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Das Altpapier am 27. Juni 2022Überfüttert mit Krisenbrei?

27. Juni 2022, 10:11 Uhr

Jetzt kommt bei den Öffentlich-Rechtlichen "Trallala raus, Kultur rein", glaubt ein wichtiger Medienpolitiker. Mutmaßliche Deep (oder doch bloß "Cheap"?) Fakes zeigen, wie wichtig Medienkompetenz ist. Netflix spielt in einem kleinen EU-Land, aus dem gute Serien kommen, "brutal" seine Marktmacht aus. Und ist Nachrichtenmüdigkeit gar nicht so schlimm? Ein Altpapier von Christian Bartels.

Trallala, Kultur und Quizshows

Oh, ein Artikel eines operativ an den relativen Schalthebeln der Macht tätigen Medienpolitikers. Rainer Robra gehört zu den bekannteren, sei es seines klangvollen Namens wegen, oder eher, weil es seinem Bundesland Sachsen-Anhalt 2020 gelang, die eigentlich schon allerseits beschlossenen jüngsten Rundfunkbeitrags-Erhöhung gut ein halbes Jahr lang aufzuhalten.

Mit dem jüngsten Medienänderungsstaatsvertrags-Entwurf ist sogar Sachsen-Anhalt zufrieden, zeigt sich nun. Robra schreibt ("FAZ" vom Samstag/ €):

"Während es bisher ausreichte, 'Beiträge' zur Kultur anzubieten, gehört die Kultur künftig zum Kernbereich des Auftrags, zur DNA der Anstalten. Abgesehen davon, dass der Begriff des 'Beitrags' im Kontext des Rundfunkauftrags ein Fremdkörper war, muss Kultur künftig über einzelne Beiträge hinaus in allen Angeboten bedient werden. Unterhaltung tritt demgegenüber künftig in die zweite Reihe, überspitzt formuliert: Trallala raus, Kultur rein."

Zwischenzeitlich könnte es fast scheinen, als wolle Robra feuilletonistisch glossieren über den "Begriff des 'Beitrags' im Kontext des Rundfunkauftrags". Tatsächlich ist "Beitrag" rundfunkpolitisch ja ein schwieriger Begriff, seitdem die deutsche Rundfunkgebühr Rundfunkbeitrag heißt (und die alte GEZ "Beitragsservice"). Beiträge in einem Beitrags-finanzierten Angebot, das klänge ja noch komplizierter als viele Was-mit-Medien-Gesetze gemeint sind. Spannender wird's jedoch, wenn es um die Gremien, also Rundfunkräte, geht. Denen sagt Robra einen "deutlichen Machtzuwachs" zu.

"Die Gremien waren und sind nicht zum Abnicken da, sondern dürfen sich als eine Art Parlament der Anstalten verstehen."

Um Rundfunkräte als "Parlamente der Sender" ging es kürzlich schon mal doppelt hier im AP. Kollege Ralf Heimann übernahm diese Formulierung; ich argumentierte damit dagegen, dass diese Gremien weder gewählt werden, noch sich um kontroverse und öffentliche Diskussionen bemühen. Robra argumentiert nun, dass die Gremien "mittelbar ebenfalls demokratisch legitimiert" sind (da ja die Bundesländer-Regierungen die Plätze besetzen), und baut auf "deutlich verbesserte interne Prozesse".

Nun ja, die Rundfunkräte fallen einstweilen weiter am ehesten durch Abnicken auf, wie etwa auch Stefan Niggemeier neulich twitterte. Das bezog sich auf diese Mitteilung, in der der NDR-Rundfunkrat "begrüßt" ("ausdrücklich"), "ermutigt", "unterstützt", "bestärkt" und dann erneut "begrüßt" (zum zweiten von insgesamt fünf Malen), und zwar jeweils, was der NDR so macht. Zwar zählt der NDR-Rundfunkrat im Biotop der Rundfunkräte zu den größten Bettvorlegern (mein Lieblings-Beispiel dafür bleibt die Intendanten-Gratulation zu einer Gemälde-Rückkehr von 2018). Doch versteht er es auch, Pflöcke in den Boden zu rammen, also Fakten zu schaffen. Aktuell beschloss der Rat, dass Quizshows, die "zahlreiche Menschen zum Mitraten und gemeinsam lachen" animieren, "eine gelungene Mischung aus Unterhaltung und Bildung" darstellen – also dass Unterhaltung mitnichten in die zweite Reihe tritt.

