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Das Altpapier am 6. Mai 2021Fundament für Deplatforming gesucht

06. Mai 2021, 12:50 Uhr

Twitter und Facebook haben Trump rausgeschmissen. Über das Für und Wider wurde viel diskutiert und noch immer fehlt eine demokratisch legitimierte Grundlage für solche Fälle. Das zeigt auch die gestrige Entscheidung von Facebooks Oversight Board. Ebenfalls problematisch: In vielen deutschen Redaktionen herrscht laut einer medium-Recherche ein Klima, in dem Diskriminierung, Sexismus und Rassismus weiterhin gedeihen können. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Hintertür zum "Social"-Media-Sandkasten

Er darf weiterhin nicht, baut sich jetzt aber eine kleine Hintertür: Das Facebook Oversight Board hat gestern zum Fall des nach dem "Sturm auf das Capitol" im Januar von Facebook ausgesperrten Donald Trump entschieden, dass der Ex-US-Präsident erst mal nicht wieder in seinem "Social"-Media-Sandkasten zündeln, sondern nur noch von außen zuschauen darf – vorerst. Über die mit Spannung erwartetet Entscheidung berichten unter anderem Spiegel, Zeit, Deutschlandfunk und Tagesspiegel.

Das Gremium kritisierte allerdings, dass Facebook es sich bei seiner Entscheidung zu einfach gemacht habe. Eine Sperrung bis auf Weiteres, also ohne genauen Zeitrahmen, sei kein angemessener Schritt, erklärten die Menschenrechtler, Juristinnen und Medienmenschen, die in dem Gremium sitzen. In den kommenden sechs Monaten erwarte man eine differenziertere Entscheidung. In der Erklärung des Gremiums heißt es dazu:

"it was not appropriate for Facebook to impose the indeterminate and standardless penalty of indefinite suspension. Facebook’s normal penalties include removing the violating content, imposing a time-bound period of suspension, or permanently disabling the page and account. The Board insists that Facebook review this matter to determine and justify a proportionate response that is consistent with the rules that are applied to other users of its platform. Facebook must complete its review of this matter within six months of the date of this decision."

Noch bevor die Entscheidung des Facebook Oversight Boards zum weiteren Umgang mit dem gestern getroffen war, war der Ex-US-Präsident aber mit einem twitteresk anmutenden Auftritt wieder präsent. Trumps Account bei dem Kurznachrichtendienst ist zwar dauerhaft gesperrt (eine Diskussion zu seinem Deplatforming gibt es in diesem Altpapier und in diesem). Mit einem Blog, der in etwa so aussieht, als habe ein Grundschulkind versucht, Twitter nachzubauen, meldete der Republikaner sich aber nun zurück (siehe Spiegel). Zur Frage, ob Twitter und Facebook  gegen diese Hintertür vorgehen werden, vermutet Jörg Schieb auf dem WDR-Blog Digitalistan:

"Rechtlich könnte es schwierig werden – und es wäre wohl auch falsch -, wenn das bislang unbescholtene Blog vom Zitieren ausgeschlossen würde. Aber mit wenigen Zeilen die Welt auf den Kopf stellen und die Schlagzeilen beherrschen, das klappt nun garantiert nicht mehr."

Twitter hat laut dem Tech-Portal The Verge nichts gegen das Teilen von Trumps Beiträgen in seinem Netzwerk – solange die Inhalte den Twitter-Richtlinien entsprechen.

Demokratische Leerstellen

Der Fall Trump zeigt aber auch nochmal die demokratischen Leerstellen in der Architektur der sogenannten Social-Media-Plattormen. Für den Tagesspiegel haben Juliane Schäuble und Friederike Moraht darüber mit verschiedenen Expert:innen gesprochen, unter anderem mit Jeannette Hofmann, Gründungsdirektorin des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft (HIIG).

