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KontroverseBrauchen wir das Gasnetz noch?

22. April 2024, 11:36 Uhr

Die Kommunen entscheiden bei ihren Wärmeplanungen auch über die Zukunft der Gasnetze. Einige werden wohl stillgelegt, flächendeckenden Rückbau wird es aber vermutlich noch nicht geben. Was auf Dauer damit passieren soll, ist aktuell jedoch noch unklar und ziemlich umstritten.

Das über Jahrzehnte aufgebaute deutsche Gasverteilnetz kann mit rund 560.000 Kilometern als flächendeckend gelten. Fernleitungen versorgen rund 500 Großabnehmer und kommunale Verteilnetze gut 1,8 Millionen Betriebe, tausende Kraftwerke und mit noch mehr als 21 Millionen etwa der Hälfte aller deutschen Haushalte – noch immer meist mit Erdgas für die Heizung.

Doch das soll sich ändern, Deutschland ab 2045 ohne fossile Brennstoffe heizen. Daher überlegt nun das Bundeswirtschaftsministerium, mit einem "Green Paper" von Mitte März auch öffentlich, was das für die Gasnetze bedeutet: Ob und wie sie verändert werden müssten und ob "bestehende Gasnetzanschlüsse getrennt und zurückgebaut werden dürfen".

Dabei will das Ministerium "einen sofortigen flächendeckenden Rückbau vermeiden" und "Nachnutzungen im Rahmen kommunaler Wärmepläne" und unter anderem Wasserstoff-Netzentwicklungen ermöglichen.

Schwerpunktsetzung umstritten

Das Ministerium geht aber davon aus, dass viele Kunden künftig über Wärmenetze versorgt werden oder mit Strom betriebene Wärmepumpen nutzen. "Wenig wahrscheinlich" sei dagegen eine dezentrale Wasserstoff-Versorgung einzelner Haushalte – wegen hoher Kosten für Wasserstoff im Wärmesektor, bei absehbar nur begrenzt verfügbaren Mengen.

Folgerichtig erinnerte die Energie-Ökonomin Claudia Kemfert im Klima-Podcast bei MDR AKTUELL kürzlich die Kommunen daran, Gasverteilnetze rechtzeitig stillzulegen, um Nutzer vor hohen Kosten ihres Weiterbetriebs zu schützen. Für die nunmehr bis 2026 in größeren und bis 2028 in kleineren Kommunen aufzustellenden Wärmepläne ist das ein wichtiger Punkt.

Doch die heutigen Betreiber und Eigentümer der Gasverteilnetze – fast durchweg kommunale Unternehmen – sehen die Sache anders. Sie wollen ihre Anlagen vor allem für grünen Wasserstoff oder andere klimaneutrale Gase erhalten und von Stilllegung oder Rückbau nicht viel wissen.

Debatte um Stilllegung ohne Rückbau

So betont der Deutsche Verein des Gas- und Wasserfachs (DGVW): "Wir brauchen die Gasnetzinfrastruktur für Wasserstoff" und andere grüne Gase wie Bio-Methan. Im Interview mit MDR AKTUELL sagte Vorstandschef Gerald Linke, ein Verzicht würde "in Deutschland die Lichter ausgehen lassen".

"Die Industrie lechzt gerade nach Wasserstoff", sagte Linke weiter, um Prozesse zu dekarbonisieren. Auch ein Großteil der Kommunen plane mit H2 und die meisten davon seien nur an Verteilnetze angeschlossen, nicht an das Wasserstoff-Kernnetz: "Wir dürfen diese Erwartungen nicht enttäuschen."

Zahlen dazu liefert der vom DVGW mit dem Verband kommunaler Unternehmen (VKU) aufgestellte Gasnetzgebiets-Transformationsplan, zuletzt für 2023, an dem sich 241 Betreiber von rund 415.000 Gasnetz-Kilometer beteiligten. Da heißt es, dass von 932 befragten Kommunen 58 Prozent klimaneutrale Gase langfristig als Baustein der Versorgung sehen, 36 Prozent das für "möglich" halten und nur fünf Prozent es ausschließen.

