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Das Altpapier am 14. September 2021Filterblasen, Koalitionsfragen und andere Nebensächlichkeiten

14. September 2021, 10:28 Uhr

Ein Soziologe lässt die Filterblasen-These platzen. Die Koalitionsstatements von Scholz, Laschet und Baerbock können wir schon laut mitbeten – danach immer wieder zu fragen, macht noch keinen kritischen Journalismus. Ein Altpapier von Annika Schneider.

Wie unwichtig sind Filterblasen?

Wenn es um die Gefahren von Extremismus und Propaganda im Netz geht, dauert es nie lange, bis der Begriff "Filterblase" fällt. Die Vorstellung, dass Menschen immer extremere Positionen einnehmen, weil sie in sozialen Netzwerken nur mit einseitigen Inhalten konfrontiert werden, leuchtet ein – das heißt aber nicht, dass sie richtig ist.

"Das Filterblasen-Phänomen wird wahrscheinlich stark übertrieben. Eine kürzlich veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass nur drei bis fünf Prozent der Leute wirklich in einer Filterblase sind, basierend auf den Informationen, die sie über Politik konsumieren",

hat der US-Soziologe Chris Bail dem SZ-Journalisten Nicolas Freund in einem lesenswerten Interview (€) erzählt. Die meisten Menschen seien allein deshalb nicht in politischen Filterblasen, weil sie sich gar nicht für Politik interessieren, sagt der Wissenschaftler, der das Polarization Lab an der Duke University leitet (schöne Jobbeschreibung!).

Oft wird ja suggeriert, man könne Filterblasen entschärfen, indem man Menschen mit abweichenden Positionen konfrontiere. Bails zufolge verstärkt es allerdings eher die Voreingenommenheit, in sozialen Netzwerken anderen Meinungen ausgesetzt zu sein. Das liege auch daran, dass sich Begegnungen im realen Leben von denen im Netz unterscheiden:

"Ich sehe nicht, ob Leute lachen oder ob sie verärgert sind. Man sieht nur Likes und Follower-Zahlen. Das fördert Missverständnisse und Extremismus."

Warum sich die Filterblasen-These dennoch so hartnäckig hält, obwohl sie in der Wissenschaft umstritten ist? Für die Plattformen sei die "Vorstellung einer gottgleichen Macht" gut, sagt Bails. Er hält den Einfluss der Konzerne allerdings für überschätzt:

"Wir unterschätzen den menschlichen Faktor der Polarisierung."

Im Interview räumt er dann auch gleich noch mit einigen anderen Thesen auf. Die Effekte des berüchtigten Microtargetings seien sehr klein oder nicht vorhanden, gerade auch bei politischer Werbung. Wir erinnern uns: Microtargeting, das ist die direkte Werbeansprache von Usern anhand von persönlichen Merkmalen. Beispiel: Eine Wahlbotschaft zum Tempolimit auf der Autobahn wird auf Facebook gezielt Berufspendlerinnen angezeigt.

Dazu passt ein aktuelles ARD-Radiofeature, für das sich der Journalist Peter Kreysler als Wahlkampfmanager von "Die Partei" ausgegeben hat. Seine Verhandlungen mit einer britischen PR-Agentur zu potenziellen Social-Media-Kampagnen hat er heimlich aufgezeichnet. Das klingt spektakulär, letztlich bleibt von der Recherche aber wenig hängen außer den vollmundigen Versprechen der PR-Profis. Wie viel Einfluss sie mit ihren Methoden tatsächlich nehmen könnten, wird im Feature nicht ganz klar – das Rechercheprojekt endet, bevor die angepriesenen Kampagnen geschaltet werden.

Fazit: Gerade weil Konzepte wie Filterblasen oder Microtargeting zu viel benutzten Schlagworten geworden sind, lohnt sich ein regelmäßiger Blick auf den Forschungsstand dazu – sonst spricht man den großen Plattformen in Zweifelsfall mehr Macht zu, als sie ohnehin schon haben.

