Verschwörungstheorien und Gewaltvideos im InternetTöten als Spiel: Das rechtsextreme Umfeld des Attentäters von Halle
Ein 27-Jähriger hat zwei Menschen in Halle erschossen. Offenbar spielte das Internet bei dem Anschlag eine entscheidende Rolle. Der Attentäter hat sich auf rechtsextremen Webseiten bewegt und ein Video seiner Tat gestreamt. Wie sich Rechtsextreme online austauschen und radikalisieren.
Zwei Menschen sind am Mittwoch in Halle von einem Mann erschossen worden, zwei weitere Personen wurden verletzt. Eigentlich wollte der bewaffnete Mann in eine Synagoge im halleschen Paulusviertel eindringen, was ihm nicht gelang.
Der 27-Jährige aus dem Landkreis Mansfeld-Südharz, der eine Frau und einen Mann tötete, war vor allem im Internet zu Hause. Dort hat er sich auf mehreren sogenannten Imageboards herumgetrieben. Diese Seiten dienen ihren Nutzern eigentlich dazu, sich anonym auszutauschen. Manche schreiben von ihrem Alltag, stellen Fragen, sprechen über Lieblingsfilme. Andere machen das, wofür die Seiten den Meisten bekannt sind: lustige Bilder kreieren, Memes genannt. Manche dieser Memes werden später in sozialen Medien viral verbreitet.
Doch auf den Imageboards hat sich seit Jahren ein brauner Bodensatz gebildet. Und weil manche Foren nach rassistischen Terroranschlägen gegen Nutzer vorgingen, die den Attentätern huldigten, hatten sich die rechtsextremen User auf der Webseite 8chan konzentriert. Für die 8chan-Betreiber zählten lobende Worte über Attentäter zur Meinungsfreiheit. Momentan ist ihr Forum nicht mehr erreichbar, weil sich diverse IT-Unternehmen weigern, die Sicherheit der Hass-Seite zu garantieren. Auf 8chan wurden zum Beispiel kurz vor dem Anschlag in Neuseeland auf Muslime die Links zum Facebook-Stream des Täters und zu dessen Pamphlet veröffentlicht. Am 29. April 2019 gab es im US-amerikanischen Poway einen Anschlag auf die Synagoge, auch da wurde kurz vorher ein Pamphlet auf 8chan veröffentlicht.
Gekränkte Männer mit Hass auf Frauen
Vermutlich auch, weil 8chan offline war, nutzte der Attentäter von Halle zur Veröffentlichung seines Streams stattdessen ein unbekanntes, kleines Imageboard, dessen Admins nach eigenen Angaben aus Australien und den USA stammen. Seit 8chan abgeschaltet wurde, haben sich die Nutzer auf mehrere dieser kleinen Boards verteilt. Auf denen werden strafbare Inhalte unterschiedlich strikt geahndet. Antisemitismus ist aber ein omnipräsentes Element und regelrechter Common Sense unter den Usern.
Frauenverachtende und kinderpornografische Bilder gehören ebenso zum Standard dieser Seiten. Meistens sind es Zeichnungen im japanischen Manga-Stil. Entblößte Kinder und Gewalt gegen Frauen sollen so zur spaßigen Darstellung werden. Der Täter von Halle leugnete zu Beginn seiner Tat den Holocaust, bekannte sich als Antisemit und Antifeminist.
Rassistische, antifeministische und antisemitische Verschwörungstheorien
Begründet wird der Antifeminismus in der Community häufig damit, dass man selber keine Sexualkontakte habe oder feministische Frauen sich weigern würden, Kinder zu bekommen. Dieser Antifeminismus orientiert sich an einer der Verschwörungstheorien der Neuen Rechten, die sie "Großer Austausch" nennen. Demnach würden Migranten nach Europa geholt, um den Bevölkerungsschwund auszugleichen, den auch der Feminismus zu verantworten habe.
Hinter dem "Großen Austausch" steckt den Rechten zufolge wahlweise die Regierung oder geheime Kräfte, eine jüdische Weltverschwörung. Die Verschwörungstheorie wird ergänzt durch ein rassistisches Weltbild: Männern aus Afrika wird eine ausgeprägtere Libido als europäischen Männern zugeschrieben. Der Attentäter von Halle nutzte in seinen Texten Begriffe und Abkürzungen, die zu dieser Verschwörungstheorie gehören.
Hassbilder überschwemmen Diskussionen in sozialen Medien
Mittlerweile haben sich unzählige juden- und frauenfeindliche Memes herausgebildet, die von Imageboard-Usern in soziale Netzwerke getragen werden. Teilweise finden solche Aktionen koordiniert statt, wie bei der rechtsextremen Aktion Reconquista Germanica, die aus dem Umfeld der Identitären startete. Über die Online-Plattform Discord hatten sich Hunderte verabredet, Diskussionen mit Hassbildern zu überschwemmen. Discord enthält ebenfalls Elemente von Imageboards, ist aber nur mit einem zusätzlichen Programm zugänglich und damit noch anonymer.