Bis die Rundfunkräte ansatzweise so agieren, wie Rainer Robra das ausmalt, ist's noch ein weiter Weg – auf dem die Bundesländer-Regierungen ihre Gewohnheit, Rundfunkrats-Plätze vor allem an eigene Freundeskreise zu vergeben, aufgeben müssten.

Deep oder Cheap? Fake jedenfalls

Die Digitalisierung schreitet immer noch schneller voran und bringt viele Vorteile, etwa Bequemlichkeit und Partizipation. Aber sie bringt nicht allein Vorteile. Aktuell rückt das Phänomen "Deepfakes" in größere Schlagzeilen, weil Bürgermeisterinnen und Bürgermeister europäischer Hauptstädte Videotelefonate mit ihrem Kiewer Amtskollegen führten (und natürlich öffentlich machten, auch dazu werden sie ja geführt), die sich früher oder später als Reinfall auf einen falschen Vitali Klitschko entpuppten.

Wobei die deutsche Hauptstadt Berlin, der seit vielen Jahren nicht zu Unrecht nachgesagt wird, nicht von besonders erfolgreichen Landesregierungen regiert zu werden, besser abschnitt als das oft gut beleumundete Wien. Die Videokonferenz von Berlins Regierender Bürgermeisterin Franziska Giffey brach zwar "auch aus technischen Gründen zusammen", wie heise.de schreibt, aber zu dem Zeitpunkt, als Giffey ob seltsamer Fragen etwa nach Hilfe "bei der Ausrichtung eines Christopher Street Day in Kiew" Zweifel kamen ("Berliner Zeitung"/dpa).

Rund um Wiens Bürgermeister Michael Ludwig schien hingegen niemand solche Bedenken zu hegen, weshalb in Österreich die Aufregung größer ist ("Standard", futurezone.at). Lange "brüstete man sich öffentlich via Twitter, welch wertvolles Gespräch man ... geführt hat", schreibt der "Standard" und führt dieses Beispiel für mangelnde Digitalkompetenz an:

"Hätte man zumindest ein Mindestmaß an Recherche angelegt, hätte sich schnell herausgestellt, dass es sich bei ukr.net um einen Freemail-Anbieter handelt, bei dem einfach jeder Mailkonten anlegen kann. Auf Nachfrage heißt es aus Ludwigs Büro nun, man habe 'mehrere 'verifizierte' Gesprächspartner aus der Ukraine, die derartige Mailadressen verwenden würden', insofern sei das nicht aufgefallen. ... Immerhin ist das so als würde jemand sagen, ein Mail von einer GMX-Adresse könne keinen betrügerischen Hintergrund haben, weil von dort ... auch echte Personen schreiben."

Ob es sich tatsächlich um ein Deepfake, also eine auf Fälscher-Seite technisch anspruchsvolle, auf Opfer-Seite schwerer erkennbare Fälschung handelte, oder eher um "ein sogenanntes Shallow Fake/Cheap Fake", fragt "Kontraste"-Redakteur Daniel Laufer in einem interessanten (auf diesem Tweet basierenden) Twitter-Thread.

Eine andere Frage wäre, ob der Umstand, dass offenbar weder in Wien noch in Berlin jemand staunte, warum der Klitschko-Fake einen Dolmetscher benötigte, sich allein mit Distanz zur "Bild"-Zeitung erklären lässt (deren Reporter Paul Ronzheimer beste Drähte zu den Klitschkos hat). Aktuelle deutschsprachige ZDF- und ARD-Interviews mit Vitali Klitschko gibt es ja durchaus auch.

Netflix vs. Dänemark

Zu den zahllosen Vorteilen der immer noch schnelleren Digitalisierung gehört auch bequeme, permanente Verfügbarkeit von viel mehr guten Inhalten als man jemals bingewatchen könnte, selbst wenn man gar nichts anderes mehr täte.

Allerdings ist allerhand davon selbst durch heftiges Datentracking nicht gegenfinanzierbar, sondern wird von aufstrebenden Firmen in der Hoffnung ins Netz gestellt, dass Rivalen schneller schlapp machen und anschließend die eigene Firma solche Quasi-Monopolgewinne abschöpfen kann, wie es Google, Amazon und andere längst schon tun. So funktioniert Plattformkapitalismus, allerdings naturgemäß nicht für alle.

