Sonnabend, 31. Oktober 2020: Du kannst

Das Schwierigste ist die Landung. Schon bei den Pionieren der Luftfahrt war das so. Und auch heute mit den modernen Maschinen sind Start und Landung immer noch ein Grund, sich auf dem Sitz anzuschnallen und die Sitze hochzustellen, sogar für das Kabinenpersonal. Unfälle in der Luftfahrt sind sehr selten. Wenn sie passieren, dann beim Abheben oder noch etwas häufiger wenn die scheinbare Schwerelosigkeit im Gleitflug wieder verlassen und die Erdanziehungskraft am Boden neu spürbar wird. Otto Lilienthal hat das bitter zu spüren bekommen als er seine ersten Flugversuche nördlich von Berlin durchgeführt hat. Das Lied von Reinhard Mey erzählt davon, wie er nachts heimlich auf die Hügel der Umgebung steigt mit seinen Schwingen, die den Flügeln der Vögel nachempfunden sind. Das Abheben und Gleiten für einige Meter gelingt schon ein paar Mal. Aber dann nimmt er sich zu viel vor und stürzt wie Ikarus aus den Lüften hart zurück auf die Erde. Knochenbrüche und Verletzungen, denen er letztlich auf der Bahnfahrt zurück in seine Heimat erliegt.

Musik: Lilienthals Traum 4:00 – 5:15

Das Schwierigste ist die Landung. So kann man wohl auch im Blick auf die Einweihung des neuen Flughafens Berlin-Brandenburg sagen. Ob man gleich von einer Bruchlandung im Süden Berlins reden muss, die die Konstrukteure, politisch Verantwortlichen und Betreiber des Flughafens hingelegt haben, mögen andere entscheiden. Für mich sieht es so aus, als hätte das hochfliegende Projekt selbst mehrere Landeanflüge abgebrochen und sei immer wieder durchgestartet für eine neue Schleife am Himmel und einen neuen Versuch, das Projekt nun zu Ende zu bringen. Heute aber soll die Landung kommen und der Luftfahrtbahnhof in Betrieb genommen werden.

Wer hätte gedacht, dass die Pandemie die Starts und Landungen so sehr reduzieren wird, als das Projekt aus der Taufe gehoben wurde. Wer hätte gedacht, dass die Luftfahrt in eine derartige Krise kommen würde und noch völlig offen ist, ob und wie wir künftig reisen werden. Wird Fliegen nur noch für Reiche und Superreiche erschwinglich sein? Werden Antriebe und Flugobjekte erfunden, die der Umwelt weniger schädlich sind? Wird es so möglich sein, auch künftig in Flugzeuge einzusteigen wie in Bus und Bahn? Noch sind wir weit davon entfernt. Neues muss gedacht werden. Aber eins ist sicher: Die Faszination des Fliegens wird bleiben. Immer schon träumte der Mensch davon, an der Seite der Vögel durch die Luft zu ziehen und die Welt von oben zu betrachten.

Musik: Lilienthals Traum 4:50 – 5:15

Fliegen eine Utopie. Reinhard Mey beschreibt sie und hofft, dass die Entrückung in den Luftraum himmlische Ahnungen mit sich bringt. Jedenfalls dachten das die ersten Konstrukteure der Flugmaschinen. Wenn wir einmal unterwegs sein könnten wie die Zugvögel, werden alle Grenzen und Kriege überwunden sein. Welch ein Irrtum! Kampfflugzeuge, Drohnen, Raketen. Globalisierung. Monopolisierung. Ausbeutung. Umweltzerstörung.

Und doch bleibt der Traum abzuheben. Ja du kannst. Utopien bleiben. Hoffnungen auf Besseres, auf die Überwindung von Grenzen, die scheinbar unüberwindbar sind. Und nur allzu griesgrämige Pessimisten oder Besserwisser werden diese Grundenergie menschlichen Wesens madig machen. Sie tun sich und der Gesellschaft keinen Gefallen. Realismus ohne Träume ist langweilig. Und Träume ohne Erdung wären nicht mehr als Schall und Rauch. Träumende Realisten und realistische Träumer – sie bewegen die Welt.

