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SondervermögenZeitenwende bei der Bundeswehr: Beschaffen die das?

23. Februar 2023, 08:56 Uhr

Ein Jahr nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine steht fest: 100 Milliarden Euro allein machen noch keine Zeitenwende. Diese Erkenntnis scheint längst nicht nur bei Expertinnen und Experten, sondern auch beim neuen Bundesverteidigungsminister Pistorius angekommen zu sein. Während die CDU beklagt, dass vom Sondervermögen noch kein Euro ausgegeben wurde, diskutiert die Bundesregierung über notwendige Reformen. Aber reicht das?

Die Zeitenwende und ihre Folgen

Am 27. Februar 2022 machte Bundeskanzler Olaf Scholz unmissverständlich klar, dass der Überfall Russlands auf die Ukraine für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht ohne Folgen bleiben dürfe. "Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen. Das ist eine große nationale Kraftanstrengung. Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt."

Was danach geschah, ist in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig: Der Bundestag beschloss mit den Stimmen der Regierungsfraktionen und von CDU/CSU ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen, um die Bundeswehr aufzurüsten. Seitdem ist einiges passiert. Deutschland hat der Ukraine Handfeuerwaffen, Panzerabwehrraketen, Flugabwehr und Kampfpanzer zugesichert und diese Waffen zum Teil ausgeliefert. Neben der innenpolitischen Debatte über die eigene Verteidigungsfähigkeit und einem Mutter-Kind-Ausflug in einem Transporthubschrauber der Bundeswehr mit anschließend verpatzten Neujahrsgrüßen von Ex-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, hat Deutschland seit Anfang des Jahres einen neuen Verteidigungsminister. Doch auch der Niedersachse Boris Pistorius (SPD) sieht sich nach wie vor mit der Frage konfrontiert: Warum wurde von den 100 Milliarden Euro Sondervermögen noch kein Cent ausgegeben?

Genug ist nicht genug

Ebendiese Frage wird selbstredend gerne von der CDU/CSU gestellt und führt ebenso selbstredend in die Irre. So lässt sich feststellen, dass vom Sondervermögen zwar noch nichts ausgegeben wurde, die Bundeswehr jedoch bereits die ersten Bestellungen getätigt hat. Laut Verteidigungsministerium stehen bereits Bestellungen im Umfang von zehn Milliarden Euro, unter anderem für F35A Kampfjets, Funkgeräte und Überschneefahrzeuge, zu Buche. Bezahlt wird dann, wenn die Rechnungen vorliegen, so das Verteidigungsministerium. Dass die Ausgaben der Zeitenwende den Erwartungen hinterherhinken, kritisiert dabei nicht nur die Union. Expertinnen und Experten sowie Bundeswehrgeneräle sind sich schon seit Monaten sicher, dass das Rekord-Sondervermögen für die heruntergewirtschaftete Bundeswehr nicht ausreichen dürfte.

Im Verteidigungsministerium wird das ganz ähnlich gesehen. Pistorius denkt bereits an eine Aufstockung des jährlichen Wehretats um zehn Milliarden Euro. Die Erhöhung auf dann insgesamt 60 Milliarden Euro pro Jahr brauche es, so der Minister, um die leeren Munitionskammern des Heeres zu füllen. Es ist wohl Spekulationsmasse, ob bei den ministerialen Forderungen die unerfreulichen Meldungen eine Rolle spielen, wonach 13 Milliarden Euro des anberaumten Sondervermögens aufgrund der steigenden Inflation für Zinsen draufgehen könnten.

Von Koalitionspartnern bis zur Opposition fordern alle mehr Tempo bei der Beschaffung von Waffen und Munition für die Bundeswehr. Noch mehr Geld als bisher will Grünen-Parteichef Omid Nouripour Nouripour aber erst dann ausgeben, wenn das Beschaffungswesen der Bundeswehr reformiert würde. Gegenüber dem ZDF zeigte sich Nouripour enttäuscht darüber, dass das Geld nicht bei der Truppe ankomme, sondern in "merkwürdigen" Projekten versickere.

Das merkwürdige Beschaffungswesen der Bundeswehr

Interessierten Beobachterinnen und Beobachtern ist nicht erst seit dem vergangenen Jahr klar, dass "merkwürdig" eine wahrlich beschönigende Beschreibung für die Umtriebe des Verteidigungsministeriums und der ihm unterstehenden Behörde, dem Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) ist. In der Regel kommt das, was bestellt wird, später und ist dann auch noch teurer.

Die Koblenzer Behörde mit ihren über 7.000 Dienstposten ist, wie ihr Name vermuten lässt, für die Ausrüstung der Bundeswehr zuständig. Während der Verband der Beamten und Beschäftigten der Bundeswehr darauf hinweist, dass man sich in Koblenz chronisch unterbesetzt fühlt, fordern Bundesverteidigungsministerinnen und Minister der letzten Jahrzehnte parteiübergreifend und unisono eine Verschlankung der Arbeitsprozesse. Soll heißen, schnellere Entscheidungsstrukturen, weniger Mitarbeitende, digitale Arbeitsabläufe.

