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Das Altpapier am 20. Mai 2021Freuden der kritischen Ignoranz

20. Mai 2021, 12:35 Uhr

Wird der Fokus in den Online-Kommentarspalten zu sehr auf all die Motzkakophonien gelegt? Sollten Nutzer und Moderatorinnen sich häufiger im (kritischen) Ignorieren üben? Das widerspricht vielen journalistischen Grundsätzen, könnte aber unter bestimmten Umständen Potenziale für die Debattenkultur im Netz bieten. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Brauchen wir mehr Ignoranz?

Wir müssen im Journalismus vielleicht etwas mehr über Ignoranz nachdenken. Keine generelle Ignoranz gegenüber allem, was einem nicht in den Kram passt – eher eine wohlüberlegte und wohldosierte Art des Übersehens.

Die Fähigkeit des kritischen Ignorierens sei beim Zurechtfinden im Netz ebenso wichtig, wie kritisches Denken, schreibt aktuell Sam Wineburg, Bildungswissenschaftler von der US-Universität Stanford, beim Nieman Lab in einem Text über das Prüfen und Einordnen von Online-Informationen.

"Learning to ignore information is not something taught in school. School teaches the opposite: to read a text thoroughly and closely before rendering judgment, with the implication that anything short of that is rash. But on the web, where a witches’ brew of advertisers, lobbyists, conspiracy theorists, and foreign governments conspire to hijack attention, the same strategy spells doom. Online, critical ignoring is just as important as critical thinking."

Ähnlich sieht das auch die Redaktion von maiLab, dem Funk-Format der frisch mit dem Grimme-Preis (Link ins Altpapier-Archiv) ausgezeichneten Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim, wenn es um bestimmte Online-Kommentare geht. In einem Video aus der vergangenen Woche berichtet sie von verschiedenen Überlegungen der Redaktion, wie künftig mit in die Kommentarspalten gekotzten Beiträgen im tristen Spektrum zwischen Beleidigung, Falschinformationen und Hetze umgegangen werden sollte.

Einerseits geht sie auf die bekannte und bewährte Trias des Community Managements für Härtefälle ein: melden, löschen, blocken – und gegebenenfalls anzeigen. Da hält die Redaktion für Kommentare mit Gewalt- und Morddrohungen, menschenverachtendes Zeug, Rassismus, sexuelle Belästigung uns verfassungswidrige Aussagen für angemessen. Moderieren und die Diskussion versachlichen lautet der zweite Ansatz. Das soll etwa für Falschinformationen gelten, die mit Fakten richtiggestellt werden oder für "böse Kommentare", die aber nicht die oben beschriebenen Grenzen überschreiten. Wichtig sei aber auch die "Geheimwaffe" des Ignorierens:

"Man sollte manche Provokationen im Netz einfach ignorieren, weil sowieso keine konstruktive Diskussion möglich ist",

sagt Nguyen-Kim und erinnert daran, dass Aufmerksamkeit auf werbegetriebenen Plattformen wie Youtube Gold bzw. Geld wert ist und dem Algoritmus Inhalten, mit denen Nutzer:innen interagieren, Sichtbarkeit verschafft – auch den beleidigenden, unsachlichen und hetzenden Kommentaren.

Fokus auf Motzkakophonien

Mit dieser Annahme arbeitet zum Beispiel auch Wissenschaftler:innen von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und gehen noch einen Schritt weiter. Denn es gibt ja nicht nur diese exkrementartigen verbalen Ausscheidungen in den Kommentarspalten. Neben all den Motz- und Hasskommentaren enthält ein Großteil der Kommentare eben auch viele wertvolle Beiträge wie sachliche Argumente, persönliche Erfahrungen, Wissen und konstruktive Lösungsansätze.

Die Wissenschaftler:innen der HHU haben im Auftrag der Landesanstalt für Medien in NRW eine Strategie erstellt, wie man diese konstruktiven Beiträge (die ja oft in der Mehrheit sind) mehr hervorheben kann, damit sie nicht neben den Hass- und Motzkakophonien untergehen. Empowerment-Moderation nenn der HHU-Juniorprofessor für politische Online-Kommunikation, Marc Ziegele, das Konzept. Dabei geht‘s nicht um irgendein esoterisches Heile-Welt-Frieden-und-Liebe-Geschwurbel, sondern um ein Konzept, das für ein Forschungsprojekt von LfM und HHU von den Redaktionen von "Hart aber fair", "RTL Aktuell", "WDR Lokalzeit Ruhr" und "ZDFheute" getestet wurde. 

