Dienstag, 27.10.2020: Wir sind Papst
Das Kind protestiert völlig zu Recht. Seit dem Reformationsjubiläum vor drei Jahren steht der Luther bei mir noch immer unausgepackt im Regal. Die Spielzeugfigur hat Karriere gemacht im Jahr 2017. Bis heute warten die Einzelteile darauf, zusammengebaut zur werden.
Zwar begann die Reformation mit dem Thesenanschlag an der Schlosskirche zu Wittenberg 1517. So richtig zum Reformator wurde Martin Luther erst 1520, also genau vor 500 Jahren. Da verfasste er seine markantesten Schriften zur Erneuerung der Kirche. In einer davon spricht er Papst und Kirche ab, allein die Bibel auszulegen und zu bestimmen, was zu glauben sei. In einem Spitzensatz formuliert er, jeder Christ sei Bischof und Papst; "denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass er schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei"; obwohl – so schränkt er dann doch ein, "es nicht einem jeglichen ziemt, solch Amt auszuüben".
Braucht es den Papst nicht oder leitende Vertreter des Glaubens? Ist es gerade in unserer medialen Welt nicht auch gut, wenn es ein markantes Gesicht gibt, das für das Christentum steht und den Mächtigen dieser Welt ins Gewissen redet; er die Ohnmächtigen besucht und ermutigt?
Andere halten es für eine Anmaßung, wenn fehlbare Menschen und Kirche beanspruchen, das Wesen Jesu Christi in unserer Zeit zu vertreten. Und Missstände gibt es in den Kirchen selbst ja leider auch genug.
Glauben ja, Institution nein. Glaube ist Privatsache. Das ist die Meinung vieler. Wenn aber jeder Papst ist, und prinzipiell alle Gläubigen Wesen und Grundideen Jesu im persönlichen Glauben repräsentieren können, werden wir dann als Einzelne diesem Anspruch gerecht? Ist es nicht auch bequem, nach integren Stellvertretern eines Glaubens zu rufen, zu dem ich mich öffentlich aber gar nicht bekennen muss, obwohl ich grundsätzlich seine Werte und Inhalte teile?
Möglicherweise funktioniert diese Welt auch ohne Kirche und Religion. Eine Verständigung darüber, welche Weltanschauung, Botschaften und Werte uns aber heilig sind - und zwar unabhängig von unserem eigenen Vorteil - diese Aufgabe wird uns niemand abnehmen.
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