Wie unwichtig sind Koalitionsfragen?

Das öffentlich-rechtliche Triell am Sonntagabend wird weiter fleißig analysiert und ausgewertet – weit mehr als der "Vierkampf" zwischen FDP, AfD, Linke und CSU, der gestern in der ARD zu sehen war. Zwei Aspekte des Triells sind schon im gestrigen Altpapier diskutiert worden: Was bringt ein solches Format überhaupt und warum haben die beiden Moderierenden so wenig harmoniert? Eine dritte Frage ist allerdings noch offen: Wer hatte die Idee, so dröge in die Diskussion einzusteigen?

"In den nächsten 95 Minuten wollen wir zentrale Probleme dieses Landes besprechen", kündigte Moderator Oliver Köhr zu Beginn an. Die ersten zehn Minuten der Sendezeit widmeten er und Maybrit Illner dann allerdings der Frage nach möglichen Koalitionen – die meisten Menschen würden darin wohl kaum ein "zentrales Problem dieses Landes" sehen. Die Formatverantwortlichen sendeten damit das fatale Signal, dass in dieser Sendung keinerlei neuen Erkenntnisse zu erwarten waren. Viele Kommentare auf Twitter fielen dementsprechend genervt aus.

Natürlich ist es bei einer Wahl, nach der sich diesmal voraussichtlich drei Parteien zu einer Regierung zusammenraufen müssen, extrem relevant zu wissen, welche Koalitionen man mit der eigenen Stimme ermöglicht – ob beispielsweise ein Wahlsieg der SPD dazu führen kann, dass die Linke aus der Opposition auf die Regierungsbank rückt. Grundsätzlich ist es also legitim, nach Koalitionswünschen und Abgrenzungen zu fragen.

Aber haben Illner und Köhr ernsthaft damit gerechnet, dass einer oder eine der Kandidierenden im Triell auf einmal bahnbrechend Neues verkündet? Die Textbausteine der Drei zu möglichen Koalitionen sind bis ins Detail vorbereitet und strategisch darauf abgestimmt, die eigenen Zielgruppen zu überzeugen, ohne sich gleichzeitig Optionen zu verbauen. Gewissermaßen sind den Parteien ja auch die Hände gebunden: Wenn alle sich schon vor der Wahl auf wenige Wunschpartner festlegen würden, käme am Ende womöglich gar keine Regierung zustande – und so endlos viele realistische Möglichkeiten gibt es ja ohnehin nicht. Dementsprechend viele Münzen landeten gleich am Anfang im Phrasenschwein: "Wir kämpfen um Platz Eins" (Laschet), "Deutschland kann mehr" (Baerbock), "Die Bürgerinnen und Bürger entscheiden, wie die Wahl ausgeht" (Scholz) etc.

Trotzdem ritt das Moderatoren-Duo minutenlang auf der Koalitionsfrage herum und gerierte sich so als hartnäckig-nachforschend. Das war allerdings eine Mogelpackung, denn eine Frage immer wieder zu wiederholen, ergibt noch kein kritisch geführtes Interview – dafür bräuchte man keine journalistischen Profis.

Unverzichtbar machen sich Journalistinnen und Journalisten mit Fachwissen und Analysekompetenz, indem sie Halbwahrheiten entlarven und Widersprüche aufzeigen. Wenn Laschet sich einerseits als Klimaschützer darstellt und gleichzeitig die Mietpreise durch vermehrtes Bauen in den Griff bekommen will, kann man beispielsweise fragen: Welche Baukonzepte sind denn überhaupt klimafreundlich?

In den Wahlarenen, die ich bis jetzt gesehen habe, hatten auch die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer ganz andere Fragen auf dem Herzen als die nach möglichen Koalitionen. Und wie journalistisch sinnvoll es ist, dass es minutenlang um Positionen der nicht vertretenen Linken geht, sei dahingestellt.

