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Hohe EnergiepreiseViel Kritik an der Wohngeld-Reform

28. September 2022, 16:13 Uhr

Das Kabinett hat die Reform des Wohngeldes auf den Weg gebracht. Durch das neue Gesetz sollen weitaus mehr Haushalte deutlich mehr Geld bekommen. Doch Sozialverbände kritisieren, dass immer noch Millionen arme Menschen nicht berücksichtigt würden. Zudem wird es offenbar lange dauern, bis die Wohngeld-Bescheide bei den neuen Antragsstellern überhaupt ankommen können.

Die gestiegenen Preise belasten viele Menschen – so wie Ines Kramer. Die Reinigungskraft hat sich vor Kurzem im Bürgerzentrum Chemnitz zum Wohngeld beraten lassen. Ihr Mann arbeitet beim Discounter und ihr Sohn hat gerade eine Ausbildung im Einzelhandel angefangen. Sie wohnen zusammen und derzeit "wird es halt schwierig", sagt sie. "Man merkt die gestiegenen Kosten beim Essen, beim Einkaufen gehen."

Insgesamt stehen der dreiköpfigen Familie 3.500 Euro brutto zur Verfügung. Davon werden bei der Wohngeldberechnung pauschal 30 Prozent für Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abgezogen, erklärt Sozialberater Charlie Worschech vom Verein Neue Arbeit in Chemnitz. Das ergibt für den Haushalt von Ines Kramer und ihrer Familie ein Einkommen von 2.450 Euro pro Monat. Das Wohngeld sei aber noch einmal nach Einkommensobergrenzen und verschiedenen Mietstufen gestaffelt: "Wir sind in Chemnitz bei Mietstufe zwei. Das bedeutet bei Ihnen: Für drei Personen liegt die monatliche Einkommensgrenze bei 1.695 Euro", so Charlie Worschech. "Das heißt, sie sind leider momentan mit dem Monat, mit dem wir gerechnet haben, schon fast 700 Euro über der Grenze hinaus."

Es wird schwierig. Man merkt die gestiegenen Kosten beim Essen, beim Einkaufen gehen.

Ines Kramer

Das Wohngeld – ein Zuschuss zur Miete – ist abhängig von Einnahmen und Kosten. Es steigt mit den Wohnkosten an und sinkt, je höher das Einkommen ist. Es soll Menschen mit geringem Einkommen davor schützen, in Hartz IV zu rutschen. In Sachsen liegt das durchschnittliche Wohngeld derzeit bei 135 Euro pro Haushalt. Doch Menschen wie Ines Kramer konnten davon bislang nicht profitieren.

Das neue Wohngeld: Mehr Haushalte und höhere Zahlungen

Das soll sich nun ändern: Am Mittwoch hat die Bundesregierung ihren Entwurf zur Reform des Wohngeldes vorgestellt. Demnach sollen ab dem 1. Januar 2023 zwei Millionen Haushalte vom Wohngeld "profitieren". Das liegt daran, dass die Einkommensobergrenzen angehoben werden. Bisher beziehen etwa 618.000 Haushalte Wohngeld. Berechtigt wären sogar doppelt so viele, also etwa 1,2 Millionen. Doch viele Haushalte nehmen die Leistung nicht in Anspruch. Auch nach der Reform wäre der "anspruchsberechtige Personenkreis deutlich größer als die erwartete Anzahl von zwei Millionen Haushalte sein", so Ralph Henger vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW).

Auch die Höhe des Wohngeldes soll steigen. Haushalte, die jetzt schon Wohngeld beziehen, sollen dann im Schnitt 370 Euro pro Monat erhalten. Bisher liegt das durchschnittliche Wohngeld auf Bundesebene bei 177 Euro pro Monat und Haushalt. Rechnet man auch die Neubezieher dazu, läge das Wohngeld im Schnitt noch bei 210 Euro pro Monat, so das IW, auf dessen Berechnungen die Reform basiert.

Besonders für Geringverdiener soll die Reform etwas bringen. Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) sagte dazu: "Mein erklärtes Ziel ist es, insbesondere auch diejenigen zu unterstützen, die aus eigener Kraft die steigenden Wohn- und Heizkosten nicht tragen können."

Kein Wohngeld bedeutet: Kein Zuschuss für Heizkosten

Deswegen hatte auch Ines Kramer aus Chemnitz auf die Reform gehofft, und darauf, dass bekannt wird, wer nun Anspruch haben soll. Doch jetzt weiß sie: Sie und ihre Familie werden weiter leer ausgehen. Das hat Ralph Henger vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) für MDR Investigativ berechnet. Ihre drei Jobs und die Einkommen sind zu hoch, um Wohngeld zu bekommen. Um wohngeldberechtigt zu sein, müsste das Familieneinkommen von momentan 3.500 Euro brutto auf unter 2.900 Euro brutto sinken. Das bedeutet auch: kein Heizkostenzuschuss aus dem neuen Entlastungspaket von einmalig 640 Euro. "Ich finde das nicht gerecht. Wir gehen arbeiten. Manche sitzen faul zu Hause rum, kriegen es geschenkt, auf Deutsch gesagt, das Geld", äußert sich Ines Kramer enttäuscht gegenüber MDR Investigativ.

