Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
MedienwissenMedienkulturMedienpolitikSuche

Das Altpapier am 6. Juni 2018Feuchte Träume

Das Problem sind nicht die Gästelisten der Talkshows, das Problem sind die Talkshows selbst. Beziehungsweise: Die AfD ist dort auch präsent, wenn sie nicht anwesend ist. Der Angloneologismus der Stunde lautet möglicherweise "Second-Level Agenda-Setting". Außerdem: Der "BAMF-Skandal" ist möglicherweise gar keiner. Ein Altpapier von René Martens.

Der AutorRené Martens

Das Altpapier sei das "Gedächtnis des deutschen Medienjournalismus", hat vor mehr als einem halben Jahrzehnt die Jury des Bert-Donnepp-Preises befunden, und hin und wieder müssen wir diese Eigenschaft natürlich unter Beweis stellen.

Angesichts der aktuellen Debatte um Talkshows i.a. und "Hart aber fair" im Besonderen, um Framing und Alexander "Vogelschiss" Gauland (siehe Altpapier von Dienstag) ist es zum Beispiel durchaus hilfreich, daran zu erinnern, dass Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell 2015 in einer Kolumne für den Merkur Frank Plasberg als "eitlen Jahrmarktbudenbetreiber" bezeichnet hat (siehe auch Altpapier). Es schadet jedenfalls nicht, das im Hinterkopf zu behalten, denn einerseits ist es nicht illegitim, an "hart aber fair" journalistische Kriterien anzulegen, andererseits funktioniert eine Jahrmarktbude nun mal anders als ein journalistisches Format.

Noch ein historischer Exkurs: Vor rund einem Jahr hat Georg Seeßlen in der taz "ein Plädoyer für die Abschaffung der Talkshows, wie wir sie kennen" formuliert (siehe dazu auch die "GRIMBERG"-Kolumne nebenan). Gewiss, der Text funktioniert nicht unähnlich wie laut Spiegel-Online-Rezensent Benjamin Moldenhauer Seeßlens jüngst erschienenes Buch "Is This the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung" ("Man läuft los, mit einem ganzen Ensemble von Widersprüchen im Gepäck, und schaut, wo man mit einer starken These ankommt, im besten Fall, ohne dass es sie aus der Kurve trägt"), aber die aktuelle Debatte bereichern könnte er allemal. Einer der zentralen Sätze aus Seeßlens besagtem taz-Text lautet:

"Das Gift des Populismus steckt schon in der Form selbst, so als hätten die Medien nichts Besseres zu tun, als den Politikern die populistischen Gesten und Strategien geradezu abzuverlangen."

Das wirft, nicht zuletzt mit Blick auf den aktuellen Teilaspekt Talkshow-Gästelistenbesetzung, die Frage auf, ob die Politiker der AfD dieses hier skizzierte Quasi-Anforderungsprofil der Redaktionen nicht am besten erfüllen. Eine Talkshow ohne AfD-Politiker wäre aus der Sicht der Redakteure wie ein Jahrmarkt, dem eine wichtige Jahrmarkts-Attraktion fehlt (setzen Sie hier bitte ihre liebste Jahrmarkt-Attraktion ein)

Seeßlen weiter:

"Die Talkshow ist eine antidemokratische, medienpopulistische Form des Dabeiseins. Je näher man der Sache, der Sprache, den Vertretern der politischen Machtknoten namens Partei kommt, desto nichtiger, unsinniger, beleidigend doofer wird das Ganze. Immer wenn wir Zuschauer bemerken, wie viel hohle Rhetorik, Maskerade oder schlichte Lüge im Auftritt eines Politikers, einer Politikerin steckt, wie unkultiviert und niveaulos man sich beharkt, wie nichtig und willkürlich das Zahlenmaterial, die 'Beweise', die Zitate sind, entsteht ein neuer Grad der Entfremdung."

