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InterviewKinderraub in der DDR: Matthias Jügler über seinen Roman "Maifliegenzeit"

13. März 2024, 15:11 Uhr

Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle, studierte unter anderem am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und lebt dort bis heute. Bekannt wurde er mit seinen Romanen "Raubfischen" (2015) und "Die Verlassenen" (2021). 2022 erhielt er den Klopstock-Preis für Literatur des Landes Sachsen-Anhalt. 2023 wurde er Stadtschreiber in Halle. Nun erscheint sein dritter Roman "Maifliegenzeit", der sich mit einem besonders grausamen Thema der DDR-Geschichte beschäftigt – Kinderraub. Darüber spricht er im Interview.

Das Thema Ihres Romans "Maifliegenzeit" ist ein heikles Geschehen: In der DDR wurden Neugeborene den Eltern gegenüber für tot erklärt und dann an Adoptiveltern gegeben. Wie sind Sie darauf gestoßen?

Matthias Jügler: Tatsächlich war das während der Recherche zu dem Buch, von dem ich dachte, dass ich es schreibe, zum Thema Zwangsadoption. Als dreifacher Vater hat mich das interessiert. Da habe ich mit einer Frau gesprochen, die mir ihre Geschichte erzählt hat. Und da ist mir währenddessen, es waren an die fünf Stunden, die wir geredet haben, da ist mir klargeworden: Warte mal, das ist gar keine Zwangsadoption, von der Karin hier spricht, sondern es geht um für tot erklärte Säuglinge.

Dann hab ich weiter recherchiert, hab Kontakt aufgenommen mit der Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR. Damals war der Stand etwas weniger als 2.000.

Als ich vor ein paar Tagen nochmal gefragt hab, waren es schon über 2.000 Mütter, die sich bei ihm gemeldet hätten mit, also Kind geboren und dann leider verstorben, aber die das Gefühl haben oder den begründeten Verdacht: Irgendwas stimmt hier nicht. Und tatsächlich haben drei bis jetzt ihre Kinder gefunden. Das sind nur die Zahlen, die die Interessengemeinschaft hat, vieles geschieht vielleicht auch ohne die Interessengemeinschaft.

Sie erzählen es von der Sprache her fast nüchtern. Wie schwer war es, für diese Ungeheuerlichkeiten den angemessenen Ton zu finden?

Während ich schrieb, ist mir klargeworden, es gibt Menschen, die teilen das Schicksal meines Ich-Erzählers, sind auf der Suche bis heute noch. Deswegen war das klar, ich hatte das Gefühl, ich bin vielleicht auch ein bisschen Rechenschaft schuldig. Ich wollte mich ganz behutsam diesem Thema nähern, da war für mich klar, dass ich in der Sprache ganz reduziert sein muss.

Und ich erzähle auch viel vom Angeln und von der Natur als Trost. Ich merkte beim Schreiben, ich brauchte so eine Art Bandenspieler, damit ich nicht die ganze Zeit in der Situation bin: Ich der Vater, suche, und auf einmal steht der Sohn in der Tür. Für mich war die Natur was ganz Tröstliches beim Schreiben.

Hören Sie hier die Lesung von "Maifliegenzeit" mit Jörg Schüttauf

Und wieder DDR-Geschichte wie beim Vorgängerroman "Die Verlassenen", da ging es um ein Opfer der Staatssicherheit. Da haben Sie teilweise heftige Reaktionen bekommen.

Das war überraschend, dass ich wirklich viele Mails bekommen habe von Leuten, die entweder gesagt haben: Sag mal, du bist viel zu jung, 1984 geboren, du hast gar keine Ahnung, du darfst darüber gar nicht schreiben. Und die andere Reaktion war in dem Tenor: Mach uns mal nicht unsere DDR kaputt, denn wir blicken gern in die Vergangenheit zurück. Das möchte ich auch niemandem absprechen, aber wenn man zurückschaut, und nicht über Jugendwerkhöfe nachdenkt, Stasi und all die anderen Sachen, die damals schief liefen, dann ist das Geschichtsverklitterung.

Und ich hab mein Leben lang nach vorn geblickt. Als Jugendlicher wollte ich endlich 18, endlich erwachsen werden, und irgendwann kommt natürlich der Zeitpunkt, vielleicht wenn man selber Kinder kriegt, wie ich, da blickt man zurück und schaut nach: Woher komme ich eigentlich?

"Die Verlassenen", der Vorgängerroman von "Maifliegenzeit", erzählt die Geschichte eines Opfers der DDR-Staatssicherheit. Bildrechte: Penguin Verlag

Vielleicht ist ja dieses Phänomen, dass sehr viel über die DDR publiziert wird, auch von jüngeren Autorinnen und Autoren, der Tatsache geschuldet, dass sich jede Generation dieses Thema selbst klarmachen muss?

Ich denke, dass das genau der Fall ist. Das sieht man auch daran, dass viele junge Leute veröffentlichen zu diesem Thema, beziehungsweise dass Verlage auch erkannt haben, dass das ein Thema ist. Ich weiß noch: Mein Buch kam 2021 raus, also das Vorgängerbuch "Die Verlassenen", aber an die Verlage getreten sind wir schon 2019.

Und meine Agentin sagte damals zu mir: ganz schwieriges Thema, hast dir leider ein blödes Thema ausgesucht, so in dem Sinne. Die Zeiten haben sich total geändert. Ich hab letztens erst von einer Lektorin eines großen Publikumverlages gehört, dass ihr jetzt reihenweise von Agenturen Oststoffe angeboten werden. Das, finde ich, ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Aber es gab jetzt zehn Jahre, in denen nicht so viel kam, jetzt sind die Leute, die so Nachwendezeit, Vorwendezeit geboren sind, in dem Alter, da ist man vielleicht gesettelt genug, um sich mit dem Thema zu befassen, also reif genug, alt genug mit Anfang, Mitte Dreißig.

In der MDR-Produktion liest Schauspieler Jörg Schüttauf den Roman "Maifliegenzeit" von Matthias Jügler. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Soeren Stache

Jörg Schüttauf hat Ihren Roman eingelesen. Sind Sie zufrieden mit seiner Version von "Maifliegenzeit"?

Total. Es ist schön zu sehen, dass es jemanden gibt, der Dialoge sprechen kann. Das ist tatsächlich was, wir Autoren haben keine Sprecherausbildung in dem Sinne, und es ist ein Traum zu hören, wie er das gemacht hat. Und dass der Roman jetzt ins Englische übersetzt wird, und dass man in London oder Manchester bald von der Unstrut lesen wird, und dass das Thema nicht nur ein deutsch-deutsches Thema bleibt und hoffentlich im englischen Feuilleton besprochen wird, das ist doch ein Traum!

Ich hab mit der Karin, also mit der Frau, deren Geschichte ich erzählt habe, die in Sachsen-Anhalt wohnt – mit ihr hatte ich telefoniert, als es dieses Diding-Geräusch von meinem Laptop gab, und ich sag: Warte mal, der Verlag hat mir geschrieben – und: Oh, es wird übersetzt – und sie war zu Tränen gerührt.

Informationen zum Buch

"Maifliegenzeit" von Matthias Jügler
erschienen bei Penguin am 13. März 2024
160 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-328-60289-7

Das Gespräch führte Thomas Bille für MDR KULTUR.
Redaktionelle Bearbeitung: jb

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 13. März 2024 | 08:40 Uhr