Netflix etwa hat mit diversen Finanzproblemen zu kämpfen. Außer dem eingeninitiativ aufgegebenen Russland-Geschäft tragen stagnierendes Wachstum, ja sogar Abo-Kündigungen ("im ersten Quartal 2022 gingen demnach 200.000 Bezahlabos verloren") zum fallenden Aktienkurs bei. Daher kündigt Netflix erstens nun selber Mitarbeiter, inzwischen insgesamt 450 (heise.de). Zweitens hat Netflix "von einem Tag auf den anderen" seine Dänemark-Niederlassung komplett zugemacht und sämtliche laufenden Planungen abgebrochen, meldet die "Welt":

"Der Grund ist eine Vereinbarung der Dachorganisation der dänischen Filmurheber und Schauspieler mit der dänischen Produzentenvereinigung über die angemessene Vergütung für den Bereich Streaming. Dieser Vertrag sieht vor, dass nicht allein – wie bei Streamern üblich – eine Pauschale als Honorar (plus, vielleicht, eine schmale Erfolgsbeteiligung) gezahlt wird, sondern eine Vergütung je nach Territorium und Abonnentenzahl. Diese Vereinbarung stützt sich auf geltendes EU-Recht. Sie mache jedoch, so die Streamer, die Produktion in Dänemark zu teuer, ganz zu schweigen von der dortigen neuen Streamingsteuer",

weshalb außer Netflix auch andere Streamingdienste in Dänemark ähnlich agieren. Wobei Netflix der international bekannteste ist und Serien aus dem kleinen Dänemark ja auch in größeren Märkten wie Deutschland gut laufen, wie aktuell die neue "Borgen"-Staffel zeigt. Es handelt sich um "brutales Ausspielen von Marktmacht", meint "Welt"-Redakteur Hanns-Georg Rodek. Um schon mal ein Beispiel dafür, dass US-amerikanische Plattformen sich EU-Gesetzen, die ihnen nicht passen, nicht beugen wollen. Angesichts der in ganz EU-Europa besonders föderalistischen Filmförderung (bei der sich alle freuen, wenn sie teure Produktionen mit Subventionen aus dem jeweiligen Nachbarland locken können), dürften eventuelle Reaktionen bzw. Nicht-Reaktionen aufschlussreich sein.

In Deutschland ist die Netflix-Welt einstweilen in Ordnung. Die größten Fans sitzen in der Medienredaktion der "Süddeutschen" und loben heute schon mal die neue deutsche  Serie "King of Stonks" als "sogar enorm lustig", online: "Sehr, sehr, sehr lustig" (auch wenn eigene Lustigkeits-Bemühungen à la "Man muss den genauen Paragrafen im Bundes-Lach-nicht-Gesetz noch nachschlagen" Zweifel an den Maßstäben wecken könnten). Bevor sich jemand wundert, wie krass vorab die "SZ" lobt, da die Serie sich erst "ab 6. Juli" bingewatchen lässt: Es handelt sich um eine Besprechung der Serien-Premiere beim Münchener Filmfest.

Nachrichtenmüdigkeit und Systemtheorie

Um News Avoidance, nicht ganz wörtlich, aber treffend übersetzt mit "Nachrichtenmüdigkeit", ging es zuletzt in diesem Altpapier. Wer dazu entschleunigt, dafür von nachhaltiger Theorie-Kenntnis getragen, etwas anhören möchte, dem sei die jüngste "Medienquartett"-Sendung des Deutschlandfunks empfohlen, die sich hier anhören lässt (oder runterladen, wenn man auf die drei vertikalen Pünktchen klickt). "Gleichzeitigkeit der Krisen – können Medien den Zustand der Welt noch abbilden?" heißt sie.

Der Kölner Journalismus-Professor Matthias Kurp spricht von der "Unkontrollierbarkeit von Multiproblemen". Moderator Christian Floto schöpft das hübsche Sprachbild vom nachrichtlichen "Krisenbrei, den man jeden Tag routiniert in sich hineinlöffelt als wäre es Haferbrei"  – immerhin ist Haferbrei ja gut für Umwelt und eigene Gesundheit. Wer die optimistischere Gegenposition einnimmt, ist (nach gut 16 Minuten im Audio) Lutz Hachmeister. Krisenlagenmäßig sei es "nie anders" als heute gewesen, sagt er bloß könne man durch viel mehr Medien viel mehr davon mitbekommen: "Wenn wir das wollen, wächst unser Weltwissen". Dass diese vielen Medien-"Infrastrukturen in globalisierter Form" anfälliger werden, führt dann zur älteren "soziologischen Systemtheorie". Jedenfalls sei News Avoidance auch nicht schlimm. Da handele es sich um eine "bewusste Abwehrreaktion, nicht überfüttert zu werden mit Formalinformationen". Wo "taz"-Chefredakteurin Ulrike Winkelmann natürlich gepflegt widerspricht ...