Man könnte an dieser Stelle natürlich fragen, ob diese in den Talkshows seit 20 Jahren permanent produzierte "Entfremdung" dazu beigetragen hat, der AfD den Boden zu bereiten. Seit 20 Jahren? Damals startete die Sendung "Sabine Christiansen" - zwar nicht die erste Polittalkshow im deutschen Fernsehen, aber jene, mit der die, jetzt mal wertfrei gesagt: Erfolgsgeschichte dieses Formats begann.

Auch ein andere These aus Seeßlens Text von 2017 ist mit Blick auf den Erfolg der AfD nicht uninteressant:

"Die politische Talkshow ist die Schau der Entpolitisierung, die Schau der Antipolitik schlechthin. Diese krude Sehnsucht nach 'Klartext' und 'Sprache des Volkes', sie hat hier ihren Ursprung."

Hat die "Entpolitisierung" (Seeßlen) der politischen Debatte, also die Unterforderung des Publikums, also ebenfalls dazu beigetragen, dass die AfD reüssieren konnte?

"Second-Level Agenda-Setting"

Gleiten wir langsam über in die tagesaktuellen Sphären: Jakob Biazza hat für die SZ Johannes Hillje interviewt, Politik- und Kommunikationsberater und Autor des Buchs "Propaganda 4.0: Wie rechte Populisten Politik machen". Hillje sagt in dem Gespräch:

"Ein zentraler Erfolg der AfD in den vergangenen Jahren - und damit auch ein zentraler Misserfolg der anderen Parteien - ist es, dass der Einfluss der Rechtspopulisten auf unsere öffentlichen Debatten deutlich größer ist als ihre politische Relevanz, gemessen an den Wahlergebnissen. Selbst wenn die AfD nicht in Talkshows sitzt, sind ihre Inhalte oft omnipräsent. Das Entscheidende ist hierbei: Die AfD setzt gar nicht unbedingt die Themen, aber sie beeinflusst sehr stark, wie wir über ein Thema reden. Es geht also nicht darum, ob wir über den Themenkomplex Migration in einer Talkshow reden, sondern über das 'Wie'. Als Kommunikationswissenschaftler nenne ich das 'Second-Level Agenda-Setting'. Konkret: Dank der AfD führen wir eine Desintegrations- statt der nötigen Integrationsdebatte."

AfD-Politiker grundsätzlich nicht mehr einzuladen - was gar nicht zur Debatte steht, zur Debatte steht ja allenfalls die Nicht-Einladung von Alexander Gauland und ggf. anderen Einzelpersonen (siehe etwa Die Welt) -, wäre also keine Lösung (mehr). Die einzige Lösung, die mir einfällt, ist ohnehin eine radikal-utopische: Polit-Talkshows ohne Politiker. Also: Debattensendungen mit Politik-Experten, die nichts verkaufen wollen (außer vielleicht ein neues Buch, aber das wäre immer noch besser als Parteipropaganda)

Hilljes Satz "Selbst wenn die AfD nicht in Talkshows sitzt, sind ihre Inhalte oft omnipräsent" ergänzt sich mit der von Lisa Ludwig (Vice) formulierten Einschätzung, dass die "Hart aber fair"-Sendung von vergangenem Montag "der feuchte Traum eines jeden AfD-Wählers" war (obwohl in der Sendung kein AfD-Politiker zugegen war), und in diesem Sinne ein "feuchter Traum" dürfte auch die heutige "Maischberger"-Sendung werden (obwohl dort kein AfD-Politiker zugegen sein wird). "Sind wir zu tolerant gegenüber dem #Islam?" lautete die erste Twitter-Ankündigung der Sendung, die mittlerweile gelöscht wurde (aber zum Beispiel hier dokumentiert ist). Die überdachte Variante findet man hier.

Alexander Gauland steht im übrigen derzeit gar nicht schlecht da, schließlich dürfte er der erste Politiker der Weltgeschichte sein, dem eine umfangreiche überregionale Berichterstattung gewidmet wurde, weil ihm jemand während des Badens die Klamotten geklaut hat. Einen angemessenen Kommentar zum Klamottenklau hat der Schriftsteller, Satiriker und Filmemacher Shahak Shapira abgegeben.