Dass man das Ganze natürlich auch anders sehen kann, zeigt die Triell-Nachbetrachtung des Deutschlandfunks per Live-Audio-Debatte auf Twitter, aus der später eine Podcast-Folge wurde (Offenlegung: Ich bin zwar beim Dlf tätig, hatte aber mit dem konkreten Projekt nichts zu tun.). Stephan Detjen, Hauptstadtkorrespondent des Deutschlandradios, sagte dort, die Eröffnung mit der Koalitionsfrage habe "ein gewisses Feuer, eine gewisse Dynamik in die Debatte gebracht". Sein Kollege Frank Capellan fand den Einstieg ebenfalls gelungen: "Das ist das Thema, über das die Politik seit Wochen streitet." Er gab allerdings gleichzeitig zu: "Ich persönlich kann es auch langsam nicht mehr hören." Wenn das vielen Zuschauerinnen und Zuschauern auch so ging, dann haben die ersten Triell-Minuten Quote gekostet.

Ein ganz anderer Einstieg war gestern beim "Vierkampf" zu sehen: Die Gäste mussten sich gleich zu Anfang mit "Daumen hoch" und "Daumen runter" zu zentralen Themen positionieren. Natürlich gab es auch hierbei keine Überraschungen, dafür aber direkt einen inhaltlichen Einstieg. Der gefiel dem Moderatorenduo so gut, dass es nicht an Eigenlob sparte: "Das war ein ganz guter Einstieg, denke ich." (BR-Chefredakteur Christian Nitsche) – "Ich denke, wir haben ein gutes Warm-up hingekriegt." (WDR-Chefredakteurin Ellen Ehni)


Altpapierkorb ("Bild" im Angriffsmodus, Sendepause für Jörg Thadeusz, Hackerangriff auf Attila Hildmann, "Junge Welt" vs. Verfassungsschutz)

+++ Die "Bild" nutzt mal wieder eine Gelegenheit, die Öffentlich-Rechtlichen zu attackieren: Wie das Blatt berichtet, soll eine neue Moderatorin der WDR-Sendung "Quarks" unter anderem 2014 an einem Al-Quds-Marsch teilgenommen haben, bei dem möglicherweise antisemitische Parolen skandiert wurden. Nemi El-Hassan hat sich von der Veranstaltung inzwischen distanziert. Wenig überraschend findet sich dazu eine gehässige Kritik in der "Welt" (€), wo Johannes Boie die Wahrheit dehnt, indem er den umstrittenen Demo-Besuch der Journalistin grammatisch in die Gegenwart verlegt. Wer statt eines polemischen Kommentars lieber eine nüchterne Zusammenfassung liest, findet die beim RND. +++

+++ Journalist Jörg Thadeusz, der mitten im Wahlkampf einen Artikel für ein FDP-Parteiblatt geschrieben hat, hat bei rbb und WDR bis zur Bundestagswahl Sendepause (hier die Meldung von turi2, in der alle Quellen verlinkt sind). Die Ankündigung folgt auf deutliche Kritik, unter anderem im hauseigenen Medienmagazin (transkribiert auf der Webseite von Daniel Bouhs), im "Tagesspiegel" und bei Übermedien (€). +++

+++ Mithilfe eines Informanten aus dem Umfeld von Attila Hildmann wollen die Hacker von "Anonymous Germany" sensible Daten des Verschwörungsmythikers und Hetzers erbeutet und seine Accounts übernommen haben. Darüber berichtete zuerst t-online. Im "Spiegel" steht mehr zu den gekaperten Accounts, im "Tagesspiegel" geht es um die erbeuteten Daten. Herausgefunden habe das Hackerkollektiv unter anderem die Namen "von Personen, die öffentliche Ämter bekleiden und Hildmann in Chats ihre Mitarbeit angeboten haben sollen", heißt es dort. Konkrete Inhalte wolle Anonymous in den kommenden Tagen an Behörden und Presse weitergeben.

+++ Die Tageszeitung "Junge Welt" wehrt sich mit einer Klage gegen die Beobachtung durch den Verfassungsschutz, berichtet die SZ (€) und fasst die Hintergründe zusammen. +++

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

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