Linke sprach sich denn auch gegen aus seiner Sicht zu sehr propagierte Überlegungen aus, Gasnetze in einigen Jahren stillzulegen oder sie sogar bald zurückzubauen, was so oder so erstmal unnötig sei:

Die Kommunen müssten schauen, welche Wärmequellen sie hätten und welche Infrastrukturkosten. "Das mag regional sehr verschieden sein", sagte Linke. Doch pauschale Lösungen werde es nicht geben; und die Empfehlung, eine Infrastruktur stillzulegen oder nicht in die Kalkulationen einzubeziehen, "ist erstmal grundlegend falsch, weil sie den Lösunsgraum einengt".

Gebe es etwa lokale Wasserstoff-Ankerkunden in einer Kommune, könne Wärmeversorgung damit über Gasverteilnetze oder über Fernwärme eine "sinnvolle Dekarbonisierungsoption" sein. So ist es nachzulesen auch in den Stellungnahmen des DVGW und des VKU zum Greenpaper aus Berlin.

Fernwärme: Zukunftsaussicht mit Risiko

Das aktuelle bundespolitische Konzept für die Wärmewende in deutschen Wohnungen setzt vor allem auf die mit Strom betriebenen Wärmepumpen. Dazu ist bereits vieles gesagt und geschrieben worden.

Doch die Bundesregierung will auch mehr Fernwärme: 100.000 Gebäude sollen jährlich neu ans Netz. Zuletzt waren es etwa 80.000 pro Jahr, ein Viertel der Neubauten. DIW-Ökonomin Kemfert zeigte sich bei MDR AKTUELL "recht optimistisch", dass Kommunen bei ihren Wärmeplanungen "gerade auch Fernwärme-Optionen berücksichtigen können". Wo das möglich und finanziell attraktiv sei, werde man sehen, "dass auch Fernwärme ausgebaut wird".

DVGW-Chef Linke erwartet allerdings nicht so viel Fernwärme-Ausbau, dass der zusammen mit Wärmepumpen reichen würde, alle zu versorgen. Er geht nur von einer Verdopplung auf maximal 30 Prozent aller Abnehmer aus. Als Grund nennt er die Kosten für neue Fernwärme-Infrastruktur, die drei bis vier Mal so hoch seien wie Aus- und Umbauten an Gasnetzen. Fernwärme-Neubau könne Städte schwer belasten und nicht überall die beste Lösung sein.

Dazu kommt: Größere Investitionen klammer Kommunen in Nah- und Fernwärme und die Klimaneutralität ihrer Erzeugung können zur Kostenfalle besonders für Mieter werden, die letztlich alles bezahlen müssen. Schon jetzt können diese sich gegen intransparent kalkulierte und teils missbräuchliche Preise und ungünstige Vertragsbedingungen kaum wehren.

Warnung ist nicht nur das Beispiel von Rentnerin Gerda Ahrendt aus Gommern in Sachsen-Anhalt, die für 2022 und 59 Quadratmeter stolze 8.026,56 Euro an Betriebs- und Heizkosten nachzahlen soll und eine Warm-Miete, die mit dem Heizkosten-Abschlag von 515 auf 1.403 Euro stieg.

Damit Fernwärme-Ausbau nicht so endet, sind Regulierung und wohl auch Förderungen nötig. Bundesverbraucherschutzministerin Steffi Lemke (Grüne) hat sich laut der aktuellen "Mieter-Zeitung" für eine stärkere Förderung des Bundes ausgesprochen: Es brauche "größere und bessere Fernwärmenetze" und dafür auch noch "ein öffentliches Förderprogramm".

Zudem, schreibt das Blatt des Deutschen Mieterbunds, wolle Lemkes Parteifreund Robert Habeck im Bundeswirtschaftsministierium "in den kommenden Monaten" Vorschläge zur Reform der Fernwärmeverordnung machen. Ob die der große ordnungspolitische Wurf bei der Fernwärme wird und deren Ausbau befördert, bleibt abzuwarten.