Die Märkische Allgemeine - jene Zeitung, bei der Gauland 14 Jahre lang Herausgeber war; ein Teil seiner Arbeitsbiographie, den man sich auch mal genauer anschauen könnte - hat dankenswerterweise eine Karte publiziert, die die touristisch wertvolle Information enthält, wo sich Gaulands  Badestelle am Heiligen See befindet. Darf man nun eigentlich noch im Heiligen See baden, oder ist der so toll, dass man ihn nicht den Gaulands überlassen sollte? Die Frage stellt sich ja - wg. Kai Diekmann - auch bei einem anderem Potsdamer See, dem Jungfernsee.

Die Mär von den Gemäßigten

Weil Alexander Gaulands "Vogelschiss"-Äußerung eine "Zäsur" darstelle, konstatiert Imre Grimm (unter anderem in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung):

"Ignorieren? Anbiedern? Belächeln? Die bisherigen publizistischen, politischen und gesellschaftlichen Strategien im Umgang mit der neuen Rechten sind gescheitert."

Aber welche publizistische Strategie wäre die richtige gewesen? Brächte es noch etwas, wenn man sich jetzt endlich auf eine tendenziell bessere besönne? Zu den bizarren publizistischen Strategiefehlern gehört imho auf jeden Fall der Versuch, bei der AfD sogenannte Gemäßigte auszumachen. Aktuell tun das etwa faz.net, Zeit Online und das Handelsblatt.

Ein Blick zurück: Vor drei Jahren titelte zum Beispiel die SZ "Lucke und der Auszug der Gemäßigten" - es war eine Zeit, als also Lucke als gemäßigt galt und Frauke Petry als gar nicht gemäßigt. Zwei Jahre später galt dann plötzlich Petry als gemäßigt bzw. ordnete sich selbst so ein.

Lucke und Petry sind bekanntlich weg, aber das Spielchen mit der Etikettierung "gemäßigt" geht weiter, und wenn es nicht aufhört, wird in zwei Jahren dann halt Höcke der sein, den man als gemäßigt verkauft.

Zu befürchten ist, dass Journalisten, die bei der AfD "Gemäßigte" entdecken, nach der Wiedereinführung der Todesstrafe noch feinsinnig differenzieren würden zwischen jenen, die den Strick als Mittel der Tötung bevorzugen, und jenen, die die Giftspritze favorisieren.

Altpapierkorb (Unterwerfung, Weltspiegel extra, Live nach neun, Spex, VG Wort)

+++ "Unterwerfung", die Verfilmung von Michael Houellebecqs gleichnamigem Roman, die wiederum Ausschnitte der gleichfalls gleichnamigen Theaterinszenierung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg enthält, sei "ein ungewöhnlich mutiges Fernsehabenteuer" (Peter von Becker im Tagesspiegel). "Einen solch brisanten Stoff fürs Fernsehen zu verfilmen, ist ein unerschrockener, respektabler und intellektuell erfreulicher Akt", meint Christine Dössel in der SZ. Der den Protagonisten spielende Edgar Selge erläutert in einem Acht-Augen-Gespräch in der FAZ (Michael Hanfeld und Ursula Scheer interviewen ihn und seinen Neffen, den Regisseur Titus Selge), warum in dem Film eine "Rahmenhandlung" notwendig ist: "Weil man im Fernsehen deutlich machen muss, welche Haltung man selbst dem Roman gegenüber einnimmt. Das Theater kann es sich leisten, die Bewertung dieses Stoffes, der so viele Phobien berührt und jeden abholt, wo er sich mit seinen Ängsten gerade befindet, dem Zuschauer zu überlassen (…) Der Abstraktionsgrad ist im Theater höher, und es versammelt sein Publikum an einem Ort. Man sieht die Reaktionen der Sitznachbarn, man diskutiert in der Pause und erlebt die Widersprüchlichkeit anders als der vereinzelte Zuschauer vor dem Fernsehschirm." Die heutige Ausstrahlung des Films ist wiederum der Anlass für die oben bereits erwähnte Diskussion bei "Maischberger"