Der Fall Trump habe besonders eindrucksvoll vor Augen geführt, welche "editorische Macht" von Facebook ausgeht, mahnt die Politikwissenschaftlerin. Denn während seine Posts in den Online-Netzwerken früher Millionen von Menschen erreichten, würden seine Erklärungen, die per E-Mail an Medien verschickt werden, heute kaum noch Beachtung. Und auch die generellen Social-Media-Interaktionen über den ehemaligen US-Präsidenten sind drastisch zurückgegangen, laut dem US-Nachrichtenportal Axios seit Januar 2021 um 91 Prozent.

Egal, wie man diese Entwicklung persönlich findet, bei diesem enormen Einfluss auf die Weltöffentlichtkeit darf ein Punkt nicht vergessen werden: Zwar beraten in dem Oversight Board 20 kluge Experten und Juristinnen, dennoch besitzt es keine demokratische Legitimation. Die immer wieder gern genutzte Bezeichnung des Gremiums als "Supreme Court" Facebooks ist irreführend, denn all diese Menschen wurden von dem Konzern aus Menlo Park eingesetzt. Auch wenn Facebook die Unabhängigkeit immer wieder betont, ist das Board damit im Prinzip eine Art betriebliche Aufsicht für Facebooks Moderations-Entscheidungen, kein von demokratisch gewählten Vertreter:innen berufenes Gremium.

Deshalb könnten seine Entscheidungen auch kein Ersatz für demokratische Regeln sein, kommentiert Tomas Rudl, netzpolitik.org. Die Schuld daran liege aber nicht allein bei Facebook. Auch Politik und Justiz hätten noch keine endgültige Antwort auf die Frage gefunden, wie sich das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung mit sogenannten Gemeinschaftsstandards privater Online-Dienste vereinbaren lässt.

"Was Facebook oder ein anderer marktbeherrschender Anbieter etwa als gefährliche Hassrede einstuft und deshalb auf eigene Faust löscht, muss nicht notwendigerweise unumstritten sein",

wirft er ein und auf Zeit Online skizziert Lisa Hegemann einige Komponenten, die sie für eine solche Entscheidung für grundlegend hält:

"Wann die Meinungsfreiheit eines Menschen eingeschränkt werden sollte, um andere zu schützen, das sollte aber eine Gesellschaft für sich selbst klären. Oder aber die Gerichte jedes Landes. Das kann ganz unterschiedlich aussehen: über Schnellgerichte, Mediatoren, über eine Art Rundfunkrat für soziale Medien oder alles zusammen. Klar ist nur eins: Eine befriedigendere Entscheidung zu strittigen Themen kann nur dann getroffen werden, wenn daran viele gesellschaftliche Akteure – von der Wirtschaft bis zur Zivilgesellschaft, von der Politik bis zur Wissenschaft – beteiligt sind. Nicht nur ein Gremium, auf das niemand Einfluss hatte außer Facebook selbst."

Wie genau zu einer solchen Frage über grundlegende demokratische Spielregeln ein gesellschaftlicher Konsens hergestellt werden kann, dafür gibt es bisher kein Procedere. Denkbar wären vielleicht Gremien, ähnlich den Rundfunkräten, die für die Aufsicht der Löschprozesse und Moderationsstreitfragen auf den Plattformen zuständig sind. Wie solche Gremien besetzt werden könnten, wer darüber letztendlich entscheiden und wie dabei länderübergreifend zusammengearbeitet werden kann, darüber lässt sich mindestens drei weitere Lockdowns lang diskutieren.

Dass in Deutschland zur Frage des Löschens und Sperrens verschiedenste, sich widersprechende Gerichtsentscheidungen gefällt wurden auch auch verfassungsrechtliche Grundsätze ungeklärt sind, daran erinnert Rudl. Auch in der Novelle des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (heute im Bundestag) würden solche Fragen nicht geklärt, sondern weiterhin der Rechtsprechung überlassen. Die Politik ziehe sich aus der Affäre, kritisiert er:

"Ausdrücklich will sie sich in der Gesetzesbegründung nicht darauf festlegen, ‚inwieweit vertragliche Vereinbarungen, durch die die Verbreitung bestimmter Inhalte beschränkt werden soll, überhaupt zulässig sind und wie die Interessen insbesondere der Anbieter, der Inhalteverfasser und der sonstigen Nutzerinnen und Nutzer hierbei in welcher Weise zu gewichten sind.‘ Dieses Problem löst im Übrigen auch der Digital Services Act der EU-Kommission nicht, auf dem derzeit viele Augen liegen."