Ralph Henger sagt, das Wohngeld sei so konzipiert, dass alle Haushalte unterstützt werden sollen, die armutsgefährdet oder von Energiearmut betroffen seien. "Und nach unseren Berechnungen werden wir durch die neuen ansteigenden Leistungen bei der Grundsicherung und im Wohngeld diese Haushalte fast vollständig abdecken." 

Durch Reform viele Gemeinden bei Mietstufen neu eingeordnet

Dagegen sagt die Linken-Bundestagsabgeordnete Caren Lay, dass der Entwurf der Bundesregierung hinter den Erwartungen zurückbliebe. "Am schlimmsten finde ich tatsächlich, dass fast 190 Gemeinden in Deutschland herabgestuft werden, also eine niedrigere Mietstufe berechnet wird." Das bedeute, dass die betroffenen Mieter in den jeweiligen Städten weniger Wohngeld angerechnet bekämen. Das betrifft etwa Chemnitz, wo Ines Kramer wohnt. Noch vor einer Woche wäre ihre Berechnung mit Mietstufe zwei angesetzt worden, inzwischen ist Chemnitz auf Mietstufe eins gerutscht. "Der Entwurf ist unzureichend und muss an vielen Stellen nachgebessert werden", findet Caren Lay.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband befürchtet ebenfalls, dass trotz der Reform nicht alle erreicht würden, auch wenn der Entwurf grundsätzlich begrüßt werde. "Wir müssen auch ganz nüchtern feststellen: Wir haben 7,7 Millionen Haushalte in Deutschland unter der Armutsgrenze", sagt Verbands-Geschäftsführer Ulrich Schneider. Derzeit bekämen etwa drei Millionen Haushalte Grundsicherungsleistungen. "Aber es bleiben nach wie vor etwa 2,8 Millionen Haushalte, die auch bei einer solchen Wohngeldreform noch immer leer ausgehen würden, obwohl sie arm sind."

Aber es bleiben nach wie vor etwa 2,8 Millionen Haushalte, die auch bei einer solchen Wohngeldreform noch immer leer ausgehen würden, obwohl sie arm sind.

Ulrich Schneider | Paritätischer Wohlfahrtsverband

Schon jetzt: Immer mehr Anträge auf Wohngeld

Nun kommt ein neues Problem hinzu: Die Bearbeitungszeit. Schon in den vergangenen Wochen ist die Zahl der Anträge stark gestiegen. "Momentan kann ich auch nur bestätigen, dass vermehrt Anträge eingehen", sagt Sachbearbeiterin Bianka Bernhardt von der Wohngeldstelle Dresden. Dort ist sie eine von 40 Angestellten, die ausschließlich Wohngeld bearbeiten – insgesamt rund 21.000 Anträge pro Jahr. Die Neuanträge haben sich in den letzten Wochen im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Momentan sind dort noch 3.000 Anträge offen.

Ein Grund für die erhöhte Zahl an Anträgen: die gestiegenen Mieten und auch die Entlastungspakete. Denn für den Heizkostenzuschuss braucht man einen Wohngeldbescheid. Wenn sich die Miethöhe oder der Verdienst ändern, muss Bianka Bernhardt die Akte wieder rausholen. Das bedeutet: knapp drei Stunden Arbeitszeit pro Antrag. Mit der Reform sollen sich die Wohngeld-Bezieher verdreifachen, so die Bundesregierung.

Dresden: Wohngeldstelle fehlen Mitarbeiter

"Dann müssen wir hier in Dresden von einer Verdreifachung der Anträge sprechen", sagt die Sozialbürgermeisterin der Landeshauptstadt von Sachsen, Kristin Klaudia Kaufmann (Die Linke). Das bedeutet: "Dass wir auch dreifach so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigen, um schnell die Beantragung zu ermöglichen. Wir schätzen aktuell, dass wir etwa 88 neue Mitarbeiter schnellstmöglich an Bord holen müssten."

In Dresden müssen Antragstellende jetzt schon knapp drei Monate auf einen Bescheid warten – und geeignetes Personal findet sich kaum. Daher kann es sein, dass ab Januar die Wartezeiten noch länger werden, das Wohngeld womöglich erst im Sommer ausgezahlt werden kann.

Sozialverband: Das Geld muss sofort ausbezahlt werden

"Das Wohngeld muss sofort ausgezahlt werden", fordert der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider. Denn die Menschen benötigten das Geld bereits, wenn sie den Antrag stellten. "Und dann kann man, wenn es sich herausstellen sollte, dass jemand zu Unrecht Wohngeld bezogen hat, muss man halt mit Rückforderungen arbeiten." Auch Kristin Klaudia Kaufmann kennt den Referentenentwurf und meint: unbürokratischer wird es nicht und Abschlagszahlungen machten noch mehr Arbeit.

Doch noch ist ohnehin unklar, wie genau die Reform des Wohngeldes und der dadurch erhöhte Aufwand finanziert werden soll. Eigentlich wird das Wohngeld zur Hälfte vom Bund und zur anderen Hälfte von den Ländern finanziert. Doch einige Bundesländer haben bereits Vorbehalte geäußert.

Quelle: MDR Investigativ/ mpö

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 28. September 2022 | 20:15 Uhr

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