Ähnlich verhielt es sich zu Beginn des Jahres, als ein Mann aus dem hessischen Homberg als "Doxxer" bundesweit bekannt wurde. Das Doxxing ist eine weitere Form von Online-Gewalt, die oft aus Rache oder mit politischem Motiv benutzt wird, um dem Gegner zu schaden und seine Privatsphäre zu zerstören. Der Mann aus Hessen hatte private Daten von Politikern und Künstlern ins Netz gestellt.
Rechtsextreme Gewaltvideos gelangen in Klassenzimmer
Boards wie 8chan bilden nur einen Bruchteil der Publikationsmöglichkeiten im Internet, die von den lose organisierten Rechtsextremen verwendet werden. Auch der russische Chat-Anbieter Telegram wird gern genutzt. Die deutsche Neonazi-Szene hat hier mittlerweile ein ganzes Netz aus Kanälen aufgebaut, in denen sich tagelang, auch wohlwollend, über das Attentat von Halle ausgetauscht wurde. Auf einem Telegram-Kanal wurde der Stream des Täters von Halle an tausende Nutzer weiterverbreitet.
Auch Youtube-ähnliche Seiten, die speziell für Gewaltvideos entworfen wurden, bieten den Stream des Attentäters neben IS-Enthauptungsvideos an. In den Kommentaren werden die Opfer verspottet – die Nutzer bedienen den Slang der Imageboard-Community. Einem Jugendbetreuer aus Halle zufolge kursierte auch in Chatgruppen seiner Schüler das Video. Minderjährige hätten es sich angesehen.
Im Ausgangsforum waren zur Zeit der Veröffentlichung kaum User aktiv. Nur fünf schauten zu Beginn das Video. Sie sicherten den Stream über Download-Tools und veröffentlichten die Datei erneut. Obwohl die Streaming-Plattform Twitch das Video nach einer halben Stunde sperrte und an soziale Netzwerke wie Facebook einen Code schickte, um Kopien zu identifizieren und deren Verbreitung zu stoppen, ließ sich die Verbreitung innerhalb der eigentlichen Zielgruppe nicht stoppen. Die offenen Verbreitungskanäle ermöglichen auch, dass Videos von besonderer Aktualität und Grausamkeit innerhalb kurzer Zeit bis in die Klassenzimmer kommen.
Töten als Spiel
Was in Ego-Shootern wie Counter-Strike im Spiel passiert, wollte der Täter von Halle wohl auf die Straße bringen. Die Tat enthält viele an Shooter erinnernde Elemente: eine Liste der Tatwaffen mit Vor- und Nachteilen, eine zusätzliche Waffe für den Nahkampf, weitere Sonderwaffen wie Sprengstoff und Granaten, die extra aufgelistet werden. Dazu eine Liste mit Zielen, die der Täter während des Attentats erreichen will – in den Spielen Achievements genannt. Wie bei den meisten Spielen sind darunter auch ironisch gemeinte Ziele, wie zum Beispiel, sich die eigene Hand abzusprengen.
Auch liberale Christen gehören im rechtsextremen Part der Imageboard-Szene zum Feindbild. Sie wollte der Attentäter in Halle – neben Juden, Muslimen, Frauen, Kindern und Linken – ebenfalls töten, widmete ihnen eigene Achievements. Anschläge auf Kirchen und Christen sind in der rechtsextremen Szene nicht neu, der norwegische Mörder und Neonazi Varg Vikernes brannte mehrere Kirchen nieder. Vikernes genießt innerhalb der deutschen Neonazi-Szene Kultstatus. Die offene Achievement-Liste könnte von Nachahmern als Zielstellung verstanden werden.
Attentäter in rechtsextremem Umfeld, online wie offline
Doch nicht nur die Onlinewelt des Täters aus dem Landkreis Mansfeld-Südharz ist offenbar rechtsextrem strukturiert. Auch das gesellschaftliche Umfeld in Helbra spielt mit Sicherheit eine Rolle, auch wenn ihn dort kaum jemand gekannt haben will. In Helbra bekam die AfD bei der Kommunalwahl das zweitbeste Ergebnis von ganz Sachsen-Anhalt. Björn Höcke und Frauke Petry waren 2017 in dem Ort aufgetreten: in der Alten Schachthalle, deren Besitzer der Reichsbürgerszene zugerechnet wird.
Bereits 1998 soll es ein Neonazi-Konzert im nahen Gasthaus Goldene Sonne gegeben haben. Im Nachbarort Benndorf, in dem der 27-Jährige ebenfalls lebte, war jahrelang ein bekanntes Neonazi-Paar ansässig und in Rechtsrockbands aktiv. Dass rechtes Gedankengut vor Ort eine große Rolle spielt, lässt sich nicht leugnen.
Über den AutorHenrik Merker ist freier Autor mit den Schwerpunkten Rechtsextremismus, Terrorismus und Onlinekriminalität. Er schreibt und recherchiert
regelmäßig für das Investigativ-Ressort von Zeit Online und für MDR SACHSEN-ANHALT. Merker arbeitete 2017 als Helfer bei den jüdischen Kulturtagen in Halle, ist Mitglied bei Reporter ohne Grenzen und im Deutschen Journalistenverband.
Quelle: MDR/mh
Dieses Thema im Programm:MDR um 11 | 14. Oktober 2019 | 11:00 Uhr
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