Musik: Lilienthals Traum 5:20 – 6:20

Heute ist Reformationstag. Martin Luther hat geträumt. Er hatte eine Vision von einer Kirche und einer Gesellschaft, die anders sein müsste, als das, was er erlebt. Und dabei ging er in Gedanken zurück zur Urchristenheit und zu den ersten Quellen der Botschaft Jesu. Alle sollten dieses frische Wasser der biblischen Botschaft schöpfen können. Deshalb hat er die Bibel übersetzt. Sie soll verständlich hörbar werden im Gottesdienst und von denen, die lesen können, selbst verstanden werden. Diese frische Quelle der ersten Botschafter Jesu wird die Kirche erneuern. Das war seine Hoffnung. Viel zu sehr seien die Wasser getrübt von verfälschten Auslegungen und Vorgaben der damaligen Kurie. Die Menschen seien verängstigt durch Höllendrohungen und Bußforderungen. Die Liebe Gottes und seine teure Vergebung am Kreuz machen die Menschen frei zu leben und neu zu beginnen, wenn die Lasten von Schuld und Angst drücken. Das war seine Hoffnung. Er tat das in einer Zeit der Krise und ahnte wohl, dass ganz neue mediale Möglichkeiten die Welt verändern würden. Der Buchdruck war erfunden. Viele Menschen werden mit ein und demselben Inhalt erreicht, auch über große Entfernungen hinweg. Keine Ahnung, wie das die Welt verändern würde, aber es wird zu einer Emanzipation des Einzelnen von den Vorgaben der Kirche und des Herrschers führen. Selbst denken und entscheiden und verantwortlich als Christenmensch leben – das wird wichtiger werden. Man konnte Morgenluft wittern; doch zugleich wurde die Luft dünn für ihn, den Reformator, der keine neue Kirche gründen wollte, sondern seine Kirche liebte und Veränderung suchte. Doch er geriet 1520 immer stärker an den Rand dessen, was seine Kirche noch duldete. Man drohte mit Exkommunikation. Auch ein gewaltsamer Tod war nicht auszuschließen.

Im Bibelwort für den heutigen Tag heißt es: "Ich will des Morgens rühmen deine Güte, denn du bist mir Schutz und Zuflucht in meiner Not."

Manchmal hat Luther selbst an sich gezweifelt, ob es richtig ist, diesen Konfrontationskurs zu fahren. Dann aber war das starke Gefühl in Herzen und Gewissen, das ihm sagte: Du musst das tun. Du musst das sagen, damit Neues werden kann. Du kannst. Und so verfasste er im Jahr 1520, genau vor 500 Jahren, die wichtigsten Schriften, die bis heute ihre Aktualität unter Beweis stellen.

Wie ist das mit der Freiheit? Wie verhalten sich Leistung und Barmherzigkeit zueinander, und wie ist die Kluft zwischen der Kirche als Institution und den gläubigen Menschen zu überwinden? Furchtlos hat er seine Gedanken dazu in die Öffentlichkeit gebracht, weil er sich getragen fühlte von Gottes Barmherzigkeit. Sie allein war ihm Schutz und Zuflucht aus Glauben.

Heute stehen die Kirchen vor neuen Herausforderungen. Wie bleibt der weltweite Zusammenhang der Gläubigen erhalten, auch wenn es verschiedene christliche Konfessionen gibt? Wie bleiben wir im Gespräch und erzählen vom Wert der Worte Jesu ohne Menschen anderen Glaubens oder Weltanschauungen zu vereinnahmen oder zu bekriegen? Wie finden wir Formen der Verkündigung und des Trostes in einer digitalisierten und medial sich ändernden Welt? Es ist wie bei der Luftfahrt. Die klassischen Flotten werden sich ändern müssen – die Begeisterung fürs Fliegen wird erhalten bleiben. So auch in der Kirche. Die Begeisterung für Jesus Christus und seine Ideen, die tiefe Weisheit der biblischen Schriften – das wird erhalten bleiben, aber die Form der Kirche wird sich erheblich verändern. Gemeinschaft der Gläubigen – sie wird sich neu finden. Und Menschen, die neue Wege dazu suchen, werden gebraucht. Realisten, die Träume haben und abheben. Und Träumer, die fliegen, aber genug Bodenhaftung behalten, um nicht weltfremd zu werden. Auf jedem Flughafen gibt es auch eine Flughafenseelsorge. Nicht weil beim Fliegen so viel passiert, eher weil Abheben Angst machen kann und manche Landung im Leben hart ausfällt. Am Flughafen geht es weniger um katholisch oder evangelisch, sogar für verschiedene Religionen steht ein Gebetsraum zur Verfügung. Es geht um den Menschen unter dem Himmel im weitesten Sinn des Wortes. Ihm gilt der Zuspruch Gottes. Du kannst. Du wirst diese Welt beleben und gestalten. Hab keine Angst. Du darfst sein.

Musik: Lilienthals Traum 6:20 -

Das Wort zum Tag spricht in dieser Woche:

Kurzbiographie Samuel-Kim Schwope

Samuel-Kim Schwope

am 17.02.1988 geboren | verheiratet, ein Kind | aufgewachsen in Dresden | 2009-2014 Studium der Theologie in Erfurt und Freiburg i.Br., | 2014-2018 Gemeindeassistent und -referent in der Verantwortungsgemeinschaft Leipzig-Nord | seit 2016 Freistellung zum Aufbaustudium in Erfurt | seit 2018 Persönlicher Referent des Bischofs von Dresden-Meißen

Verantwortlich für Verkündigungssendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie das Wort zum Tag...

... sind die Senderbeauftragten der evangelischen Landeskirchen, der evangelischen Freikirchen bzw. der römisch-katholischen Kirche.