett. Möglich werde das durch Pheromone – besondere Duftstoffe – die den Ameisen suggerieren, die Raupen seien ihre eigene Brut. "So ist das Überleben des Schmetterlings gesichert. Sollte es die Pflanze nicht mehr geben oder die Ameise, kann der Falter auch keinen Lebensraum mehr finden."

Die Idee entstand vor etwa zehn Jahren

Die Idee für das Artenschutzprojekt entstand bereits vor etwa zehn Jahren. "Weil nur noch etwa zehn Prozent der Insekten und Ackerkräuter in seiner ursprünglichen Vielfalt erhalten sind, überlegten wir, wie wir die Arten schützen können", erinnert sich Römer. Nach der Idee habe man einen Antrag geschrieben und festgestellt, dass ähnliche Ansätze aus ganz verschiedenen Ecken in Deutschland existierten. Zusammen sei dann "Urbanität und Vielfalt" an vier Standorten entstanden. Laut Römer habe besonders in der Angangszeit viel Pionierarbeit in dem Vorhaben gesteckt. "Erst einmal mussten wir ja überhaupt genau analysieren, welche Arten rückläufig sind", erläutert die Projektleiterin. "Dafür haben wir eng mit den Naturschutzbehörden zusammengearbeitet." Danach habe man das Saatgut in der Region gesammelt, viel Werbung an Schulen gemacht und MitstreiterInnen für die Region Dresden und den Landkreis Meißen gesucht.

Nur noch etwa zehn Prozent der Insekten und Ackerkräuter sind noch in ihrer ursprünglichen Vielfalt erhalten. Die Goldrute gehört glücklicherweise noch nicht zu den bedrohten Arten. Bildrechte: IMAGO / blickwinkel

Schaubeete vor dem Hygienemuseum

Wichtig sei laut Römer dabei gewesen, dass das Saatgut aus der Region kommt. "Samen aus der eigenen Region ist am besten an alle Bedingungen angepasst und damit am widerstandsfähigsten", erklärt Römer. Zusammen mit dem Umweltzentrum Dresden habe man in dessen Garten die Jungpflanzen hochgezogen. Diese konnten dann von Bürgern für den eigenen Garten oder Balkon abgeholt werden. Gleichzeitig habe man selbst mit Bürgern, Pflanzenpaten und auch Kindern und Jugendlichen junge Pflanzen auf die Elbwiesen in Dresden oder auf die Seifenbach Aue bei Moritzburg gesetzt. Vor dem Hygienemuseum habe das Projekt zudem 22 Schaubeete betrieben.

Es ist wie in einem Paradies bei Euch!

Um die Wildpflanzen zu vermehren, arbeiteten Römer und ihr Team auch intensiv mit Schulklassen und Kita-Gruppen zusammen. "Unsere Kursangebote in der Gärtnerei wurden rege genutzt. Von drei bis zwölf Jahren waren alle Kinder dabei", erläutert die Projektleiterin. Dies sei besonders erfreulich, weil es nicht überall Schulgärten gebe und Kinder somit Umweltbildung erfahren und überhaupt einen Bezug zur Natur erlernen könnten. Viele seien begeistert gewesen. "'Es ist ja wie in einem Paradies bei Euch', riefen viele, als sie den schönen Garten mitten in der Stadt sahen", erinnert sich Römer. Viele Kinder seien erstaunlich gut geschult gewesen, "trotzdem ist es unerlässlich, Umweltbildung weiter nach vorn zu bringen".

Römer bedauert jedoch, dass das Wissen über die Natur, welches ja so essentiell wichtig ist, neben dem Lehrplan nicht immer Platz finde. "Es gibt große Unterschiede", erklärt die Projektleiterin. "Manche Schulen sind ganz offen, manche Lehrer bekamen aber wegen des strikten Lehrplans keine freien Stunden für Umweltbildung an unserem Projekt." Beispielsweise sei einmal eine Schaubeet-Gestaltung wegen des strengen Zeitplans eines Gymnasiums gescheitert.

Ehrenamtliche arbeiten weiter

Das Projekt wird gefördert durch das Bundesamt für Naturschutz sowie das sächsische Umweltministerium, das Landesumweltamt Brandenburg und die Stadt Marburg. Neben dem Standort in Dresden läuft die Biodiversitätsinitiative auch am Späth-Arboretum der Humboldt-Universität zu Berlin sowie im Botanischen Garten der Universität Potsdam und der Philipps-Universität Marburg. Berlin stellt beispielsweise 900 Kleinbeete auf der IGA zur Verfügung, die von Wildpflanzen-Paten bepflanzt werden können. "Urbanität und Vielfalt" erhielt dort auch den "Berliner Naturschutzpreis 2022".

In Dresden allerdings läuft die Finanzierung des Projekts mit ursprünglich sieben Mitarbeitern zum Jahresende aus. Doch an das Aufhören denken Römer und ihre MitstreiterInnen trotzdem nicht. "Wir haben das Glück, dass sich aus unserem Pool der Pflanzenpaten eine Gruppe Ehrenamtlicher gebildet hat, die das Projekt im Kleinen weiterführen wollen. Der haben wir versucht, im vergangenen Jahr unser gesamtes Wissen zu vermitteln", erklärt die Projektleiterin.

Sie hat jedoch auch Kritik übrig. "Es kann nicht immer alles am Ehrenamt hängenbleiben. Wir müssen wissen, was uns die Natur wert ist." Schon allein eine Stelle sei hilfreich, um die aufgebauten Netzwerke weiter zu pflegen und das Ehrenamt zu koordinieren. "Wir sind natürlich als Umweltzentrum in Dresden auch dabei, andere Projekte ins Leben zu rufen. Doch es kann ja nicht das Ziel sein, dass man sich immer wieder neue Projekte ausdenken muss, wenn doch ein Projekt gut läuft", erklärte Römer. Natürlich gebe es bereits Anträge für neue Projekte, hier stehe eine Finanzierungszusage noch aus. "Wenn es um Artenschutz geht, sind wir leider nicht so freigiebig. Bei solchen Projekten gibt es oft keine Lösung für das Danach, das ist sehr schade", sagt Römer. "Wir sind umgeben von Krisen, Klimakrise, Pandemie, Krieg – dann wird genau überlegt, wo das Geld landet."

Es kann nicht immer alles am Ehrenamt hängenbleiben. Wir müssen wissen, was uns die Natur wert ist.

Annett Römer | Projektleiterin "Urbanität und Vielfalt" Dresden

Saatgutbibliothek Dresden unterstützt das Projekt

Glücklich ist Römer jedoch über die Kooperation mit der Saatgutbibliothek Dresden. "Wir haben eine ehrenamtliche Unterstützerin gewonnen, die in der Saatgutbibliothek Dresden die Samen der Wildpflanzen entgegennimmt", erklärte Römer. So könne das Projekt auch nach der Finanzierung im Kleinen weiterleben. In der Saatgutbibliothek kann im Herbst das Saatgut der Wildpflanzen abgegeben und im Frühjahr abgeholt werden. Am Projekt "Urbanität und Vielfalt" beteiligten sich allein in Dresden 600 Menschen.

Das komplette Gespräch mit Anett Römer und noch viel mehr zum Thema Artenschutz und Artenvielfalt hören sie in unserem Dienstags Direkt Podcast auf mdrsachsenradio.de und überall dort, wo es Podcast gibt.

 

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