Any Veränderung seit #metoo?

Auch dreieinhalb Jahre nach der #metoo-Bewegung herrschen in vielen deutschen Redaktionen noch toxische Führungskultur und Diskriminierung, ergibt eine Recherche der Journalistinnen Eva Hoffmann und Pascale Müller für das aktuelle Medium Magazin (€).

Kurz zur Einordnung: Als toxisch definieren Hoffmann und Müller ein Betriebsklima, in dem nicht gegen Diskriminierung vorgegangen oder sie sogar gefördert wird. Hoffmann und Müller schreiben etwa von Mobbing, dem Ausnutzen von Machtverhältnissen, dadurch entstehende finanzielle Nachteile für Betroffene, aber auch Rassismus, Sexismus und sexuelle Übergriffe:

"Das Thema ist mit den Compliance-Vorwürfen gegenüber "Bild"-Chef Julian Reichelt zwar zuletzt in den öffentlichen Diskurs gerückt, in der Debatte jedoch auf den Springer Verlag reduziert worden. Die Recherche zeigt, dass kaum eine Redaktion von diesen Problemen frei ist. Und das der Branche dadurch viele qualifizierte Mitarbeitende verloren gehen."

Knapp 200 Journalist:innen – Menschen mit jahrzehntelanger Berufserfahrung, aber auch Journalistenschüler und Volontärinnen – haben sich auf eine Umfrage für die Recherche gemeldet. Darunter sind etwa Berichte über Vorgesetzte, die jüngeren Kolleginnen an den Hintern grapschen oder kompromittierende Angebote machen, über Redakteure, die rassistische Beleidigungen verteilen und über den eigenen Ausstieg aus dem Job wegen Sexismus und Übergriffen.

Zwar gebe es mittlerweile fast in allen großen Medienhäusern Beschwerdestellen, schreiben Hoffmann und Müller. Das habe sich im Zuge der Berichterstattung über Belästigung und Übergriffe in deutschen Redaktionen geändert. Laut einer Recherche von Müller für Buzzfeed sah das 2018 nämlich noch anders aus. Aber das allein sei noch keine Lösung:

"Diese Stellen müssen im Betrieb aber nicht nur vorhanden, sondern auch bekannt sein. Der Spiegel führte im Zuge der Metoo-Debatte vor zweieinhalb Jahren eine Befragung der Mitarbeiterinnen durch. Eines der Ergebnisse: 44 Prozent der Teilnehmenden kannten keine der existierenden Schutzmaßnahmen. 'Nur sehr wenige Betroffene haben sich je an eine Vertrauensperson im Unternehmen gewandt', schreibt eine Sprecherin der Spiegel-Gruppe. Auch eine Sprecherin der Zeit-Verlagsgruppe teilt auf Anfrage mit, dass vor zwei Jahren eine Ombudsperson eingerichtet wurde. Allerdings: 'Bislang ist uns kein Fall einer Beschwerde bekannt.'"

Das Problem ist auch 2021 noch ein grundlegendes in der Branche und nicht auf Deutschland beschränkt. Erst kürzlich berichtete der ORF über ähnliche Strukturen in Österreich und in der Schweiz veröffentlichten fast 80 Redakteurinnen des Medienhauses Tamedia einen offenen Brief (siehe Standard), in dem sie eine "auf Sexismus und Einschüchterungen" aufbauende Firmenkultur kritisierten. Die Reporter ohne Grenzen veröffentlichten zum Weltfrauentag im März einen detaillierten Bericht, wie sexistische Strukturen in Gesellschaft und Redaktionen die Arbeit von Journalistinnen in verschiedenen Ländern gefährden und erschweren. 

