Das Altpapier am 1. Juni 2021Liebling, ich habe die Stimme geschrumpft
Videokonferenzen übertragen nicht den gesamten Frequenzbereich menschlicher Stimmen. Ein Resultat ist, dass Teilnehmerinnen Charisma abgesprochen wird. Aber dafür erobern sich US-Frauen den Medienmarkt – jedenfalls fast. Ein Altpapier von Jenni Zylka.
Inhalt des Artikels:
Schrumpfendes Charisma
Sapristi! Schon wieder Diskriminierung gespottet! Eine neue Studie zweier Forscher von Universitäten in Magdeburg und im dänischen Sonderborg gibt Anlass zu der Annahme, dass das "Charisma weiblicher Stimmen" bei Videokonferenzen systematisch technisch geschmälert wird. Im wahrsten Wortsinn:
"Die Programme würden aufgrund des hohen Datenvolumens nicht alle Frequenzen und damit nicht alle Anteile der Stimmen übertragen. Dies betreffe vor allem Frauenstimmen, so die Studienleiter"
Das besagt hier jedenfalls ein kurzer Überblick der Studie, hier kann man sich auch in englischer Sprache und mit vielen beeindruckenden Grafiken umfassend selbst informieren. Eine eigene Zusammenfassung der Studienleiter trägt die ulkige Warnung: "Women, be aware that your vocal charisma can dwindle in remote meetings!"
Mit anderen Worten: Liebling, ich habe die Stimme geschrumpft. Um das kurz zu übersetzen, für Frequenzmuffel: Menschliche Stimmen bekakeln normalerweise den großen Frequenzbereich zwischen 80 Hz und 12 kHz. (Als Hörbeispiel: Die klassische, dünne, blecherne Telefonstimme dümpelt fast ausschließlich um ein Kiloherz herum.) Männerstimmen (oder die von Personen mit längeren Stimmlippen) sonorieren dabei in der Tiefe, hellere Stimmen säuseln eher im oberen Bereich. Weil aber in den überfüllten Leitungen der Videokonferenzen sozusagen nicht genug Platz für alle Daten ist, kappen die Programme ausgerechnet oben etwas weg. Bei den Frauen. Übrig bleibt anscheinend ein unschöner Rest vom Fest.
Dabei wurden in der Studie tatsächlich ausschließlich technische Attribute, der so genannte "Kompressionscodec" nämlich untersucht, nicht eine möglicherweise unterschiedlich wirkende Emotionalität der Stimmen oder Inhalte:
"In this study, we only analyzed the assessment of the neutral stimuli in various codec qualities. The different emotional versions were excluded. We were interested in how women’s and men’s power of persuasion would be affected by perceived acoustic qualities resulting from different compression codecs. Therefore, we focus here mainly on comparing the results between the male and female speakers.”
Power of Persuasion
Man müsste also den Fokus mehr auf die "Power of Persuasion" (und weniger auf die Sache mit dem unschönen Kompressionsstrumpf) legen, um den technischen Nachteil auszugleichen. Die taz hat sich unter der Überschrift "Diskriminierung in Videochats" jedenfalls hier der Studie angenommen, und fasst zusammen:
"In der Konsequenz werden weibliche Redebeiträge als weniger ausdrucksstark, kompetent und charismatisch wahrgenommen."
So eine Frechheit, brummele ich da bei charismatisch-tiefen 150 Hz in meinen Bart. Interessant wäre natürlich in dem Zusammenhang die Frage, woran es liegt, dass tiefe Frequenzen mit mehr Charisma verbunden werden. Und wie es darüberhinaus kommt, dass sich die Stimmlagen von Männern und Frauen anscheinend seit Jahren angleichen, worauf Deutschlandfunk Kultur hier bereits 2020 hinwies:
"Die Frauenstimme ist in den letzten 50 Jahren tiefer geworden. Doch weder hormonelle Veränderungen, noch das Rauchen oder eine biologische Entwicklungen am Kehlkopf sind die Ursachen dafür. Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch eine Untersuchung an der University of South Australia. ‘Insofern ist das tiefere Sprechen bei den Frauen nichts was pathologisch, nichts was krankhaft ist, sondern es ist eine veränderte Benutzung der Stimme, um beim Hörer oder der Hörerin einen Effekt zu erzeugen.‘"
Fehlende Diversität = schlechte Technik = Diskriminierung
Aber das eine ist der willentliche Effekt, das andere ein technischer. Nochmal zurück zu den unguten Frequenzbeschneidungen. Eine Expertin geht im oben zitierten taz-Artikel nämlich auf die Gründe ein, und die haben – mal wieder – mit struktureller Diskriminierung und fehlender Repräsentanz auf der Entstehungsebene zu tun:
" ‘An der Entwicklung von Informationstechnik sind nun mal vor allem Männer beteiligt. Im Jahr 2018 waren beispielsweise im deutschen IT-Bereich nur knapp 17 Prozent aller Angestellten Frauen‘, erklärt Lisa Hanstein. (…) Hanstein war selbst mehrere Jahre als Softwareentwicklerin bei SAP beschäftigt und ist sich der Homogenität der Branche bewusst. Weil Diversität in der Belegschaft fehlt, werden die Belange zahlreicher gesellschaftlicher Gruppen bei der Entwicklung neuer Anwendungen schlicht nicht mitgedacht. Dabei sind die Videochat-Tools nur ein Beispiel für diskriminierende digitale Anwendungen von vielen."