+++ Langsam scheint sich abzuzeichnen, dass der "BAMF-Skandal", über den sehr viele Medien sehr lustvoll berichteten, keiner ist bzw. war. Die FR und piqd.de werfen jedenfalls ein paar Fragen auf.

+++ Seit Herbst 2013 gibt es in der ARD das Format "Weltspiegel Extra", und auffällig ist nun, dass allein im Mai 2018 acht Filme unter diesem Label liefen, wohingegen es im gesamten Jahr 2017 lediglich fünf waren und 2016 sechs. In der Regel sind in der Reihe 15 Minuten lange Beiträge zu sehen, mit denen die ARD aktuell - und ausführlicher, als es in einem Beitrag in der "Weltspiegel"-Regelsendung möglich ist - zu reagieren, mittlerweile sind aber auch längere Filme darunter, die über einen längeren Zeitraum entstanden sind. Vier der acht Mai-Filme hat sich Manfred Riepe für die Medienkorrespondenz angesehen: "Man würde sich wünschen, solche monothematischen 'Weltspiegel'-Sendungen gäbe es öfter und dann auf einem regelmäßigen Sendeplatz."

+++ Senta Krasser hat sich, ebenfalls für die Medienkorrespondenz, das kürzlich gestartete ARD-Vormittagsmagazin "Live nach neun" angesehen. Problematisch sei unter anderem, "dass in 'Live nach Neun' viel zu oft ohne Sinn und Verstand einfach "drauflos gequatscht" wird: über Goldschmuck für Zähne ('Jedem Tierchen sein Pläsierchen'), die Royal Wedding in Großbritannien ('Es ist doch was Schönes, aber frag nicht, warum') oder Wolfgang Petry ('Ich kenne ihn sehr gut'; alle Zitate stammen von Isabel Varell). Als Zuschauer nimmt man teil an einer Art dialogischem Stream of Consciousness und könnte sich ebenso gut ins Café setzen zu wirklich echten Menschen mit ähnlich ungeregeltem Redefluss (…) Das alles findet in einem Set statt, in dem neben Zweisitzer, Couchtisch, Flokati und Blumen merkwürdigerweise auch eine Badewanne (in der nicht gebadet wird) und ein Fahrrad (mit dem kaum gefahren wird) als Requisiten rumstehen." Zur Sendung siehe auch ein Zusammenschnitt, den Übermedien neulich präsentierte.

+++ "Ich mag bei Weitem nicht alles im Heft, manches nervt mich sogar, aber ich finde das Schreiben über Musik gehört erstens zum schwierigsten, zweitens wäre es schlimm, wenn ausgerechnet mir alles gefallen würde, denn ich war nie auch nur in der Nähe von cool, und drittens gefallen mir manche Sachen im Gegenzug so gut, dass ich Momente hatte, in denen ich beim Lesen zufrieden hätte sterben können, wenn denn der Moment gekommen wäre" - das schreibt Michalis Pantelouris bei Übermedien über Spex.

+++ Money, money, money (für uns Autoren): Unter anderem der Bayerische Rechts- und Verwaltungsreport berichtet darüber, dass das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde eines Buchverlags in Sachen VG Wort nicht zur Entscheidung angenommen hat: "Diese richtete sich gegen ein Urteil des BGH, wonach Verwertungsgesellschaften nicht berechtigt sind, Einnahmen aus der Wahrnehmung von urheberrechtlichen Rechten und Ansprüchen auch an Verlage auszuschütten, da diese nur den Urhebern zustünden." Die Pressemitteilung des Verfassungsgerichts ist hier zu finden.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.