Die Autorin der Medium-Recherche Eva Hoffmann sieht allerdings Hoffnung und Ansatzpunkte für Veränderung. Bei Twitter schreibt sie:

"Um das Problem auf struktureller Ebene anzugehen, brauchen wir einen Generationen- und Mentalitätswechsel. Die 'Pavianmentalität' ist nicht zeitgemäß. Die Recherche zeigt nämlich auch: vielmehr Frauen, die lange geschwiegen haben, sind nicht mehr bereit, Sexismus hinzunehmen."


Altpapierkorb (Degeto über Volker Bruch, neue Spiegel-Chefredakter:innen, Vaunet-Appell zu Medienvielfalt, Scholz bei ProSieben)

+++ Nachdem bekannt wurde, dass der Schauspieler Volker Bruch einen Aufnahmeantrag bei der Querdenker-Partei "Die Basis" gestellt hat, hat unter anderem der Tagesspiegel bei der Degeto nach Konsequenzen für den Schauspieler gefragt, der ja grade für die ARD-Sky-Serie "Babylon Berlin" vor der Kamera steht. "Wir kommentieren politische Aktivitäten und Haltungen nicht, solange sie nicht gegen geltende Gesetzgebung verstoßen. Die Dreharbeiten der 4. Staffel von 'Babylon Berlin' laufen seit Beginn wie geplant und sind hiervon nicht betroffen", wird eine Sprecherin zitiert. Einen ziemlich umfangreichen Überblick zur Debatte um die Aktion #allesdichtmachen und Recherchen zu ihrer Entstehung gibt es hier im Altpapier-Archiv.

+++ Nach dem Abgang von Barbara Hans aus der Spiegel-Chefredaktion sind mit Melanie Amann und  Thorsten Dörting nun zwei Nachfolger für den Job gefunden. Bei der Süddeutschen (€, hier bei Blendle) analysiert Elisa Britzelmeier die Neuerung als Reaktion auf diverse Grabenkämpfe beim Spiegel: "Nun also bekommt die Chefredaktion zwei neue Mitglieder für eines. Was nach Socken im Sonderangebot klingt, lässt sich erklären, wenn man weiß, dass zu den Ursachen der Differenzen mit Hans mindestens zwei Deutungen kolportiert werden. Die eine: ein Kulturkonflikt in der beim Spiegel ohnehin nicht ohne öffentliches Drama verlaufenen Zusammenlegung der Print- und der Online-Redaktion. Die andere: ein 'Frauen-Männer-Ding‘. Klar war nach Hans' Weggang also, dass jemand mit Digitalexpertise hermuss, und dass zudem eine rein männliche Chefredaktion das Nachrichtenmagazin hätte schlecht aussehen lassen."

+++ Über den Appell des Privatsender-Verbands Vaunet, der 2021 als Entscheidungsjahr für für Zukunft und Medienvielfalt privater Anbieterausgerufen hat und wegen der Corona-Krise auf wirtschaftliche Hilfen dringt, berichten Uwe Mantel bei dwdl.de und der Standard (via APA/Reuters).

+++ Nach Annalena Baerbock soll nun auch SPD-Mann Olaf Scholz im großen ProSieben-Interview beklatscht, äh, befragt werden. Den Job übernehmen diesmal die frisch von der "Tagesschau" gewechselte Linda Zervakis und Louis Klamroth. Mehr dazu bei der Süddeutschen und dem Tagesspiegel

+++ Für den Standard analysiert Harald Fidler die Medienstrategie der Berlusconis (Mediaset) und stellt Prognosen für weitere Entwicklungen auf dem Weg zum erklärten Ziel eines gesamteuropäischen Medienkonzerns auf.

+++ Das regierungskritische russische Nachrichtenportal Meduza mit Sitz in Lettland wird vom russischen Justizministerium als "ausländischer Agent" eingestuft, berichtet Inna Hartwich für die taz. Unter den unabhängigen Journalisten Russlands sorge das für Verunsicherung.

Neues Altpapier kommt am Freitag.

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