Denn das Phänomen macht keinen Halt vor lahmgelegten Frauenstimmen. Der so genannte "Algorithmic Bias" ist auch der Grund für weitere Ungerechtigkeiten, schreibt die taz:
"Besondere Aufmerksamkeit erlangten etwa automatische Seifenspender, deren Infrarot-Sensor nur die Hände von weißen Menschen erkennt, nicht aber die von Schwarzen. Ein mehrere Millionen Mal geklicktes Video, in dem ein Schwarzer Mann demonstriert, dass besagte Technologie zwar nicht auf seine Hand, dafür aber ein weißes Papierhandtuch reagiert, führt die teils absurden Auswirkungen des Problems vor Augen."
Um liebe- und respektvoll Rosa von Praunheim abzuwandeln: Nicht der Infrarotsender ist rassistisch, sondern die Situation, in der er programmiert wurde.
Endlich Sally von der Post
Mit Vergnügen bleiben wir noch ein wenig beim Dauerbrennerthema Gender: Die Süddeutsche Zeitung weist hier darauf hin, dass in den USA immer mehr Frauen Medienhäuser führen. Sally Buzbee ist zum Beispiel die neue Chefredakteurin der Washington Post – die erste weibliche in der Geschichte des Blattes. Die SZ stellt fest, dass die Ernennung Buzbees einem Trend folge,
"der sich seit einiger Zeit in US-Medienhäusern erkennen lässt: Immer mehr Frauen werden auf die Top-Positionen befördert. Kimberly Godwin wurde kürzlich zur Präsidentin von ABC News ernannt, als erste Frau und erste Afroamerikanerin. Rashida Jones steht seit Februar MSNBC vor. Nicole Carroll ist Chefin von USA Today, Carrie Budoff Brown leitet Politico, und Alessandra Galloni übernimmt Reuters News, als erste Frau in der Geschichte der 169 Jahre alten Nachrichtenagentur. Die Liste ließe sich fortsetzen."
Auch in der politischen Berichterstattung übernähmen Frauen immer "prominentere Posten", schreibt die SZ. Allerdings dürfe man natürlich nicht davon ausgehen, dass damit nun alles paletti sei, wie die feministische Medienkritikerin Jennifer Pozner in dem Artikel erklärt:
"'Wenn man heute die Medien anschaut, insbesondere das Fernsehen, kann man den Eindruck bekommen, wir seien bei einem Verhältnis von 50 zu 50 angelangt‘, sagt sie im Zoom-Gespräch. Allerdings, sagt sie, gebe es immer noch ein Missverhältnis an der Spitze, in den Chefredaktionen, den Geschäftsführungen und bei den Eigentümern, also dort, wo das Geld verdient werde."
(Wobei ich jetzt über die Soundqualität des obigen Zoom-Gesprächs aus bekannten Gründen nicht spekulieren möchte). Weiterhin wird auf noch immer fehlende Vielfalt und fehlende Perspektiven in den meisten Medienbereichen hingewiesen, auf fehlende Mentorenprogramme für Frauen, und auf alteingesessene sexistische Traditionen in den Newsrooms der US-Medien. Aber es dauert nicht mehr lange, da werden aus Trippelschritten Siebenmeilenstiefel. Und dann, ha, dann trifft ein, was der große Dichter James Krüss sich bereits 1969 in "Ich wär so gerne Zoodirektor" wünschte:
"Dann darf der Wolf die Lämmer weiden.
Dann spielt die Eule mit der Maus.
Dann mag der Hund die Katze leiden,
der Adler schläft im Taubenhaus".
Ach ja.
Altpapierkorb ( ... mit Riverboat, Stefan Aust und dem kumpeligen ZDF)
+++ Der Tagesspiegel berichtet weiter mit sanftem Spott von dem Problem, das durch die ab Oktober abwechselnd auf MDR und, neu, RBB erfolgende Ausstrahlung der Talkshow "Riverboat" entsteht: Wer soll das Schiff durch die Spree lenken bzw. moderieren? Auf DWDL dagegen wird die "Marke" Riverboat angesprochen, und darauf hingewiesen, was denn für den Sendeplatz beim RBB dran glauben musste: "Hier spricht Berlin" und das von Anfang an gebeutelte Format "Abendshow". Ob die RBB-Zuschauer:innen wirklich stattdessen eine andere, alte Talkshow goutieren werden…?
+++ Die FAZ hat anlässlich seiner Memoiren ein Interview mit Stefan Aust geführt.
+++ Und wo es doch gerade allerorten so oft um die Frage nach Mediatheken versus Streamingportale geht: Hat einen die ZDF Mediathek eigentlich immer schon geduzt? "Das könnte Dich interessieren" steht da. Mission accomplished. Fühle mich gleich jünger.
Neues Altpapier gibt es am Mittwoch.
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