Das ist mal eine fundiert unaufgeregte Diskussion, die noch allerhand Themen streift. Krisen-Gleichzeitigkeit steigert naturgemäß auch die Gleichzeitigkeit von Lösungsideen. Dazu zählt die in keiner Was-mit-Medien-Diskussionsrunde fehlen dürfende Frage, ob nicht Medienkompetenz oder "Medienbildung", wie Floto sagt,  in der Schule gelehrt gehörte.

Hachmeister bleibt optmistisch: "Vielleicht ist das Publikum auf der richtigen Spur", nämlich "schlauer als die Medienmacher glauben, das ist ja beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk durchgehend so".


Altpapierkorb (GOA, Chatkontrolle, Wissenschaftsjournalismus, Schwimm-WM, Roman-Journalisten, Streisand-Effekt)

+++ Am Donnerstagabend wurden in Köln die Grimme Online Awards verliehen (ich war Mitglied der Jury). Es berichten z.B. dwdl.de und sueddeutsche.de.

+++ Am Freitag diskutierte der Bundestag erstmals über das Thema "Chatkontrolle", und netzpolitik.org hat zugehört. +++ Medien und Digitales sind weiterhin eine Art Querschnittsthema in der Bundesregierung. Selbst grün geführte Ministerien wie Robert Habecks Wirtschaftsministerium und die Abteilung der für vielerlei ein bisschen zuständigen Beauftragten für Kultur und Medien, Claudia Roth, seien zerstritten, beklagt der Musikindustrieverbands-Chef  mit Blick aufs Urheberrecht in der "Welt".

+++ Nicht bloß bei Springers "Welt", "auch in anderen Häusern haben WissenschaftsjournalistInnen die Redaktionen verlassen, weil der Evidenz, also der Faktenlage, gleichberechtigt Meinungen gegenübergestellt wurden", analysiert Kathrin Zinkant in der "taz".

+++ Die deutschen Schwimmer schwimmen ihre "erfolgreichsten Weltmeisterschaften seit vielen Jahren", aber nicht live im Fernsehen. Die Liverechte liegen ungenutzt beim ZDF. "Durch die Kurzfristigkeit der Ansetzung haben wir uns entschieden, nur nachrichtlich zu berichten in einem sehr intensiven Sportjahr. Unsere Kapazitäten sind begrenzt", zitiert die dpa (digitalfernsehen.de) ZDF-Sportchef Thomas Fuhrmann. Stimmt, diese WM wurde geografisch und terminlich hin und her verschoben (wie im Artikel steht). Allerdings wurde die turnusgemäß 2022 stattfindende Fußball-WM, die normalerweise im Sommer immer sehr, sehr viele Sportreporter-Kapazitäten bände, ja in den Winter verschoben.

+++ In zeitgenössischen Romane seien "Journalist:innen ... selten angenehme Zeitgenoss:innen", aber immerhin behaupten diese Romane "eine weit höhere Nutzung von Zeitungen (und deren Onlineangeboten), als es in der empirischen Realität der Fall ist". Das hat mit Frank Überall ein weiterer Kölner Journalismus-Professor (der außerdem ja der umtriebige DJV-Chef ist) untersucht, meldet idw-online.de. Die "SZ" zitiert Beispiele von Jussi Adler-Olsen bis Juli Zeh.

+++ "Wie die rechte Szene ihre Kampagne gegen die Journalistin Ferda Ataman orchestriert", die designierte Leiterin der Bundes-Antidiskriminierungsstelle, war am Donnerstag hier kurz Thema. Dass Atamans Löschung von Tausenden ihrer Tweets "erstmal ein seltsames Signal" war und als weiteres, nun als deutsches Beispiel des Streisand-Effekts dienen dürfte, sagte Simon Hurtz bei "@mediasres".

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.

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