Dabei spricht auch das Bundeskartellamt, das von 2021 bis 2023 sechs Verfahren gegen Stadtwerke und Fernwärme-Versorger wegen mutmaßlich missbräuchlicher Preise eingeleitet hat, laut Mieter-Zeitung "von einem der letzten unregulierten Monopolmärkte in Deutschland" – die es in einer sozialen Marktwirtschaft eigentlich nicht geben sollte.

Wasserstoff: Möglich oder "Mythos"?

Energie-Ökonomin Kemfert bekräftigte derweil auf Nachfrage, dass sie Wasserstoff für zu teuer halte und nur in der Industrie und in Teilen des Verkehrsbereichs für sinnvoll. Für das Heizen gebe es "effizientere und preiswertere Optionen" wie eben Wärmepumpen oder Fernwärme.

Ein großflächiger H2-Einsatz im Wärmebereich, sagte Kemfert bei MDR AKTUELL, sei auch technisch kaum machbar. Es brauche für seine Produktion viel Ökostrom und Wasser sowie Aus- und Umbau der Infrastruktur: "Es ist ein Mythos anzunehmen, dass die jetzigen Erdgasleitungen einfach für den Einsatz von Wasserstoff einsetzbar sind."

Dem widerspricht DVGW-Chef Linke: Biomethan sei in herkömmlichen Gasheizungen problemlos und das gelte auch für H2-Beimischungen von bis zu 30 Prozent. Das garantiere der DVGW als technischer Verein. Bei höheren Konzentrationen sei dann zwar auf eine H2-Heizung umzustellen, auch das aber kein größeres Problem und für Verbraucher nicht teuer. Auch seien die Kosten, ein Erdgasnetz für Wasserstoff zu ertüchtigen, nicht hoch: "Röhren brauchen gar nicht ertüchtigt werden, die können heute schon Wasserstoff." Es seien nur bestimmte Einbauteile, die ausgetauscht werden müssten.

Deshalb seien die Netzkosten für Wasserstoff geringer als die für das Stromnetz. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie im Auftrag des DVGW. Demnach würde für H2-Netze bis 2045 rund 67 Milliarden Euro anfallen, für Strom jedoch rund 730 Milliarden Euro, zahlbar über die Netzentgelte.

So ist für den Gasfachmann ein existentes Netz "attraktiv, weil man die Netznutznungskosten gering halten kann". Linke erwartet heute, "dass wir 90 Prozent dieses Verteilnetzes auch 2045 noch haben werden". Man müsse "mit dem Klammerbeutel gepudert sein", schon jetzt dagegen zu entscheiden.

Was das für private Verbraucher bedeutet

Wie auch immer die Debatte weitergeht: Die Entscheidungsmacht über Gasnetze haben die Kommunen. Die müssen in den nächsten Jahren die richtigen Fakten schaffen. Wer also über einen privaten neuen Heizungsbau nachdenkt, sollte seiner Kommune und dem Gasnetzbetreiber auf den Zahn fühlen. Die sollten ihren Bürgern und Kunden rechtzeitig sagen, wie es weitergeht, für kontinuierliche und bezahlbare Versorgung sorgen und – falls ein Gasnetz wirklich stillgelegt werden soll – lange vorher informieren.

Ein Beispiel dafür könnte Augsburg sein. Hier gibt es bereits seit Jahren den Plan, das Gasnetz bei einem parallelen Ausbau der Fernwärme nach und nach außer Betrieb zu nehmen. Potenziell betroffene Kunden sind nach Angaben der Stadt darüber auch schon länger informiert, obwohl es konkretere Pläne zu einm Ende des Ausgburger Gasnetzes noch gar nicht gibt.

MDR AKTUELL

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | RADIO | 20. April 2024 | 06:11 Uhr

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