Statt nur regulierend zu moderieren, also den Fokus auf problematische Kommentare zu legen und ihnen so mehr Engagement und Sichtbarkeit zu verleihen, schlagen die Kommunikationswissenschaftler:innen vor, die Nutzerinnen und Nutzer aktiv zu bestärken, sachliche und konstruktive Kommentare zu schreiben. Genauere Details zu dieser Moderationsstrategie gibt‘s in dem Whitepaper zum Forschungsprojekt, das die LfM am Dienstag vorgestellt hat.

Befragungen von Nutzerinnen und Nutzern haben laut Whitepaper gezeigt, dass das Diskussionsklima in den Kommentarspalten nach dem sechswöchigen Testzeitraum bei Facebook tatsächlich etwas anders wahrgenommen wurde: ein wenig rationaler, konstruktiver, respektvoller. Das Autorenteam aus Ziegele und Dominique Heinbach wirft aber auch ein:

"Empowerment-Moderation kann (...) keine Wunder vollbringen und die Diskurskultur sowie die Wahrnehmung der Nutzenden auch nicht von einem auf den anderen Tag drehen."

Vor allem auf langfristige Sicht könne diese Art der Moderation vielversprechend sein, vermuten die Autor:innen.

Problem: Begrenze Kapazitäten

Aber was braucht man dafür? Jap, Zeit, Training und Personal. Und diese Punkte sind bei vielen Formaten bzw. bei vielen Verantwortlichen, die für deren Ressourcen zuständig sind, noch problematisch.

Schauen wir dafür nochmal auf maiLab. Nguyen-Kim betont in dem oben besprochenen Video zum Beispiel, dass die Community Manager:innen des Kanals sich mit den wissenschaftlichen Themen der der einzelnen Videos gut genug auskennen müssen, um die Kommentarspalten sinnvoll moderieren zu können. Deshalb müsse das jemand aus der wissenschaftlichen Redaktion übernehmen.

"Aber natürlich stecken wir unsere wissenschaftliche Expertise und unsere begrenzten, endlichen Kapazitäten in erster Linie in die Videos und nur sekundär ins Community Management",

erklärt Nguyen-Kim in dem Video. Und:

"Hier waren wir bisher etwas nachlässig, weil es zeitweise unsere Kapazitäten überstiegen hatte."

Es muss also scheinbar noch in vielen Chef:innenetagen und der Redaktionsplanung ankommen bzw. tatsächlich auch berücksichtigt werden, dass Journalismus im Netz heute nicht mehr mit der Produktion von Beiträgen erledigt ist und Community Management kein Job ist, den irgendwer mal eben nebenbei erledigen kann - sondern anspruchsvolle Arbeit, für die es Konzepte geben sollte und für die man geschult sein muss.

Die Verantwortung von Medienunternehmen endet auf den affektökonomischen Social-Media-Plattformen nicht mehr mit der Prüfung und Veröffentlichung der Inhalte selbst. Das ist eigentlich Konsens. Der Umgang mit dieser Verantwortung für das Diskussionsklima auf den eigenen Seiten scheint aber teilweise noch immer recht wackelig zu sein...


Altpapierkorb (Ulrike Simon geht zum rbb, Wahl-Triell bei RTL, gesperrte Nachrichtenseite in Belarus)

+++ Die Medienjournalistin Ulrike Simon wechselt zum rbb. Dort wird sie sich laut SZ für die Intendanz um "Fragen der Medienpolitik und der damit verbundenen, strategischen Kommunikation" kümmern. "Die Personalie ist bemerkenswert: Die bestens vernetzte Simon, 52, ist eine der sportlichsten und kundigsten Kräfte im Medienjournalismus", heißt es dort.

+++ Nach den Kanzlerkandidati:innen-Interviews bei ProSieben zieht macht nun wieder RTL einen konkreten Schritt beim Hochfahren der politischen Relevanz im Privatfernsehen: Der Kölner Sender will Ende August einen Wahl-Talk mit Baerbock, Laschet und Schulz ausstrahlen und zwar "das erste Triell in der politischen Geschichte Deutschlands". Der "Dreikampf" bei ARD und ZDF ist dann für Mitte September geplant, erinnert Timo Niemeier bei dwdl.de.

+++ Die unabhängige Nachrichtenseite Tut.by in Belarus wurde laut SZ und Standard gesperrt, Redaktionsräume wurden durchsucht und Mitarbeiter:innen festgenommen. Auch "Zapp" berichtet über die Hintergründe. Zu den staatlichen Einschüchterung und Kriminalisierung von Journalist:innen in Belarus hat das Journalists Network für Samstagvormittag ein Online-Hintergrundgespräch mit der belarusische Fotojournalistin Tatjana Tkatschowa organisiert.

+++ Wie sich der Markt des barrierefreien Gamings entwickelt hat und was sich noch ändern müsste, damit alle am "digitalen Kulturgut" der Videospielbranche teilhaben können, analysiert Melanie Eilert bei der FAZ.

Neues Altpapier kommt am Freitag.

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