Bereits 2011 träumte der damalige Innenminister Thomas de Maizière von einer "Kürzung der Stäbe und der Verwaltung" seine Nachfolgerin Ursula von der Leyen kam auch mithilfe kostspieliger Beratungsfirmen diesem Traum kein Stück näher. Mit dem "Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz" wollte der Bundestag erst im vergangenen Sommer schnellere Vergabeverfahren herbeiführen und Rüstungskooperationen vereinfachen. Das Gesetz mit dem nahezu lachhaft langen Namen hat bis jetzt noch keine großen Früchte getragen. Woran liegt das? Warum gibt es immer noch lange Befehlsketten, in denen eine "Alle-müssen-alles-abnicken-Mentalität" vorherrscht?

Die Abwehrkräfte der Bürokratie

Für den Verteidigungspolitik Experten Frank Sauer von der Bundeswehruniversität in München ist der Fall klar: Verteidigungsministerium und Beschaffungsamt wollen sich nur bedingt reformieren lassen. "Die Ministerialbürokratie ist ein gewaltiger Organismus mit starken Abwehrkräften. Das Immunsystem lässt Reform-Initiativen verpuffen, wenn nicht genügend politischer Druck dahinter ist."

Die Behörden hätten gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, so Sauer. Ihre Arbeit würde aber ineffizient eingesetzt, da zu viele Stellen an zu vielen Entscheidungen beteiligt würden. Pistorius sieht das ähnlich und erklärte jüngst in einem SPIEGEL-Interview, dass er die Prozesse im Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr verschlanken wolle. Darüber hinaus seien auch die 3.000 Mitarbeitenden seines Ministeriums in Bonn und Berlin "tatsächlich sehr viele".

Korruptionsgefahr?

Sehr viele Posten bergen auch viel Korruptionsgefahr – gerade in der Sicherheitspolitik. Ein vertrauliches Lagebild des Verteidigungsministeriums, das dem WDR vorliegt, kommt zu dem Ergebnis, dass 2.500 Stellen im Bundeswehrbeschaffungsamt "besonders korruptionsgefährdet" eingestuft werden, weil sie enge Kontakte zur Rüstungsindustrie pflegen, um Aufträge und Fördermittel zu vergeben. Um Korruption zu verhindern, darf auf diesen Posten seit 2004 keine Mitarbeiterin und kein Mitarbeiter länger als fünf Jahre sitzen. Im Zuge der Untersuchung des Ministeriums konnten die Beamten feststellen, dass sich das Beschaffungsamt in 450 Fällen nicht an seine eigenen Regeln gehalten hat. Teilweise sitzen die Behördenmitarbeiter seit über 28 Jahren auf korruptionsgefährdeten Stellen. Das Verteidigungsministerium ließ nach Bekanntwerden der Meldung verlauten, dass man dem Problem mit einer erhöhten Fachaufsicht begegnen wolle.

Anti-Korruption-Organisationen stellen der Bundeswehr und ihren Behörden dennoch kein schlechtes Zeugnis aus. Generell habe es in den vergangenen Jahren mit Ausnahme der "Gorch-Fock-Affäre" nur wenige größere Korruptionsskandale in der Bundeswehr gegeben, erklärt Peter Conze von Transparency International Deutschland. Dennoch sei es für den korruptionsanfälligen Verteidigungssektor wichtig, dass gerade jetzt, in Zeiten, in denen politische Verantwortliche nach mehr Tempo bei der Aufrüstung riefen, nicht überhastet Fehler bei der Überprüfung und Neugestaltung von Vergabeprozessen für teilweise milliardenschwere Rüstungsvorhaben gemacht würden.

Die Verbesserung der Unverbesserlichen

Die Reformlust scheint im politischen Berlin nach wie vor vorhanden sein. Die Ergebnisse lassen jedoch noch auf sich warten. Zudem bleibt es mehr als fraglich, ob die angesprochene Koblenzer Behörde sich bei der Verschlankung ihrer Prozesse kooperativer verhalten wird, als dies bei den Amtsvorgängerinnen und -vorgängern von Pistorius der Fall gewesen ist. Gleiches gilt für das Verteidigungsministerium selbst.

Verteidigungsexperte Sauer hat konkrete Vorschläge, Entscheidungsprozesse zu beschleunigen. So sollte in der Bundeswehr die Verantwortung für die Beschaffung stärker delegiert werden, insbesondere wenn es um "Kleinteiliges wie Fahrräder für Kasernen gehe". Dem Beschaffungsamt bliebe so mehr Zeit und Energie für die zentralisierte Beschaffung von teurem, komplexem Großgerät, Waffen und Munition.

Dass Pistorius seinem Ministerium wieder genau den Planungsstab geben will, den sein Vorgänger De Maizière abgeschafft hatte, mag vielleicht ein Anfang sein. Ohne eine radikale Umstrukturierung von Behörde und Ministerium könnte die Zeitenwende jedoch genauso verpuffen wie die Reformversuche der letzten Jahrzehnte.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL RADIO | 23. Februar 2023 | 06:00 Uhr

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